Seiten

Samstag, 5. Oktober 2013

Tipps von meinem Bücherbord

Helmut Kuhn: "Gehwegschäden", Roman, Frankfurter Verlagsanstalt, 444 Seiten, 22,90 €

Eine Art Franz Biberkopf des 21. Jahrhunderts. Als Alfred Döblin mit "Berlin  Alexanderplatz" den ersten Großstadtroman schrieb, wurde die S-Bahn gerade gebaut, die erst vor wenigen Jahren ihren "Ringschluss" feierte. Döblins Antiheld Franz Biberkopf schlägt sich nach Art der klein en Leute schräg durchs Leben, und dessen Nachfolger Thomas Frantz tut bei Helmut Kuhn nichts anderes. War der Alex mit seinem Verkehrschaos und quirligen Nachtleben die Chiffre für die unruhige Zeit zwischen den Weltkriegen, so ist das Verkehrsschild "Gehwegschäden" die zentrale Metapher für das Leben heutiger Glücksucher, Experimentalisten und Prekarianer: das Heer derer, die sich mit Diplom und Aushilfsjobs direkt in die Globalisierung hineinträumen, ohne zu merken, dass sie längst im Enddarm der internationalen Märkte gelandet sind.
Das Schild "Gehwegschäden" sieht man häufig in Berlin. Es markiert Wunschbaustellen einer chronisch unterfinanzierten Stadtverwaltung, an denen mangels Geld nie gebaut wird, und entlässt die Gemeinschaft aus der Haftung für Schäden, die nur noch verwaltet und nicht behoben werden: "Es wird hier nichts mehr repariert, wir haben uns abgefunden". Thomas aber hat sich nicht abgefunden. Mit wachsender Wut und viel schwarzem Humor betreibt er das "Schachboxen" als Kreuzung aus geistigem und körperlichem Wettkampfsport. Seine scharfsinnigen, oft sarkastischen Beobachtungen entlarven eine Gesellschaft, die mehr am Spielen als an einer seriösen Lebensgestaltung interessiert ist. Ab und zu fliegt dabei etwas in  die Luft oder kackt ab. Ja, 60 Prozent der Deutschen geht es gut. Aber 40 Prozent bleiben dabei auf der Strecke, was die 60 Prozent einen Scheiß interessiert. Das ist die nackte, unappetitliche Wahrheit. Trotzdem liest sich der Roman von Helmut Kuhn ausgesprochen unterhaltsam. Ganz wie die Leidensgeschichte des Franze Biberkopf bei Döblin. - Chapeau!


Cornelia Trevnicek: "Chucks", Roman,  Deutsche Verlagsanstalt (DVA) München, 192 Seiten, 17,99 €

Mae ist Anfang zwanzig und war bis vor kurzem eine Punk-Frau, zog durch die Straße von Wien, lebte von Dosenbier und Gesprächen mit ihrer Freundin über Gott und die Welt - eher die Welt. Dann letnr sie im AidsHilfe-Haus, wo sie eine Strafe wegen Körperverletzung abarbeiten muss, Paul kennen. Sie verliebt sich in ihn, und als die Krankheit bei ihm ausbricht, sammelt sie alles von ihm - bis hin zur Luft seines Krankenzimmers in einer Tupperdose. Schon einmal hat sie einen geliebten Menschen verloren - ihren Bruder, von dem nur ein paar rote Chucks geblieben, sind. Das wäre einfach bloß eine traurige Geschichte - wenig originell, wäre da nicht der Stil, diese Sprache.
Da ist Poesie drin, Melancholie, Zärtlichkeit, Lakonie, Humor, genaue Beobachtungsgabe, Trauer und Verzweiflung. Eigentlich zu viel für so eine junge Frau mit Rastalocken. Cornelia Trevnicek aus St. Pölten, der Bischofsstadt in Niederösterreich, ist weit über ihre 26 Jahre hinaus lebenserfahren, einfühlsam und geradezu erschreckend begabt. Was eine private Geschichte von einer öffentlichen unterscheidet, ist bekanntlich Allgemeingültigkeit. Und die entsteht hier durch Distanz und formale Konsequenz gleichermaßen. Das Aufwachsen zwischen Liebe und Tod will ziemlich viel auf einmal, aber weniger wäre auch enttäuschend. Als Mae das Krankenzimmer verlässt, weiß sie: "Draußen dreht sich die Erde weiter, bis die Dächer Wiens sich vor die Sonne scheieben. Das letzte Licht wirft seinen Schein  wie ein einzelnes Spotlight auf mich. Das bin ich, sind wir, im Endeffekt: nicht gerne allein". Huch, ist das altklug? - Nein, es ist frühreif, also etwas völlig anderes. - Must have!

