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Freitag, 18. Oktober 2013

So kraftvoll singt keine Sopranistin, so schön nur wenige Engel

Philippe Jaroussky und das Venice Bafoque Orchestra
Philippe Jaroussky und das Venice Baroque Orchestra: der Countertenor mit der Engelsstimme und ein Barockorchester, das dem von Freiburg oder Köln in nichts nachsteht. Das war am Montag in der Liederhalle Stuttggart ein großartiger Abend. 
Wer noch nie von einem Komponisten namens Nicola Antonio Porpora (1686- 1768) gehört hat, sollte mit einer CD dieser Interpreten anfangen, ihn kennen zu lernen. Ein Erlebnis, weil diese Arien so poetisch und wunderbar sind, wie ich es nie erwartet hätte. Und das Orchester hat nichts von jenem kammermusikalischen "Kratzerpack", bei dem ich sonst schon mal einschlafe: richtig schmissig können die sein! 


Beim Signieren stellte sich heraus: der junge Solist ist auch noch ein ausgesprochen netter Kerl. Keine Starallüren, keine Diva-Posen: ein charmanter junger Mann mit einer umwerfenden Stimme. Dass es Feministinnen gibt, die ihm übel nehmen, dass man nicht sofort hört, dass es sich hier um einen Mann handelt, haben wohl ein Gender-Problem. Schade, aber auch das kommt noch vor. Mich interessiert nur, ob jemand schön singt, ob er Power hat und ob seine Stimme elastisch ist. Alles andere ist kein Kriterium für Kunst und gehört in die Mottenkiste der Vorurteile. Das Publikum an diesem Abend hat bewiesen, dass es dieser Kunst würdig war.



Sonntag, 13. Oktober 2013

Chorlabor VIII: Sephardische Liebeslieder mit Alon Wallach

Der Gitarrist Alon Wallach
Der Chorlabor-Workshop der Internationalen Bachakademie in Stuttgart gehörte am 13. Oktober sephardischen Liebesliedern. Gerade weil weder Bernhard König, der Leiter des TRIMUM-Projekts für interreligiöses Singen, noch der Fachreferent und Gitarrist Alon Wallach Chorleiter sind, war das "Einsingen" wieder ausgesprochen phantasievoll, verspielt und einfallsreich. Auch ein "Chaos-Kanon" von König war wieder dabei, der mit minimalem Material musikalisch verblüffend viel anfangen kann.
Wallach demonstrierte dann ebenso temperamentvoll wie einfühlsam den Kulturunterschied zwischen mitteleuropäischen Hörgewohnheiten und dem Orient an einer einfachen Tonleiter in D-Dur und d-Moll: die Verschiebungen der Tonhöhe beim zweiten und dritten von sieben Tönen. Wer das einmal im Ohr hat, kann es singen. Aber "Wer es einmal geschafft hat, glaubt oft, er werde das jetzt immer schaffen", warnte Wallach, - Irrtum! Fast immer geht es beim zweiten Mal schief." Das erinnert mich irgendwie an den kürzesten der zahlreichen Golf-Witze: "Ich kann´s".
Also war Üben angesagt, und das taten Choristen und Profis mit ungebrochener Begeisterung. Mehr noch: Von Wallach gewarnt, passten die Sänger auf und trafen die Töne meistens gleich auf Anhieb wieder. Wenn sie heute Nacht im Schlaf die d-Moll-Tonleiter ein paar Mal rauf und runter singen, sitzt sie wahrscheinlich wirklich. Ich kann nur hoffen, dass der häusliche Frieden das aushält. Dann kamen Noten in Umlauf: Wallach hatte zwei sephardische Romanzen mitgebracht.
Dabei sollte man kurz erklären: Romanzen heißen nicht so, weil sie so romantisch sind (obwohl das auch durchaus der Fall sein kann). Diese Lieder bekamen ihren Namen nach der Sprache, dem Romance, in der die Volkslieder der iberischen Halbinsel vor 1000 geschrieben und gesungen wurden. Das war - wie unser Mittelhochdeutsch für das Hochdeutsche - ein Vorläufer der späteren Hochsprache Spanisch. Es war die Volkssprache im Gegensatz zum Latein der Kleriker und der Gebildeten, hatte aber viel mit dem späten römischen Vulgärlatein gemeinsam und wurde deshalb "romanisch" genannt. Inhaltlich waren Romanzen (also die Volkslieder der sephardischen Juden, die auf diesem Gebiet besonders tüchtig waren und nachweislich die meisten davon aufgescheieben haben), teils Liebeslieder im Sinne unseres Minnesangs, teils Balladen - und Schlaflieder in Balladenform. Es gibt Tausende dieser Lieder für alle Gefühlslagen.
Statt aber ins Sammeln zu verfallen, übte Wallach mit den Choristen nur zwei dieser Lieder ein (ein Schlaflied, ein temperamentvolles Liebeslied). Der Rest des Tages gehörte dem Improvisieren. Denn es sollte ja kein Workshop über Alte Musik sein, sondern über etwas Quicklebendiges. Und sephardische Romanzen werden bis heute permanent variiert und durch Improvisation erneuert. Die Einflüsse dafür kommen aus allen Ländern rund ums Mittelmeer, aus deren Kultur die Juden nach Ihrer Vertreibung im Jahr 1492 als Einwanderer Neues aufnahmen. Damit zu spielen, machte allen Beteiligten sichtlich Spaß.

