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Dienstag, 24. September 2013

Leben mit dem Trauma: ein anspruchsvoller Debüt-Roman

Hanna-Laura Noack: Strom des Himmels. Verlag André Thiele, Mainz, 412 Seiten, 19,90 €


Hanna-Laura Noack ist gelernte Psychotherapeutin und hat mit "Strom des Himmels" ihren ersten  Roman vorgelegt. Der Titel ist ein Bild für ziehende Wolken und Metapher des Lebens schlechthin. Er ist inspiriert von japanischen Tuschezeichnungen, durchzogen von den Fachkenntnissen und dem Blick einer reifen, berufstätigen Frau aufs Leben, ein Erstling in dieser großen literarischen Form zwar, aber weder naiv noch auf andere Weise "unschuldig": ein Buch voller Lebenserfahrung mit dem Trauma, ein Buch vom Entdecken der eigenen Identität und von der niemals konfliktfreien Begegnung zweier unterschiedlicher Kulturen, die sich doch gegenseitig nicht nur schockieren, sondern vor allem bereichern.
Der Plot entwickelt sich erst verhalten und dann mit dramatischer Wucht: Alice, 32 Jahre alt, freie Therapeutin und Mitarbeiterin einer schwächelnden Fachzeitschrift, eine selbstbewusste, berufspolitisch engagierte Frau, fliegt 1978 für einen Bericht über die "Kinder von Hiroshima" nach Japan. 35 Jahre nach dem Atombombenabwurf will sie das Schicksal der Zivilisten erkunden, die lange Zeit ohne staatliche Hilfe und angemessene medizinische Versorgung mit den Folgen der Verstrahlung und dem Trauma des Massensterbens überleben mussten. Wie der Umgang mit der Katastrophe von Fukushima zeigt, sind politische Eliten, der staatliche Energiekonzern Tepko und die japanische Bürokratie bis heute nicht in der Lage zu einem wirklich offenen, effizienten und menschlichen Umgang mit den Folgen großflächiger Verstrahlung. Alice sticht bei ihren Recherchen promt in diverse Wespennester.
Parallel dazu erzählt ein zweiter Handlungsstrang die tragische Liebesgeschichte eines Japaners und einer Deutschen in den Jahren 1945 und 1946. Im zerstörten Hiroshima lernen sich der junge Pressefotograf Tadashi Yamamoto und die deutsche Krankenschwester Teresa kennen und lieben - beide vom Krieg traumatisiert und voller Verachtung für die ideologische Verblendung, die ihn verursacht hat. Teresa ist die Mutter von Alice, deren eigentliches Motiv für die Reise darin besteht, ein versäumtes Gespräch mit der Mutter über diese Vergangenheit nachzuholen. Teresa ging als Rotkreuzhelferin nach Hiroshima, um dem reaktionären Vater und der Trauer über ihren gefallenen ersten Mann im zerstörten Deutschland zu entfliehen. Tadashi hat sich beim Fotografieren der Atombombenopfer verstrahlt und fürchtet, die Liebe seines Lebens mit einem genetisch geschädigten Kind unglücklich zu machen.
Die Eltern von Alice sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, bevor Aufklärung darüber möglich war, warum Teresa zeitlebens eine der Tochter unerklärliche Verehrung für einen Japaner gefühlt hat. Der hat sich später als Chefredakteur der Hiroshima Post für Menschlichkeit gegenüber ausgrenzten Wanderarbeitern, Frauen und Kindern von Hiroshima eingesetzt und mit der korrupten Regierung angelegt. Japan ist weit weg für eine Deutsche im Jahr 1978; doch die Einladung einer ehemaligen Patientin nach Tokio und die Urlaubsbekanntschaft mit einer japanischen Oberschichtfamilie, deren Sohn die erfahrene Taucherin bei einem Bootsausflug auf den Malediven vor dem Ertrinken rettet, ebnen den Weg.
