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Donnerstag, 27. Juni 2013

Literatur im Salon: Walle Sayer liest in Stuttgart

Walle Sayer im Salon von Annette und Roland Kugler
Es war ein schöner Abend: Der Lyriker Walle Sayer aus dem schwäbischen Horb-Dettingen las heute im Salon von Annette und Roland Kugler in der Stuttgarter Landhausstraße. Die kleine, aber feine Veranstaltung des Schriftstellerhauses - man ist ja wegen der Enge in der Kanalstraße versiert in kleinen Formate - bringt mit wachsendem Erfolg Literatur in die Stuttgarter Salons. Dort, wo sie zu Zeiten von Cotta und Jean Paul auch entstanden ist, fällt die Literatur in diesem Sommer auf fruchtbaren Boden: in Privathäusern.
Literaturfreunde werden eingeladen, bezahlen einen Obolos für Speis und Trank, treffen einen Autor, und der liest,ordentlich bezahlt dank der Literaturförderung durch Stadt und Land, aus seinen Werken. Natürlich ist das eine mit 20-25 Gästen weit intimere Veranstaltung als bei den sonst üblichen Lesungen. Der Autor erfährt nicht nur die Zuwendung der Gastgeber und eines aufmerksamen Publikums, sondern auch der fachlichen Einführung durch einen Moderator - in diesem Fall Astrid Braun, die Geschäftsführerin des Schriftstellerhauses. Dieses kann dem geladenen Schriftsteller (das ist Teil des Konzepts) enger auf die Pelle rücken als sonst. Die Atmosphäre in Privatwohnungen oder Häusern erleichtert das enorm. Und die Gastgeber dürfen sich schmücken mit Geist und Witz des geladenen Literaten; die Presse kommt, die "Szene" versucht, einen Platz zu ergattern - ganz so will und soll es sein, damit die Rechnung aufgeht: eine Win-Win-Situation, ein Deal, von dem jeder etwas hat.
Walle Sayer ist dabei mehr als irgend eine der verbreiteten Prominentenbesetzungen. Er ist ein wirklicher Dichter und zumal einer zum Anfassen, der in diesem Rahmen aus- und einnehmend plaudern kann und geduldig Fragen beantwortet. Fragen nach seinem Hand-, Hirn- und Mundwerk, anch Inspirationsquellen und Reifezeiten, nach Lyrik und Prosa und was sie bei ihm gemeinsam haben. Sayer ist ein Dichter von hohem literarischen Niveau, der aber nicht gleich mit Theorien kommt, die umfangreicher als sein poetisches Werk sind. Er ist einer, der beim Vorlesen und im Zuhören besticht mit Präzision und Pointen, der mit Witz und Charme auch die Mühen der Ebene in seinem Beruf und die Kurven und Knicke einer nicht-linearen Autorenbiographie bereitwillig nachzeichnet. Halt einer, mit dem man reden kann. Einer, bei dem sich eines ganz sicher nicht einstellt, was ich immer befürchtet hatte: Schickimicki-Atmosphäre. Dafür einen ganz großen Dank. Allein dafür hat sich der Abend gelohnt. "Die Rendite einer Rose" (Sayer) ist schwer zu ermitteln; doch an diesemn Abend war sie spürbar präsent.




Wann kommt der Aufstand der Pendler?

Stuttgart 21 Bahnhofsvorfeld Baustelle Ost

 Stuttgart 21 Klettpassage Grundwassermanagement (blaue Rohre)

Stuttgart 21 Baustelle Bahnhofsvorfeld West

Stuttgart 21 ist die komplette Infrastruktur-Blockade einer erfolgreichen Wirtschaftsregion. Ich warte auf den Aufstand der Pendler: Ihre Arbeitsplätze werden belagert durch Dauerstaus auf den wichtigsten Autostraßen und Bau-Chaos am, im und um den Hauptbahnhof. Diese Fotos sind gestern um 15 Uhr entstanden; ich hatte bloß keine Lust, bis zum Berufsverkehr zu warten. Dann steht hier alles still.
Hunderttausende kommen immer schwerer zur Arbeit, für viele verdoppeln sich die täglichen Fahrzeiten, oft enden Züge weit vor der Stadt und die Passagiere müssen in zusätzliche Pendelbusse umsteigen, die dann im Stau stehen. S-Bahnen fahren unpünktlich, U-Bahnen werden durch Tunnelbaumaßnahmen bald ebenfalls beeinträchtigt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Unternehmen diesen "Wirtschaftsstandort" verlassen und mit ihnen Arbeitnehmer, Steuerzahler, Kunden und Konsumenten für den ganzen Ballungsraum.
Stuttgart hat ca. 640 000 Einwohner, und geschätzte 300 000 Pendler kommen täglich zur Arbeit in die Stadt. Bis jetzt. Wie lange noch unter diesen Umständen? Was wird aus dem berühmten Freizeitwert der "Hauptstadt zwischen Wein und Reben" mit ihren 300 Jahre alten Parks?