Samstag, 5. Oktober 2013

Tipps von meinem Bücherbord

Helmut Kuhn: "Gehwegschäden", Roman, Frankfurter Verlagsanstalt, 444 Seiten, 22,90 €

Eine Art Franz Biberkopf des 21. Jahrhunderts. Als Alfred Döblin mit "Berlin  Alexanderplatz" den ersten Großstadtroman schrieb, wurde die S-Bahn gerade gebaut, die erst vor wenigen Jahren ihren "Ringschluss" feierte. Döblins Antiheld Franz Biberkopf schlägt sich nach Art der klein en Leute schräg durchs Leben, und dessen Nachfolger Thomas Frantz tut bei Helmut Kuhn nichts anderes. War der Alex mit seinem Verkehrschaos und quirligen Nachtleben die Chiffre für die unruhige Zeit zwischen den Weltkriegen, so ist das Verkehrsschild "Gehwegschäden" die zentrale Metapher für das Leben heutiger Glücksucher, Experimentalisten und Prekarianer: das Heer derer, die sich mit Diplom und Aushilfsjobs direkt in die Globalisierung hineinträumen, ohne zu merken, dass sie längst im Enddarm der internationalen Märkte gelandet sind.
Das Schild "Gehwegschäden" sieht man häufig in Berlin. Es markiert Wunschbaustellen einer chronisch unterfinanzierten Stadtverwaltung, an denen mangels Geld nie gebaut wird, und entlässt die Gemeinschaft aus der Haftung für Schäden, die nur noch verwaltet und nicht behoben werden: "Es wird hier nichts mehr repariert, wir haben uns abgefunden". Thomas aber hat sich nicht abgefunden. Mit wachsender Wut und viel schwarzem Humor betreibt er das "Schachboxen" als Kreuzung aus geistigem und körperlichem Wettkampfsport. Seine scharfsinnigen, oft sarkastischen Beobachtungen entlarven eine Gesellschaft, die mehr am Spielen als an einer seriösen Lebensgestaltung interessiert ist. Ab und zu fliegt dabei etwas in  die Luft oder kackt ab. Ja, 60 Prozent der Deutschen geht es gut. Aber 40 Prozent bleiben dabei auf der Strecke, was die 60 Prozent einen Scheiß interessiert. Das ist die nackte, unappetitliche Wahrheit. Trotzdem liest sich der Roman von Helmut Kuhn ausgesprochen unterhaltsam. Ganz wie die Leidensgeschichte des Franze Biberkopf bei Döblin. - Chapeau!