Plötzlich ist Alice in einem merkwürdigen Wunderland, wo allein reisende Frauen wie ein neues Weltwunder bestaunt werden und wo unglaubliche Gastlichkeit neben krassestem Chauvinismus der Konservativen gegenüber Frauen und Ausländern zu finden ist. Sie wird weitergereicht und bekommt immer neue Kontakte. Sie lernt etwas Japanisch, macht unglaubliche Erfahrungen mit dem Essen, dem "Verlieren des Gesichts", dem Einkaufs- und Komsumwahn japanischer Großstädte, aber auch der feinsinnigen Kultur Japans. Besonders reizvoll: Der Kontrast zwischen der Reise in die Vergangenheit ihrer Mutter mit deren japanischem Liebhaber und der Reise in eine immer noch reichlich fremdartige Gegenwart mit Shikansen-Zügen, Touristenhotels und traditionellen Gasthäusern. Sie trifft Ärzte und kann Überlebende von Hiroshima interviewen. Sie lernt sogar ihren späteren Mann kennen; also noch eine moderne Liebesgeschichte mit einigen sehr sinnlichen Szenen von saftiger Erotik. Dem Leser ist wirklich einiges geboten.
Sprachlich sind vor allem die lebendigen Beschreibungen von Menschen, Landschaften und Szenen ein Genuss, die Ausländer in Japan erwarten. Das Buch ist aber ein Roman und kein Handbuch japanischer Sitten und Unsitten; da darf man ruhig ab und zu schmunzeln und staunen.Nicht immer stilsicher und manchmal umständlich geht die Autorin mit Reflexionen und historischen Einschüben um. Wo sie über Männer, Historie, ihren Beruf und japanische Traditionen räsonniert, schwankt der Ton zwischen amüsiert und etwas zu sehr therapeutisch. Wunderbar, wie die 17jährige, pubertierende Alice den Wunsch der Mutter abschmettert, über ihre Vergangenheit mit Tadashi Yamamoto zu reden: "Auf einmal? Als Kind durfte ich das Wort Tadashi nicht einmal aussprechen. Ein Handtuch hast du nach mir geworfen!... Deine Liebhaber interessieren mich nicht die Bohne!"
Doch nach dem türenschlagenden Abgang der Tochter lässt sie´s nicht gut sein, sondern hängt gebildet dozierend dran: "Eine kurzsichtige, verbockte Elektra, die sich leidend ihrem unkontrollierten Eigensinn hingab. Sie war weder bereit, die Gefühle ihrer Mutter wahrzunehmen noch auf  sie einzugehen". Doch das sind eigentlich Belanglosigkeiten; ein besseres Lektorat hätte so etwas ausgemerzt. Die Spannung über 400 Seiten zu halten, gelingt Noack mühelos trotz solcher Passagen. Denn immer passiert etwas, immer wieder wird der Leser mit überraschenden Wendungen und Einfällen konfroniert, die seine Neugier wieder anstacheln
Da ist der Stil journalistisch. Poetisch wird er bei Begegnungen mit dem Leid. Hier spürt man jedes Mal: Das Leben mit dem Trauma und trotz des Traumas ist so etwas wie Noacks Kernkompetenz. Dafür hat sie feine Antennen, dafür findet sie immer die richtigen Worte. Wer die Sprache des Beobachters und der Erotik beherrscht, muss nicht auch die Sprache der Traumatisierten sprechen. Noacks feinfühlige Distanz macht auch Szenen des reinen Horrors erträglich - etwa wenn Yamamotos Schwester erzählt, wie ihr Bruder ihr von den Gräueln der japanischen Armee berichtet hat, mit der er während des Krieges in Nanking war. Erschütterung, ja auch Wut findet ihren Ausdruck, z.B. wenn Alice auf die Presseclubs stößt. Sie fragt Yamamotos Schwester danach, weil ihr Bruder dort austrat, um frei berichten zu können, bevor er unter nie ganz geklärten Umständen starb.
Die pensionierte Lehrerin: "Hier bei uns stand er allein damit. Ausschließlich Journalisten der Presseclubs gelangen an bestimmte Informationen, die sonst niemandem zugänglich sind und strengster Geheimhaltung unterliegen". So wird gezielt verhindert, dass Nachrichten über Japan ungewollt ins Ausland kommen - es sei denn, ein Atomkraftwerk explodiert zufällig vor laufenden CNN-Kameras. Dieses Buch lehrt: Japan ist anders als die Mainstream-Regionen des globalen Tourismus. Da weist Noacks Romandebüt weit über das Jahr 1978 hinaus ins 21. Jahrhundert und ist hoch aktuell.
Am Ende ist "Strom des Himmels" aber vor allem der Roman einer therapeutischen Reise ins Zentrum des eigenen Ich. Man muss keinen japanischen Helden zum Vater haben, aber es tut gut und befreit, keine losen Enden in der eigenen Biographie zu dulden. Das alles so spannend und unterhaltsam zu erzählen, macht das Buch zu einem lebendigen Stück aufklärender Literatur. Erfrischend, wie diese Autorin an dem deutschen Dogma rüttelt, dass ernste, ja schwierige Literatur nicht unterhaltend sein dürfe.