Donnerstag, 6. Juni 2013

Trauergedichte: ein verbales Tadj Mahal

Eva Christina Zeller: "Die Erfindung Deiner Anwesenheit". Gedichte. Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen (2012), 128 S., 16 €

Diese Buch gehört zu denen, über die ich nicht gleich schreiben konnte. Ich war anfangs zu aufgewühlt dafür, musste sich setzen lassen, was dieser Zyklus aus 99 Gedichten in mir auslöste. Mag sein, es ist auch jetzt noch zu früh dazu. Vielleicht werde ich wieder darüber schreiben, später, in einem anderen Zusammenhang. Dieses Buch hat einen der Umständlichkeit verdächtigen Titel, aber mir fiele wenigstens derzeit auch nichts Besseres ein. Es sind Gedichte von den Rändern unserer Existenz, eine Trauerarbeit, Gedichte wie ein inneres Zwiegespräch mit dem toten Freund. Etwas, das spürbar weh tut. Es muss unglaublich schwer sein, etwas derart Intimes wie Trauer und Verlust so zu verarbeiten, dass über die persönliche Befreiung hinaus etwas entsteht, das in der Öffentlichkeit nicht fehl am Platz wäre.
Die Frage ist nicht, ob jetzt eine gelungene, allgemeingültige Form der Therapie vorliegt, meinetwegen der Schreibtherapie. Das auch, möglicherweise. Aber damit ist bei weitem noch nicht erfasst, was hier geschieht. Es war eine Zumutung für die Autorin und ist eine Zumutung für den Leser, die ich jedoch nur empfehlen kann. Früher oder später nämlich platzt darin etwas auf, das auch in der Seele aufplatzen kann wie eine Schote, die Nahrhaftes oder Duftendes freigibt. Aber eben erst durch den Schmerz und die Verschlossenheit hindurch. Erst wenn es reif ist.
Dass man mit lieben Toten spricht, ist nicht neu. Dass man so mit ihnen spricht, scheint mir aber einmalig zu sein. "Die Erfindung Deiner Anwesenheit" ist ein Topos, beinahe ein Klischee. Doch genau darum geht es, um die Apotheose eines Menschen im Wort, in Gedichten. Hier wird der Leser Zeuge des fast schon unheimlichen, magischen Vorgangs der Beschwörung einer Anderswelt, die es wirklich gibt - und eben nicht bloß in wirren Monologen von Leuten, die halt langsam wunderlich werden. So etwas "Andenken" oder "Gedenken" zu nennen, wäre vor diesem verbalen Tadj Mahal ungehörig. Das hat mich so erschüttert: dass ich plötzlich nachfühlen konnte, was mich nichts anzugehen schien, was mir bis dahin kaum greifbar vorkam trotz aller philosophischen Vertrautheit mit dem Thema. Schon die schier masochistische Aufrichtigkeit bohrenden Nachforschens überrascht:

vielleicht geht es
gar nicht um dich

um den abdruck in mir
den du hinterlassen hast

Es geht nicht um Vergessen in diesen Versen, sondern um die Auflösung der Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits, Ich und Du, Fragen und Antworten, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - etwas, das nur das Wunder der Sprache vermag. Dies sind keine religiösen, erst recht keine frommen Gedichte. Aber es sind Gedichte, die sich mit einer Erfahrung aussöhnen, mit der letzlich keine Versöhnung möglich ist. Man findet hier auch die Wut über das, was unausgesprochen blieb, über den "Verrat" eines Toten, der nicht sprach über seine Krankheit und den Ernst der Lage.