Cornelia Trevnicek: "Chucks", Roman,  Deutsche Verlagsanstalt (DVA) München, 192 Seiten, 17,99 €

Mae ist Anfang zwanzig und war bis vor kurzem eine Punk-Frau, zog durch die Straße von Wien, lebte von Dosenbier und Gesprächen mit ihrer Freundin über Gott und die Welt - eher die Welt. Dann letnr sie im AidsHilfe-Haus, wo sie eine Strafe wegen Körperverletzung abarbeiten muss, Paul kennen. Sie verliebt sich in ihn, und als die Krankheit bei ihm ausbricht, sammelt sie alles von ihm - bis hin zur Luft seines Krankenzimmers in einer Tupperdose. Schon einmal hat sie einen geliebten Menschen verloren - ihren Bruder, von dem nur ein paar rote Chucks geblieben, sind. Das wäre einfach bloß eine traurige Geschichte - wenig originell, wäre da nicht der Stil, diese Sprache.
Da ist Poesie drin, Melancholie, Zärtlichkeit, Lakonie, Humor, genaue Beobachtungsgabe, Trauer und Verzweiflung. Eigentlich zu viel für so eine junge Frau mit Rastalocken. Cornelia Trevnicek aus St. Pölten, der Bischofsstadt in Niederösterreich, ist weit über ihre 26 Jahre hinaus lebenserfahren, einfühlsam und geradezu erschreckend begabt. Was eine private Geschichte von einer öffentlichen unterscheidet, ist bekanntlich Allgemeingültigkeit. Und die entsteht hier durch Distanz und formale Konsequenz gleichermaßen. Das Aufwachsen zwischen Liebe und Tod will ziemlich viel auf einmal, aber weniger wäre auch enttäuschend. Als Mae das Krankenzimmer verlässt, weiß sie: "Draußen dreht sich die Erde weiter, bis die Dächer Wiens sich vor die Sonne scheieben. Das letzte Licht wirft seinen Schein  wie ein einzelnes Spotlight auf mich. Das bin ich, sind wir, im Endeffekt: nicht gerne allein". Huch, ist das altklug? - Nein, es ist frühreif, also etwas völlig anderes. - Must have!

Hernán Rivera Letelier: "Der Traumkicker", Roman. Suhrkamp Insel, Berlin, 207 Seiten, ? €

In einer abgewickelten Minensidlung in der chilenischen Wüste stemmt sich ein völlig durchgedrehter Haufen von Fußballfans gegen das Ende seines Clubs und seines Dorfes. Mit Charme und Einfallsreichtum, aber völlig chancenlos bereiten sie sich auf das letzte Spiel gegen die weit überlegene Mannschaft des rivalisierenden Hauptortes vor, die alles hat: die Sponsoren, die Trikots, die Stars und das Wohlwollen der Obrigkeit. Was den Männern und Frauen Hoffnung macht - oder besser wer, ist ein Ballkünstler, der eines Tages ins Dorf kommt. In sengender Mittagshitze zaubert er trickreich und mit atemberaubender Eleganz auf dem Dorfplatz mit dem Ball, dass allen die Spucke wegbleibt. Eine Delegation der Einwohner will ihn zum Bleiben bewegen. Er wird umworben, umschmeichelt, erpresst, geliebt und gehasst, weil er sich so fürchterlich ziert. Bis sich am Ende herausstellt, dass er an einer monströsen Behinderung leidet, die ihn völlig unfähig macht, ein echtes Fußballpiel durchzustehen. Trotzdem wird er zum Helden, denn er lässt sich einwechseln und stirbt auf dem Platz. Kurz vor dem Elfmeterpunkt foult ihn ein Typ, der eher wie ein Preisboxer beschrieben wird und weniger wie ein Fußballer. Was solls: Helden sind tote Träumer. Und der hier stirbt auch erst ganz am Schluss. Bis dahin träumt ein Dorf einen herrlichen, wunderbaren und ganz unmöglichen Traum. Ein bezauberndes Buch über die Macht der Wünsche und die Magie der Illusionen ist dem chilenischen Autor da gelungen. Auch ein Buch über Fußball natürlich, aber vor allem Fußball als Spiel des Lebens schlechthin.