Freitag, 20. September 2013

30 Jahre Stuttgarter Schriftstellerhaus

Stadtbibliothek Stuttgart am Mailänder Platz
So romantisch auch die Umgebung der Stadtbibliothek Stuttgart am Mailänder Platz: Dies ist nicht das Schriftstellerhaus. Aber hier wurde am 19. September der 30. Geburtstag dieser Einrichtung gefeiert.
Nach verkehrsbedingt teilweise chaotischer Anreise auswärtige Autoren, die so unvorsichtig gewesen waren, mit der Bahn zu kommen , wurde es doch ein sehr schönes Fest für die Literatur in Stuttgart - und für die Stuttgarter Literatur. Denn zu den Gründungsmitgliedern des Schriftstellerhauses gehörte Helmut Pfisterer, aus dessen Nachlass aus diesem Anlass das hübsche Büchlein "Der Pascha sitzt in seinem Ausguck und schaut ein Plätzchen" vorgestellt wurde (edition kanalstrasse 4).
Nach einer Begrüßung mit historischem Rückblick durch Irene Ferchel, die Vorsitzende des Vereins, und einem launigen Porträt des 2010 verstorbenen Dichters, Physikers und Philosophen Pfisterer durch den Verleger Titus Häussermann vom Silberburg Verlag ging´s zur Sache.
Halt, eh ich´s vergesse: Musik wäre hier normalerweise eine Frage der Verdrängung gewesen, aber nicht so bei der Geigerin Katharina Widmer und dem Akkordeonisten Frank Eisele. Denn die waren mit Helmut ein halbes Leben lang nachhaltig befreundet und haben mit ihren fidelen Kreuzungen aus Klezmer, Zigeunermusik und Tango viele seiner Lesungen begleitet. Bach-Kantaten, Hochzeitsmärsche und Chöre wie von der Kirche gegenüber wären im unpassend erschienen. Die zwei also gaben einen gehörigen Rahmen, ließen dem Buch hier Platz und werden dafür geliebt.
Gilbert Fels (links) und Signe Selleke

Die Herausgeber Signe Selleke und Gilbert Fels, beide wie der bescheidene Autor dieser Zeilen mit Helmut Pfisterer befreundet, lasen aus dem Buch, das die Mitglieder des Vereins "Stuttgarter Schriftstelkerhaus" als Jahresgabe 2013 erhalten. D.h. sie lasen nicht bloß, sie trugen kongenial etwas vor, das nun wirklich sehr der Art und Weise entsprach, wie Helmut die Welt sah und beschrieb. In den letzten Jahren vor seinem Tod tat er das mit Vorliebe vom Balkönchen aus, wo er einen Blick auf den belebten Pauluskirchplatz hatte: Loge, Meckereck, Ausguck, Mastkorb, aber nie Maulkorb für den alten Bruddler von Graden, der das Träumen nie lassen konnte. Selbstironisch, sprachverliebt, sehnsüchtig nach Leben bis auf den Tod, das war er. Und die beiden Lyriker, die sein Buch herausgegegen haben, taten unserem Freund Helmut Pfisterer eine Ehre an damit, wie sie´s taten. Und verzeiht bitte die hässlichen Fotos. Sie sind wie das Leben heute: hektisch und hässlich. Helmut war nicht so, und auch sein Buch ist es nicht.






