er war nicht ganz bei mir
so wie nur ich bei ihm war ohne zu spüren dass er

schon beschäftigt war mit einer zukunft die es nicht gab
mit dem raum der hinter den worten liegt

wir waren getrennter als heute
wenn das möglich ist

wo er lange schon staub ist und ich seither sterblich
weil auf der anderen seite


Aber nicht weniger spüre ich die Wut der Autorin über eigene Ausweichmanöver und Fluchtreflexe. Darüber auch, im entscheidenden Augenblick nicht bei ihm gewesen zu sein, ihn beim Hinübergehen selbst, im Moment des Todes, "allein gelassen" zu haben. Das gibt es ja häufig: Man ist gerade heimgefahren, weil die Krankenschwester gesagt hat, man solle mal wieder schlafen, sie werde Bescheid geben. Oder man ist eingeschlafen am Sterbebett und hat nichts mitbekommen. Oder

stand am bahnsteig
und wartete auf den seelentröster

der einen faden in der hand hielt
und die taschen voller steine und brotkrumen

hatte den falschen abgeholt
sollte bei dir sein


Wann das passiert, kann niemand etwas dafür. Aber es schützt partout vor Selbstvorwürfen, das zu wissen. Dieser innere Prozess vollzieht sich ausschließlich mit Sprache und in konsequenter Kleinschreibung, von der ich im Allgemeinen nicht viel halte, weil sie mir oft so maniriert und schlecht begründet vorkommt. Hier ist das anders. Sie ist ein Mittel der Abstraktion, der Ent-persönlichung, der Objektivierung, eine Barriere auch gegen das in so einem Fall übermächtig drohende Pathos (etwas "klein halten", "den Ball flach halten"). Eine zentrale Metapher in diesen Versen ist der Vorhang, die Grenze, die Tür: Übergang, Zwischending, Rätsel, Zielfernrohr auch nach so langer Zeit, nach vielen Jahren noch:

er wäre jetzt 50 geworden
wenn er ncht 27 geworden wäre

meine kinder wären seine kinder
er wäre neben mir gegangen

hinter dem vorhang der luft
ob du noch da bist

zieht es mich ab und zu
zu dir hin

Am Ende gelingt gar Versöhnlichkeit, wenigstens ansatzweise in Zeilen, die pantheistisch zu nennen frivol wäre. Zeller lauscht hinein in eine hellhörige Stille und lässt den Leser teilhaben an etwas, das gerade da entsteht, in diesen kostbaren Augenblicken, die nicht mehr nach dem Warum fragen und nicht mehr zwanghaft aufräumen müssen. In diesen Gedichten hat Eva Christina Zeller einen Ort für ihre Trauer geschaffen, den auch andere besuchen dürfen. Das gibt diesen Gedichten eine Schönheit und Weite, einen Atem, vor dem ich mich seiner Offenheit und Freiheit halber verneige:

wind sein
der durch die welt zieht

über das meer
aus deinem woherauchimmer




Ein hauchzartes Nichts voller Träume

Walle Sayer: Strohhalm, Stützbalken. Gedichte. Klöpfer & Meyer, Tübingen, 120 S., 16 €

Um es geich zu sagen: Nur der Titel gefällt mir nicht - zu akademisch, und dann noch ein Brems-Komma drin. Das entspricht meines Erachtens nicht im Mindesten der wunderbaren, teils minimalistischen Poesie, die das Buch enthält.
Det Titel besteht aus zwei (!) Zeilen des programmatischen Gedichts "Notizen für eine Laienpredigt", das sich im Grunde liest wie eine Anleitung zum Verfertigen von Gedichten. - Zumindest von Gedichten dieser wunderbar dichten, kompekten, aphoristisch verknappten und doch bildreichen Sprache, mit der Walle Sayer eine ganze Welt im Kleinen baut. Seine Lyrik ist ausgesprochen reif, wenn man darunter versteht, dass sie nicht nur Zufallsfunde oder spontane Gedankenblitze sind, sondern Frucht eines intensiven Nachdenkens über Wahrnehmung und Sprache und beharrlicher Arbeit daran: trittsicher.
Dieser Autor arbeitet nach überprüfbaren Maßstäben. Er schaut aufmerksam hin und baut seine in der Regel reimlosen Verse dann im Wissen um die multiplen doppelten Böden der Sprache. Er macht keine überflüssigen Worte. Seine Worte sind Taten. Das ist alles handfest, geerdet in der schwäbischen Heimat und im Dialekt, ohne daran zu kleben. Es hat Hand und Fuß. Kein Larifari.

