Stephan Wackwitz: „Die
vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan“.
S. Fischer
Verlag, Frankfurt
am Main, 248
Seiten, 19,99
EURO.
Die
Länder am Schwarzen Meer und am Kaukasus waren seit der Zeit
Alexanders des Großen griechische oder römische Provinzen. Das
antike Königreich Kolchis auf dem Gebiet des heutigen Georgien
gehörte einmal genauso zur mediterranen Realität wie Delphi oder
Korinth. Noch im Ersten Weltkrieg kämpften deutsche Soldaten auf der
Krim und im Kaukasus für eigene und europäische Interessen. Das
haben wir vergessen, meint Stephan Wackwitz. Sein Buch „Die
vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan“
wird gerade durch den russisch-ukrainischen Konflikt um die Krim hoch aktuell.
Eindrucksvoll
beschreibt der Leiter des Goethe-Instituts in Tiflis, warum Reisen
nach Georgien, Armenien und Aserbaidschan auch Zeitreisen in die
Sowjetzeit, die Vormoderne oder gar die Antike sind. Diese Länder am
äußersten Rand Europas sind uralte Kulturregionen. Sie haben sich
nach dem Ende des real existierenden Sozialismus nicht zuletzt
deswegen von der Sowjetunion gelöst, weil die Menschen dort
europäisch oder asiatisch denken, aber nicht russisch. Doch ihr Weg
in die Moderne ist schwierig und nicht immer geradlienig. Stephan
Wackwitz ist fasziniert von der Allgegenwart historischer Mythen:
„Den
Berg Kasbeg, an den Zeus der griechischen Mythologie zufolge
Prometheus schmiedete, kann ich an schönen Tagen aus meinem
Bürofenster sehen.“
Georgien
erinnert Wackwitz an das Italien seiner Studentenzeit. Da haben die
Modernisierung, der EU-„Teuro“, Nepp, Massentourismus und
Spekulantentum noch nicht über alles Altertümliche und Archaische
gesiegt. Selbst die Küche erscheint dem Autor als Balanceakt
zwischen Italien und Persien. Vor allem aber die Architektur
vermittelt dem Augenmenschen Wackwitz dieses Gefühl. Die Sprache
der Architektur ist zudem, anders als Georgisch, allgemein verständlich.
„Die
Basare. Die persische Architektur der Karawan-sereien, der Oper, der
Kunsthochschule aus dem 19. Jahrhundert und der ins Unterirdische
führenden Mineralbäder. Die prächtige, selbst-bewusst an einer
Hauptstraße gelegene Synagoge der Altstadt. Georgien ist vielleicht
das einzige Land der Welt, in dem es nie einen nennenswerten
Antisemitismus gegeben hat.“
Einen
ganzen Essay widmet Wackwitz den vernachlässigten Bushaltestellen
aus Sowjetzeiten in Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Im
Gegensatz zur Plattenbau-Einförmigkeit im Wohnungsbau oder dem
erdrückenden Titanismus öffentlicher Prestigeprojekte konnten sich
hier Vielfalt, lokale Traditionen und freie Phantasie fast ungestört
austoben. Schwarzweißfotos davon durchziehen das ganze Buch,
Augenfutter zwi-schen Alltags-Illustration und Poesie.
„Architekturkritik
als Laienpredigt“ - der Untertitel eines Aufsatzes von Christian
Demand im Herbstheft 2012 der Zeitschrift „Merkur“, ist so etwas
wie ein roter Faden dieses Buches. Der Germanist und Historiker
Wackwitz ist ein Flaneur mit Blick auch für die sozialen
Geschichten, die Bauten erzählen.
Dieser
Blick gilt Städten wie dem muslimisch geprägten Baku – und
Landschaften. Neben der sowjetischen Musterstadt Eriwan beschreibt er
so auch verfallene Industriekombinate und ein Kloster aus dem 10.
Jahrhundert im kahlen Bergland Armeniens:
„Die
urtümlich monumentalen (dabei rührend kleinen) Kreuz-kuppelkirchen,
Vorhallen, Bibliotheksgebäude, Kapellen und Grabsteine sehen aus wie
herausge-wachsen aus dem schwarzen Felsengrund. Als hätte das dunkle
Steinland hier architekonische Blüten getrieben.“
Intellektuelle
aus Tiflis, so Wackwitz, gehören seit 200 Jahren zur politischen und
kulturellen Avantgarde Europas. Bis zum Zerfall der Sowjetunion
waren sie klassische Leser, heute sind sie eher optisch orientiert,
Jobnomaden mit Notebook und Smartphone, vielsprachig, selbstbewusst,
international unterwegs zu Kongressen, Vernissagen und Konzerten.
Wackwitz stellt uns sein Lieblingscafé in Tiflis vor, die
wichtigsten historischen Künstler und einige aus der Generation
Facebook, die noch wichtig werden könnten.
Dieses
Buch beschreibt Phänomene, die wir kennen, etwa die Verbaustellung
der Städte und bürgerliche Protestbewegungen. Es hilft aber auch
verstehen, wie fragil, weil ungewohnt, demokratische Freiheiten in
dieser Region noch sind. Das liegt wie in Russland auch an der
erschreckenden Intoleranz der orthodoxen Popen, die zur
Menschenjagd auf Schwule aufrufen. Die orthodoxe Kirche hat wie der
Islam niemals eine Aufklärung erlebt.
Das
Buch ist ein nachvollziehbarer Appell an alle wachen Zeitgenossen:
Interessiert Euch, nehmt Kontakt auf, lasst Euch bereichern von
diesen fernen Nachbarn. Und man erfährt, warum sich das lohnt.