Musikfest Extra Türkei in Stuttgart: So geht Integration

14.9.: Eastern Ensemble und Gächinger Kantorei in der Musikhochschule
Am 14. September - eine Woche nach dem offiziellen Abschluss, doch dafür nach dem Schulbeginn - gab es ein "Extra Türkei" beim diesjährigen Musikfest Stuttgart der Bachakademie. Der Höhepunkt war zweifellos das gemeinsame Konzert des neuen Eastern Ensembles mit der Gächinger Kantorei unter der Leitung von Cigdem Yarkin (Eastern Ensemble) und Maddalena Ernst (Junger Chor der Bachakademie) in der Musikhochschule. Auf dem Programm standen türkische Pilgerlieder (Ilahis) nach Texten so bekannter Dichter wie Yunus Emre, Rumi oder Ahmed Bey, begleitet von Profimusikern an traditionellen Instrumenten. Natürlich sangen da zunächst nicht die Gächinger, sondern Musikstudenten aus der Türkei. Von besonderem Reiz waren Rezitationen religiöser Gedichte von Yunus Emre durch den Schauspieler und Regisseur Kenan Isik (ganz rechts im Bild), den in Istanbul jeder Theaterbesucher als ehemaligen Intendanten des städtischen Theaters kennt. Auch wer kein Wort verstand, konnte sich der emotionalen Wirkung seines Vortrags nicht entziehen, der von verhaltener Instrumentalmusik untermalt war.
Es folgte der Junge Chor der Bachakademie mit der Motette "Jesu, meine Freude" von Johann Sebastian Bach (BWV 227). Das war ebenfalls ein Hochgenuss und sowohl stimmlich als auch in der dramatischen Gestaltung etwas Besonderes.
Aber die gemeinsamen Proben müssen auch eine anssteckende Wirkung gehabt haben. Wie nah die Musiker da gekommen sind, konnte man bei der berührenden Interpretation des Bach-Chorals "Befiel du deine Wege" hören (BWV 244). Tiefer Glaube und große Gefühle entfalten in der Kunst eine gewaltige Wucht. Doch diesmal bekam ihr Ausdruck eine einzigartige Färbung durch Soli von Ahmet Gül zwiswchen den Strophen. Der blinde Bassbariton aus Esslingen liebt Bach und die Sufi-Musik gleichermaßen; sein Gesang glänzte durch technische Perfektion und anrührende Inbrunst. Das Pendant dazu war ein Solo-Auftritt von Cigdem Yarkin bei einem der folgenden Ilhis von Ahmed Bey: ein glockenheller Sopran, der zugleich intensiv und leicht mit unglaublichen Vierteltonmelismen über dem Chor schwebte.
Ein Moment, um den Atem anzuhalten, war schließlich der Einsatz beider Chöre im Tutti des anonymen Ilahi (Hüseyni Ilahi) zu einem Text von Yunus Emre. Das klang für mich, als hätten die Sänger zeitlebens nichts anderes getan. Das gemischte Publikum im großen Konzertsaal der Musikhochschule spendete lang anhaltenden, begeisterten Beifall. So kann Integration aussehen und sich anhören: ein großartiges Konzert ausgerechnet zum Yom Kippur Fest, wie ein jüdischer Musiker hinterher sagte - sicher kein Zufall. Man muss vielleich nicht eigens hervorheben, aber ich tue es doch, dass die Veranstaltung trotzdem kein Mischmasch weltmusikalischer Romantik war. In gegenseitigem Respekt blieb jeder "Schuster bei seinen Leisten. Das Miteinander und Ineinander war eher dramaturgisher Art. Dennoch zeigen sich vieleicht gerade darin die Gemeinsamkeiten der getrennten Religionen und so verschiedenen musikalischen Stile. Schön, dass der neue Intendant Rademann von der Bachakademie das gehört hat. Mehr davon!
14.9.: Chorlabor-Workshop mit Halil Ibrahim Yüksel
Das große Familienfest im Kulturhaus Arena (das ehemalige Theaterhaus in Stuttgart-Wangen) hatte aus Sicht des Chorlabors einen Vorläufer. Schon am Samstag Nachmittag gab der schon Stuttgart-erfahrene Dirigent Halil Ibrahim Yüksel von der Universität Izmir wieder einen Workshop im Konzertsaal der Bachakademie. Aktive und interessiertes Publikum kamen also an diesem Wochenende ganz schön herum in Stuttgart; wohl dem, der eine VVS-Dauerkarte sein eigen nannte. Es ist bisher eine Eigenart dieses offenen interreligiösen Chorlabors, dass bei den Workshops die Besetzung wechselt - je nachdem, wer Zeit und genug Interesse für diese intensive Arbeit hat. So kamen beim Thema "Gottesliebe und Menschenliebe" viele neue Gesichter. Projektleiter Bernhard König, der das Improvisieren leidenschaftlich liebt, hatte dazu spontan mit Yüksel zusammen einen türkisch-deutschen Kanon nach der Zeile "Es ist, ewas es ist, sagt die Liebe" aus einem Gedicht von Erich Fried geschrieben. Da hier nicht nur türkische und deutsche Sprache zu einer Einheit werden sollten, sondern auch türkische Vierteltonfolgen und deutsche Vierstimmugkeit, war Yüksel dankbar für eine musikalisch versierte Dolmetscherin für die vielen deutschen Sänger.
15.9.: Das Chorlabor im Kulturhaus Arena Stuttgart-Wangen
Lohn der Mühe und krönender Abschluss des deutsch-türkischen Familienfestes im Kulturhaus Arena war dann der erste echte öffentliche Auftritt des Chorlabors. Da konnten nicht nur die Sänger zeigen, was sie drauf haben. Auch Yüksel und König waren als Musikpädagogen  gefordert, denn sie animierten das Publikum, die vierte Stimme des Kanons zu singen. Das Ergebnis dieser improvisierten Musikstunde konnte sich durchaus hören lassen. Es war nicht nur für deutsche Ohren etwas Neues. Sogar Menschen mit türkischen Wurzeln können sich im Land ihrer Herkunft kaum einmal von solchen Spezialisten in die Musik ihrer Vorfahren einstimmen lassen. Das Ergebnis meinem Podcast zu hören: widmar-puhl.podspot.de






Vorbildliche Literaturförderung in Karlsruhe

Eigentlich neige ich nicht zum Ankupfern von Pressemitteilungen. Doch hier geschieht etwas Vorbildliches, und so mache ich eine Ausnahme. Wie man regionale Literaturförderung anstellt, kann man an dem Programm der 1. Karlsruher Literaturtage schon erkennen, ohne ins Detail zu gehen: Man hört in die Szene hinein und beteiligt bekannte Gruppen und Initiativen an aktiven Hotspots. Man entwickelt gemeinsam mit ihnen ein Programm, das sich nicht an "Big Names" orientiert, sondern am tatsächlich Vorhandenen und lokal engagierten Künstlern. Die Qualität beurteilen nicht Außenstehende, sondern die Autoren selbst, die das Programm selbst gestalten und die Teilnehmer einladen. Meckern können Kritiker, die Leute vom Ministerium und vom Kulturamt sowie das Publikum hinterher.

2012 fanden auf Initiative der Literarischen Gesellschaft
unter dem Motto "WertWortWandel" mit großem Erfolg die 29.
Baden-Württembergischen Literaturtage in Karlsruhe statt. Ziel war, mit
dieser von Land und Stadt unterstützten Veranstaltungsreihe die
literarische Szene in Karlsruhe und Region zu stärken. Von daher war der
nächste Schritt folgerichtig, die literarischen Initiativen, die
Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Karlsruhe einzuladen, zusammen
mit der Literarischen Gesellschaft regelmäßig Literaturtage durchzuführen.
Schnell war man sich einig, die erfolgreiche Zusammenarbeit fortzuführen
und gemeinsam jährliche Literaturtage zu organisieren. Mit finanzieller
Unterstützung durch Land und Stadt haben wir dieses Jahr den Poetry Slam in
das Zentrum der Veranstaltungen gerückt. Die Slam-Szene hat auch in
Karlsruhe ihre festen Orte; diese wollen wir einem breiteren Publikum
bekannt machen.
Wir laden Sie zu einer literarischen Endeckungsreise ein: nutzen Sie die
Möglichkeit, in wenigen Tagen alle Spielarten und die wichtigsten Performer
des Poetry Slam kennenzulernen! Im nächsten Jahr geht es weiter. Karlsruher Literaturtage sollen zukünftig zeigen, welches literarische
Potential diese Stadt hat.

Freitag, 20.09.2013:
-17.00 Uhr | Schauburg Filmtheater
Film | Dichter und Kämpfer
-20.00 Uhr | Die Kurbel
Lesung | Das Bücherbüffet präsentiert den Diary Slam
-20.00 Uhr | Tollhaus
Poetry Slam | KOHI Slam #75

Samstag, 21.09.2013:
-12.00 Uhr | Stadtbibliothek im Neuen Ständehaus
Saturday Noon Fever ? Slam-Show in der Stadtbibliothek
-12.00 - 15.00 Uhr | U-Max im PrinzMaxPalais
Poetry Slam Workshop im Literaturhaus
-15.00 Uhr | Schauburg Filmtheater
Film | Dichter und Kämpfer
-16.00 Uhr | K-PUNKT
Literarisch-musikalische Performance | Tanzende Worte von AMISTAD
-17.30 - 19.30 Uhr | Staatstheater Karlsruhe
Lesung | AUTORiKA ? Das Wortgefecht
-20.00 - 22.00 Uhr | Staatstheater Karlsruhe
Dead or Alive Slam
-22.15 - 23.45 Uhr | Staatstheater Karlsruhe
Bühnenhörspiel mit Live-Illustrationen | Die Tonbänder des Ignaz Euling.

Sonntag, 22.09.2013:
-10.00 - 12.00 Uhr | U-Max im PrinzMaxPalais
Poetry Slam Workshop im Literaturhaus
-13.00 Uhr | U-Max im PrinzMaxPalais
Lesung | Brot & Kunst-Matinee im Literaturhaus
-16.00 - 17.30 Uhr | Hochschule für Gestaltung
Leseperformance | Der Löwengruben-Loop
-19.00 Uhr | Die Kurbel
Film | ZEBRA Poetry Film Festival ? Best of Poesiefilme
-19.00 - 22.00 Uhr | GOTEC CLUB
Poetry Slam | Gotec Slam
-22.45 Uhr | Schauburg Filmtheater
Film | Dichter und Kämpfer

Sonntag, 8. September 2013

Bach niederländisch: ein Hochgenuss

Kleiner Nachtrag zu einem "kleinen" Konzert beim Musikfest Stuttgart: Der Auftritt der "Nederlandse Bachvereniging" unter Jos van Veldhofen in der Reihe "Sichten auf Bach" in der Stiftskirche am 30. August. Das sind Konzerte für die Mittagspause, und die Leute strömten, dass es eine Freude war. Die Niederländer boten ein wunderbar eingespieltes Ensemble, das zwei Bach-Kantaten kammermusikalisch interpretierte, die beide das Thema "Liebe" im Hohelied aus dem Alten Testament behandeln. "Ich geh und suche mit Verlangen" (BWV 49) betonte die erotische Seite dieses biblischen Textes auf herrlich sinnliche Weise im Duett mit zwei Solisten: Johannette Zoomer (Sopran) und Stephan Macleod (Bass).
Selten - eigentlich nie - habe ich einen Bass gehört, der klarer, weicher, treffsicherer und runder die anspruchsvolle Rolle im Stil eines Oratoriums bewältigte: Eine Offenbarung! Verstärkt um den Tenor Wolfram Lattke kam dieses dialogische Musizieren auch bei der Kantate "Wachet auf, ruft uns die Stimme" (BWV 140) zum Tragen, wo das Gleichnis der treuen Jungfrauen, die mit ihren Lampen bereit stehen, um cdas Brautpaar zur Hochzeit zu begleiten, aufs Schönste und Anspruchsvollste in Töne gesetzt ist. Kein Vergleich zu dem, was wir von dem Adventslied kennen, das Philipp Nicolai 1599 komponiert hat und das sich z.B. in  Berliner Gesangbuch von 1940 findet (Herder Verlag)! Das wird im Ohr bleiben und demonstrierte machtvoll die Vielseitigkeit des Komponisten Johann Sebastian Bach.

Mehr Bach geht nicht: Bach auf Japanisch-Deutsch beim Musikfest Stuttgart

Shunske Sato (links), Kent Nagano und das Ensemble Concerto Köln
Kent Nagano & Shunske Sato und das Ensemble Concerto Köln beim Musikfest Stuttgar am 07.09.2013: Ein absolutes Highlight!
Den Dirigenten Kent Nagano kennt jeder als Chef der Bayerischen Staatsoper, aber den 26 Jahre alten japanischen Geiger Shunske Sato sollte die Welt noch kennen lernen. Wie der das berühmte Violinkonzert E-Dur von Johann Sebastian Bach gespielt hat, war einfach ein Wunder und eine Freude. Natürlich ist so etwas kein Zufall, sondern das Ergebnis herausragender Bagabung und harter Arbeit. Aber beides hat der junge Mann in solchem Übermaß, dass er davon viel an andere verschenken kann und seine Spielfreude auch ein ganzes Orchester ansteckt. Die Folge: Das Publikum kennt sich kaum wieder vor Jubel.
Das Konzert begann mit der Sinfonie Nr. 1 von Carl-Philipp Emanuel Bach - ein ungewöhnliche modernes Werk des Bach-Sohnes, total verspielt und von einem Temperament, dass manche Flamenco-Truppe vor Neid erblassen ließe. Es folgten zehn Minuten orchestraler Bienenschwarm mit einer "Annäherung an alte Burgen und einen Bachchoral" von Ulrich Creppein - eine Auftragskomposition der Deutsche Bank Stiftung. Der junge Komponist wurd anschießend auf die Bühne gerufen und muss wohl begriffen haben, wie vermessen seine Bemühungen um Neue Musik zwischen Vater und Sohn Bach wirken mussten. Das ganze Ausmaß dieser Kluft tat sich auf mit Johann Sebastian Bachs Violinkonzert E-Dur und der Reaktion des Publikums darauf im Vergleich zu dem höflich-Distanzierten Applaus für den verlegenen jungen Komponisten.
Nach der Pause folgte die Sinfonie Nr. 5 d-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy, die "Reformations-Sinfonie" mit dem kunstvoll variierten Leitmotiv des Chorals "Ein feste Burg ist unser Gott". Mehr Bach geht einfach nicht. Ein großartiger Bach-Abend alles in allem mit phantastisch souveränen Musikern.


Samstag, 7. September 2013

Retro-Festival "Stuttgarter Lyriknacht"

Eine Polemik zum 30. Jubiläum des Stuttgarter Schriftstellerhauses


So freundlich wurden wir empfangen   bei der 10. Stuttgarter Lyriknacht in der Stadtbibliothek: Mit einem bunten Strauß Malven gedachten die Organisatoren Stadtbibliothek, Stuttgarter Schriftstellerhaus und Literaturhaushaus des Schweizer Dichters Rainer Brambach (1917 - 1983), der im Hauptberuf Gärtner war, und seines Freundes Günter Eich (1907 - 1972). Den ersten Teil gestaltete das Schriftstellerhaus mit einem Vortrag des Germanisten und Journalisten Michael Braun über die beiden Dichterfreunde - unterstützt durch den Rezitator Florian Ahlborn. Es folgte unter der Regie von Florian Höllerer vom Literaturhaus ein poetischer Dialog von und mit Nico Bleutge (2012: "verdecktes gelände") und Uwe Kolbe (2013: "Lietzenlieder"). Wem danach war, der durfte anschließend vertonte Lyrik von Friedrich Hölderlin, Eduard Mörike und Ludwig Uhland als Kunstlied hören, vorgetragen von Melanie Schlerf (Mezzosopran) und Hitoshi Tamada (Tenor), begleitet von Katie Lonson an der Gitarre. Alles sehr schön, alles sehr gut vorgetragen. Eine echte Lyriknacht.
Aber es gibt doch auch grundsätzliche Kritik: Ich finde es beschämend und traurig, dass zeitgenössische Stuttgarter Lyriker (Stuttgart steht ja im Titel!) da überhaupt nicht vorkommen. Mit Nico Bleutge und Uwe Kolbe hat das Literaturhaus einmal mehr Mainstream-Autoren präsentiert statt heimische Schriftsteller, beide von auswärts, beide vielfach preisgekrönt und herumgereicht. Jetzt also auch noch hier, wo einst lokale und regionale Autorenförderung angesagt war. Kein Ersatz, nirgends.
Das Schriftstellerhaus, von dem Lyriker Johannes Poethen vor 30 Jahren als Heimstatt und regionale Interessenvertretung lebender Autoren gegründet, begnügte sich mit zwei veritablen Toten. Akademisch gelehrt, aber eben nicht von einem Autor präsentiert, sondern von einem belesenen Lyrik-Kenner und einem Schauspieler. Und der Beitrag der Bibliothek selbst galt ebenfalls toten Dichtern (taniemenfrei), wobei die Honorare des Abends ausschließlich an Musiker und nicht an Autoren gingen. Aber was soll man sagen, wenn sogar die SWR2-Hörspielredaktion immer häufiger Hörspielaufträge an Komponisten vergibt, die kaum je ein Hörspiel gehört haben - geschweige denn geschrieben?
Nichts zeigt besser als diese Stuttgarter Lyriknacht ohne Stuttgarter Lyriker, wie tot die regionale Literaturförderung in der Landeshauptstadt ist. Die Rathauslesungen (in Stuttgart wurden die mal erfunden und waren bis zuletzt gut besucht!) wurden unter OB Schuster ebenfalls abgeschafft, und von Lesungen des Förderkreises Deutscher Schriftsteller höre ich auch nicht mehr viel. Wo einst blühende Landschaften kenntnisreich und sensibel vom Ministerium für Wissenschaft und Kunst und dem Kulturamt gepflegt wurden, ist heute für Stuttgarter Autoren eine Wüste. Da drin gibt´s Oasen, z.B. für Krimi-und Bestseller-Autoren. Aber nicht für Lyriker oder sperrige Essayisten. Walle Sayer war der einzige Lyriker, den das Schriftstellerhaus zur viel gepriesenen "Literatur im Salon" in diesem Sommer eingeladen hatte - sein Auftritt war ein Glanzlicht. Aber er ist in der Szene inzwischen zum "Big Name" aufgebaut worden und stammt auch nicht aus Stuttgart. Da stimmen einfach die Gewichtungen nicht. Aber das ist kein Wunder, wenn die Programme von Journalisten oder Kulturmanagern gemacht werden, die Autoren aus der Region einfach nicht beteiligen.
Veranstaltungen dieser Art sind eine Fata Morgana für eitle Literaturfunktionäre, denen die ewig hungrigen Schriftsteller selbst nur noch lästig fallen. Ein potempkinsches Dorf für Oberflächen-Bildungsbürger. Bei Licht besehen: ein Skandal. Ein Retro-Festival der lyrischen Eitelkeiten, das die lebenden Autoren mit kaum zu überbietender Verachtung straft. Weil Ihr Nicht-Stromlinienförmig-Sein erst nach ihrem Tod wieder zur Selbstbespiegelung taugt. Weil ihre Kreativität verdächtig und nicht leicht verdaulich ist. Weil die Verwalter von Literatur heute lieber sich selbst fördern als diejenigen, die es nötig hätten und besser verdienten. So verdienen sie halt gar nichts mehr mit ihrer ohnehin meist brotlosen Kunst. Dass sie brotlos ist, verdankt sich solchen Zuständen - in einem immer noch reichen Land.
Dabei wird gern vergessen: Auch Mainstream-Autoren waren mal klein. Sie wurden zu dem gemacht, was sie heute sind: durch Preise wie den Thaddäus-Troll-Preis, durch Stipdendien, Einladungen zu Deutsch-Schweizer Autorentreffen, dem "Irseeer Pegasus", Landes-Literaturtagen und anderen Festivals, bezahlte Lesungen, Aufmerksamkeit in der Presse. Literaturförderung darf nicht zur reinen Mainstreamförderung verkommen, die Autoren aus der "zweiten Reihe" aus dem Blick verliert. Sie sollte auch nicht zur reinen Leseförderung werden wie bei "Eine Stadt liest ein Buch". So etwas ist schön, solange dabei Autoren aus dem Land nicht auf der Strecke bleiben wie 2011 in Stuttgart. Da sind Veranstaltungen wie das Eifel Literaturfestival oder die neuen Karlsruher Literaturtage von deutlich anderem Zuschnitt.
P.S.: Liebe Literaturfreunde, kommt mir jetzt nicht mit dem Totschlagargument "Neiddebatte", wo doch nur Gerechtigkeit angefragt ist (vielleicht auch noch die Zweckentfremdung von Steuermitteln zur regionalen Literaturförderung)! Auch Dichter wollen leben und haben ein Recht darauf. Das aber wird in Stuttgart vergessen - oder noch schlimmer - sehenden Auges dem Zeitgeist geopfert. Hier geht´s um nicht mehr und nicht weniger.