Ivana Bodrozic: "Hotel Nirgendwo", Roman, Zsolnay Verlag bei Hanser, Wien/München, 221 Seiten, 18,90  €. Deutsch von Marica Bodrozic


Ein neunjähriges Mädchen fährt mit ihrem älteren Bruder und der Mutter im Sommer 1991 ans Meer. Doch aus den Ferien wird eine Flucht, denn in der Heimatstadt Vucovar ist der Krieg ausgebrochen und der Vater verschollen.Vom winzigen Zimmer in einem Flüchtlingslager aus versuchen Mutter und Tochter ihr Leben neu zu organisieren, den Mann und Vater zu finden, eine Wohnung zu bekommen, eine anstönsikge Arbeit zu finden und die Schule abzuschließen, also wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Das Mädchen kommt in die Pubertät und schließt Freundschaften - vom ersten Discobesuch bis zum ersten Rausch und dem ersten Kuss das Übliche, aber in unüblicher Umgebung. "Hotel nirgendwo" ist ein Ort im gesellschaftlichen Nirwana, der Roman ein literarisches Dokument der Selbstbehauptung, aber voll Witz und ohne jede Sentimentalität. Der ungebrochene Stolz der permanent Bittbriefe ans Wohnugsamt und an den Präsidenten schreibenden Mutter, die wachsende Wut des Buders, das Auf- und Ab im Gefühlsleben der Ich-Erzählerin, das alles kommt mit großer Glaubwürdigjkeit daher. Zugleich schlägt das Buch Töne mit einer Leichtigkeit an, die man wohl braucht, um so eine Geschichte überhaupt erzählen zu können. Entdeckt und übersetzt hat dieses Debüt die Lyrikerin und Erzählerin Marica Bodrozic, die in Berlin lebt und nie den Kontakt zu ihrer Heimatstadt Svib unweit von Split in Kroatien abgebrochen hat.



Fragen an Gauck, Merkel und Kretschmann

Bei den Feiern zur deutschen Einheit traten Bundepräsident Joachim Gauck, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsident Winfried Kretschmann (der Gastgeber) gemeinsam in Stuttgart öffentlich auf. Ich hätte an alle drei auch jeweils drei Fragen. 
Frau Merkel: Wo ist Ihre Politik eigentlich "christlich" und wie halten Sie es mit Ihrem Amtseid angesichts von Überschuldung, kalter Enteignung der kleinen Leute und Ihrer Schirmdamenfunktion für Wirtschaftskriminelle und Spione? Wo haben Sie das "sozial" der sozialen Marktwirstschaft versteckt und wie kommnen Sie zu der Behauptung, dass es den Deutschen gut gehe, wenn 40 Prozent davon ausgenommen sind? Wieso lassen Sie zu, dass Ihre Parteifreunde und die Industrie "Ihre" Energiewende ausbremsen oder pervertieren, während Sie auch noch von der Energiesteuer und der EEG-Steuer (mit Rabatten und Befreiungen für die Industrie auf Kosten der Provathaushalte) profitieren? 
Herr Gauck: Warum klären Sie nicht Ihr Verhältnis zu Vater und Mutter, die beide Mitglied der NSDAP waren und angeblich Ihren "Freiheitsdrang" geprägt haben? Wo waren Sie vor der "Wende" und der Abgeordneten-Kandidatur in der Bürgerrechts-Partei "Bündnis 90" als Pfarrer politisch aktiv? Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, ausgerechnet ehemalige Stasi-IM als Mitarbeiter der Gauck-Behörde einzustellen, und wieso sind die heute noch dort? 
Herr Kretschmann: Warum haben Sie vor Ihrer Wahl zum MP verkündet, Sie wollten alles Ihnen Mögliche gegen Stuttgart 21 tun, wenn Sie anschließend mehr Kreide gefressen haben als der Wolf in "Rotkäppchen"? Warum legen Sie sich mit der eigenen Klientel an, den Lehrern und Beamten, während Sie mit Herrenknecht einen heben gehen (der sagte, der von seinen Angestellten die Grünen wähle, fliege raus) und Ihr Kabinett ausgerechnet am 30. September zum Bier auf dem Wasen einladen? Und warum haben ausgerechnet Sie die Regierungspräsidenten der CDU samt deren reaktionären Seilschaften in Amt und Würden belassen, die seitdem fleißig Ihre Politik hintertreiben? (Z.B. bei EnMB, Energiewende, Nationapark Nordschwarzwald etc.).