Deshalb möchte ich das titelgebende Gedicht  hier einmal vollständig zitieren und kommentieren -pars pro toto, als Beispiel für das, was ich meine, damit niemand meint, ich schwätze Journalistenlyrik:

Anhäufeln,
zusammenstupfen.

Quellwasser
aus einem Sektglas trinken.

Glocken, ertaubt
von ihrem eigenen Geläut.

Der unentzifferbare Sockelspruch:
Ebarm dich meiner.

Strohhalm,
Stützbalken.

Der Wicht
in allem Wichtigen.

Dreispurige
Sackgassen.

Dieses Anhäufeln und Zusammenstupfen ist genau das, was Sayer mit Wörtern macht: ein handwerklicher, fast landwirtschaftlicher Vorgang, der Spreu vom Weizen trennt und ein gerüttelt Maß anbietet, ohne Leerphrasen. Die Lyrik, gar der "hohe Ton" (den ich persönlich auch mag, dem ich aber chronisch misstraue) ist auch bei ihm des leicht altmodischen Luxus verdächtig, ein Sektglas halt, womöglich noch geschliffen. Aber drin ist Wasser - bei Sayer nicht nur aus ökologischen Gründen kostbarer noch als Schampus, wie kommt´s?
Weil seine Gedichte nicht besoffen von der eigenen Schönheit sind, seine Verse keine klingende Schelle, kein hohl tönendes Erz. Stoßrichtung: zurück aufs Wesentliche (unentzifferbare Grundsätze des Erbarmens, Hoffens und Glaubens etwa). Strohhalm eben, Stützbalken: etwas, woran man sich im Zweifel eben auch halten kann. Woran sich der Dichter zumindest hält - mit nachhaltigem Erfolg.
Doch kaum ist es heraus, das simple Wort zum großen Gedanken, da kommt schon die Warnung davor, der Prophet möge sich bloß nicht zu wichtig nehmen, sonst wird er zum Wicht. Und das Spiel mit Wörtern: Großspurig, einspuren, zweispurig - seine Sackgassen nennt er gar dreispurig. Da klingt nicht nur an, was ich schon über die mehrfachen doppelten Böden der Sprache wie der Wahrnehmung schrieb, sondern auch ein feiner Humor. Ein ausgewiesener Fachmann des lyrischen Sprechens pocht nicht auf irgend eine Mission, sondern bezeichnet seine Anleitung zum Gedichtdemachen selbstironisch als "Notizen für eine Laienpredigt". Aber immerhin. Selten sind Notizen so ausgefeilt. Natürlich ist das nur meine ganz persönliche Sicht auf diesen Text. Aber Unsinn ist es sicher nicht. Das alles steckt drin, und sicher noch einiges mehr.
Und so geht´s weiter über120 Seiten. Das kann man nicht alles hier wiedergeben, das hieße abschreiben. Aber der Hinweis sei gestattet, dass diverse Lobredner schon Recht hatten mit Bemerkungen wie "profane Erleuchtung" oder "Die Kunst, aus Sprache Stille zu formen". Es ist, richtig, "Stille, die einen Schatten wirft". Ich würde sogar sagen: Stille, die spricht. Wally Sayer schreibt Verse, die einem Leser helfen können, Stille zu finden, stille zu werden, in sich selbst und in die Dinge hineinzuhorchen. Das ist nicht wenig in dieser lauten Zeit. Wie hat ein heller Kopf im Verlag dazu formuliert: "Vor fünfhundert Jahren hätte man vielleicht noch ein Kloster gegründet" - wenn man so tickt.
Meditativ ist dieses Schreiben, doch auch ganz von dieser Welt und mittendrin. Deshalb liebe ich diese Gedichte. Ob ein Pappkarton, der zum Rückzugsort im Kinderzimmer wird, ob Kindheitserinnerungen oder Landschaftsbilder, Reisenotizen, Historisches, Beobachtungen im Bus oder das sogenannte Wirtschaftsleben, ob Traum, Natur oder Familiendinge, Kunst und wasweißich noch: alles wird hier mit einem leichten Drall aus dem Alltag ins allgemein Gültige erhoben, ohne uns mit Bedeutung zu erschlagen. Und es darf sogar durchaus unterhalten wie "ein Nikolaus, zum Osterhasen ungeschult". Ein hauchzartes Nichts sind diese Verse, voller Träume und Dinge zum Entdecken.