Freitag, 6. September 2013

Igor Levit in Stuttgart: eine magische linke Hand

Igor Levit am 04.09.2013 bei seinem Klavierabend in der Stuttgarter Liederhalle: eine leuchtende linke Hand! Johann Sebastian Bachs "Chaconne" aus der Partita d-Moll für Violine solo - bearbeitet für die linke Hand von Johannes Brahms ist eine Herausforderung, die nur wenige Pianisten bestehen. Der Deutschrusse oder Russlanddeutsche tut´s mit Bravour. Er ist trotz seiner Jugend schon ein großer Meister mit unglaublicher Technik und sehr viel interpretatorischem Gefühl. Bei diesem Stück spielt er auch nur Klavier und verzichtete darauf, zusätzlich Theater zu spielen wie bei Beethovens Klaviersonate Nr. 17 d-Moll oder den Stücken aus den "Pilgerjahren" und den "Petrarca-Sonetten" Franz Liszt: Kein Grimassieren, kein gewollt diabolisches Augenrollen, Gehacke mit den Fingern, Händezittern und Gefletsche mit den Zähnen, kein unpassender Versuch, ins Klavier hineinzukriechen (sieht aus, als sei er extrem kurzsichtig, kommt gar nicht gut rüber). Am besten, man schließt die Augen, lehnt sich zurück und gibt sich ganz dieser wunderbaren Musik hin. 
Hinterher übrigens, beim Signieren seiner Beethoven-CD, erwies sich Levit als ganz normaler, freundlicher, netter junger Mann ohne Allüren oder Sperenzchen. Er ging auf jeden Wunsch des Publikums ein, war offen, plauderte locker und hatte sichtlich Spaß am Kontakt mit den Fans. So würde man sich alle wünschen, die hier spielen. Aber es werden ja auch mehr und mehr. Und vielleicht spielt er eines Tages nur noch Klavier. Nicht auszudenken- da könnte ein neuer Alfred Brendel heranwachsen... Das Musikfest Stuttgart hatte einma mehr ein Highlight. Die Menschen sind dankbar dafür und zeigen das auch mit lang anhaltendem Applaus, Bravorufen und Standing Ovations. Ein Ärgernis sind nur manche Leute im Saal, da können Künstler und Veranstalter nichts für: vor allem junge Frauen, die permanent an ihren Wasserflaschen nuckeln ("Nachbarin, Euer Fläschchen...") und manchmal den Verschluss klappernd fallen lassen, oder andere, die auch während des Konzerts fortwährend mit ihrem Smartphone spielen müssen.
Das ist schrecklich, unhöflich und lästig und sollte auch ruhig mal zum Platzverweis führen. Solche Unsitten sind zwar noch nicht so schlimm wie in manchen Opernlogen vor 200 Jahren, wo während der Darbietungen ziemlich ungeniert und laut getafelt oder auch gevögelt wurde, aber auf dem besten Weg da hin. Musik kann ja durchaus erotsierend sein, aber Klappern, Tippsen und Gluckern ist´s nicht.