Hernán Rivera Letelier: "Der Traumkicker", Roman. Suhrkamp Insel, Berlin, 207 Seiten, ? €

In einer abgewickelten Minensidlung in der chilenischen Wüste stemmt sich ein völlig durchgedrehter Haufen von Fußballfans gegen das Ende seines Clubs und seines Dorfes. Mit Charme und Einfallsreichtum, aber völlig chancenlos bereiten sie sich auf das letzte Spiel gegen die weit überlegene Mannschaft des rivalisierenden Hauptortes vor, die alles hat: die Sponsoren, die Trikots, die Stars und das Wohlwollen der Obrigkeit. Was den Männern und Frauen Hoffnung macht - oder besser wer, ist ein Ballkünstler, der eines Tages ins Dorf kommt. In sengender Mittagshitze zaubert er trickreich und mit atemberaubender Eleganz auf dem Dorfplatz mit dem Ball, dass allen die Spucke wegbleibt. Eine Delegation der Einwohner will ihn zum Bleiben bewegen. Er wird umworben, umschmeichelt, erpresst, geliebt und gehasst, weil er sich so fürchterlich ziert. Bis sich am Ende herausstellt, dass er an einer monströsen Behinderung leidet, die ihn völlig unfähig macht, ein echtes Fußballpiel durchzustehen. Trotzdem wird er zum Helden, denn er lässt sich einwechseln und stirbt auf dem Platz. Kurz vor dem Elfmeterpunkt foult ihn ein Typ, der eher wie ein Preisboxer beschrieben wird und weniger wie ein Fußballer. Was solls: Helden sind tote Träumer. Und der hier stirbt auch erst ganz am Schluss. Bis dahin träumt ein Dorf einen herrlichen, wunderbaren und ganz unmöglichen Traum. Ein bezauberndes Buch über die Macht der Wünsche und die Magie der Illusionen ist dem chilenischen Autor da gelungen. Auch ein Buch über Fußball natürlich, aber vor allem Fußball als Spiel des Lebens schlechthin.

Ivana Bodrozic: "Hotel Nirgendwo", Roman, Zsolnay Verlag bei Hanser, Wien/München, 221 Seiten, 18,90  €. Deutsch von Marica Bodrozic


Ein neunjähriges Mädchen fährt mit ihrem älteren Bruder und der Mutter im Sommer 1991 ans Meer. Doch aus den Ferien wird eine Flucht, denn in der Heimatstadt Vucovar ist der Krieg ausgebrochen und der Vater verschollen.Vom winzigen Zimmer in einem Flüchtlingslager aus versuchen Mutter und Tochter ihr Leben neu zu organisieren, den Mann und Vater zu finden, eine Wohnung zu bekommen, eine anstönsikge Arbeit zu finden und die Schule abzuschließen, also wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Das Mädchen kommt in die Pubertät und schließt Freundschaften - vom ersten Discobesuch bis zum ersten Rausch und dem ersten Kuss das Übliche, aber in unüblicher Umgebung. "Hotel nirgendwo" ist ein Ort im gesellschaftlichen Nirwana, der Roman ein literarisches Dokument der Selbstbehauptung, aber voll Witz und ohne jede Sentimentalität. Der ungebrochene Stolz der permanent Bittbriefe ans Wohnugsamt und an den Präsidenten schreibenden Mutter, die wachsende Wut des Buders, das Auf- und Ab im Gefühlsleben der Ich-Erzählerin, das alles kommt mit großer Glaubwürdigjkeit daher. Zugleich schlägt das Buch Töne mit einer Leichtigkeit an, die man wohl braucht, um so eine Geschichte überhaupt erzählen zu können. Entdeckt und übersetzt hat dieses Debüt die Lyrikerin und Erzählerin Marica Bodrozic, die in Berlin lebt und nie den Kontakt zu ihrer Heimatstadt Svib unweit von Split in Kroatien abgebrochen hat.



Keine Kommentare: