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Freitag, 31. Mai 2013

Wachsende Vielfalt: Chorlabor V in der Bachakademie Stuttgart

Gitarrist Alon Wallach und Sylvia Lustig
widmar-puhl.podspot.de 
Kaum zu glauben: Christliche Choräle, jüdische Cantigas und arabische Gesänge können einem wunderschönen und zugleich spannenden Verbund ergeben. Beim interreligiösen Chorlabor der internationalen Bachakademie Stuttgart trat Bernhard König mit den Sängern, die an diesem spannenden Workshop teilnehmen, am 27. Mai den bisher schönsten und umfangreichsten Beweis für diese These an. Juden, Christen und Muslime singen hier gemeinsam und vereinen die musikalischen Schätze aller drei Religionen und mehrerer Kulturen. Den Auftakt zum diesmal zweiteiligen ganztägigen Workshop machten Alon Wallach und die Sopranistin Sylvia Lustig mit dem Thema "Sephardische Musiktraditonen". Die sephardischen Juden sind im Gegensatz zu den mittel-und osteuropäischen Chassidim jene Juden, die rings ums Mittelmeer leben, seitdem sie 1492 von den christlichen Königen aus Spanien vertrieben wurden. Sie hatten unter teils muslimischer, teils christlicher Herrschaft 1000 Jahre auf der iberischen Halbinsel gelebt und maßgeblich zu der dortigen Hochkultur des Mittealters beigetragen. Sie waren Künstler, Philosophen, Ärzte, Wissenschaftler, Ingenieure und Händler von Weltruf. Ohne sie stand Spanien rasch am Anfang eines langsamen Niedergangs, den nur das blutige Raubgold aus Lateinamerika noch eine Zeitlang verlangsamen konnte. Diese stolzen Sephardim haben die spanische Musik geprägt, aus der sich auch heute noch der Flamenco und zahllose Volkslieder speisen.

Alon Wallach
Die klassischen Liedformen der "Romances", "Cantigas" und "Coplas" werden gern als typisch spanisch vereinnahmt, sind aber ursprünglch Traditionen der Sephardim. Schöne Beispiele für diese im Kern nicht religiöse Musik gab die Sängerin Sylvia Lustig. Klar ist aber auch, dass diese Musik immer häufiger auch mit religiösen Texten gesungen wurde. Der in Jerusalem geborene, in Stuttgart lebende Aron Wallach ist in dieser musikalischen Tradition ausgebildet. Besonders interessant: Der Gitarrist stieß nicht in Israel oder in Andalusien auf das Erbe der Sephardim, sondern als Student in Stuttgart. Wallach und seine Arbeit sind ein herausragendes Beispiel für die kulturelle Bereicherung, die wir durch Zuwanderer seines Schlages erfahren.
Bezeichnend auch eine Anekdote, die Wallach erzählte: Neulich habe die baden-württembergische Integrationsministerin Bilkay Öney bei einer Veranstaltung mit ihm den Hinweis vermisst,welche großherzige Aufnahme die Sephardim auch in Istanbul gefunden hätten. Auch das musikalische Leben dieser Weltstadt verdankt den Sephardim wesentliche Impulse. Darauf, so Wallach, wolle er nun auch gebührend hinweisen.
Es ist aber auch umgekehrt: Wie viele Einflüsse aus allen Bereichen der islamisch, jüdisch und christlich besiedelten Welt die Sephardim im Lauf der Zeit aufgenomen haben, lässt sich bei vielen Romances, Cantigas und Coplas deutlich hören. Wie alle Volkslieder sind diese Liedformen einer permanenten Entwicklung durch Interpretation ausgesetzt, die nicht nur durch die Umgebung, sondern auch von Zeit und Geschichte beeinflusst wird. Juden. Christen und Muslime haben also vermutlich schon längst mehr gemeinsame Musiktraditionen, als den meisten bewusst ist. Auch Lustig und Wallach interpretieren - und dabei kann es durchaus vorkommen, dass Texte und nach Renaissance klingenden Melodien durchaus unterschiedliche Entwicklungen nehmen - mal getragen oder melancholisch, mal voller Lebensfreude.
Samir Mansour

Samir Mansour, der zweite Referent dieses Tages, gab eine Einführung in die Grundlagen der arabischen Musik - notgedrungen, da dies hier ein Chorlabor ist, auch der arabischen Sprache. Das erste Stück, das er vorstellte, heißt "Ya Rabb" (Oh Gott = OMG in der Facebooksprache). Das Lied handelt davon, dass die Menschen Gott nicht begreifen, ganz gleich ob sie gebildet und ungebildet sind. Auch wenn er uns ständig Zeichen sende, blieben wir ihnen gegenüber doch taub und blind. Vier Zeilen in arabischer Sprache waren zu lernen, und dann 87 Takte im Zweivierteltakt.
Frauen, die diesmal in der absoluten Mehrheit waren, singen bei dieser (wie in Persien und in der Türkei) einstimmigenMusik gewöhnloich die hohen Lagen, abwechselnd mit Männern in mittlerer und tiefer Tonlage. Um das Experiment praktisch durchführen zu können, mussten die Frauen auch die mittlere Tonlage übernehmen, während die zahlenmäßig deutlich kleinere Gruppe der Männer nur im Bass sang. Das Ergebnis konnte sich ebenfalls hören lassen - auch weil Mansour größere Schwierigkeiten gekonnt mied.
Mansour hat palästinensische und arabische Wurzeln, stammt aus Damaskus, lebt seit 13 Jahren ebenfalls in Stuttgart und hat klassische Musik studiert. Bevor er auch als Lautenist Unterricht in arabischer Musik zu geben begann und einen deutsch-arabischen Chor gründete, war er Tuba-Spieler! Viel größer kann eigentlich musikalische Mehrfachbegabung kaum sein. Und wie bisher alle Referenten machte er den Sängern des Chorlabors ein dickes Kompliment für ihre schnelle Auffassungsgabe und stimmliche Qualität. Es ist immer wieder erstaunlich: Da kommt ein wildfremder Mensch und verteilt Noten, unter denen Texte in einer Fremdsprache stehen - und in kaum einer Stunde singt der Chor das vom Blatt, als ob die Leute schon seit Wochen oder Monaten nichts anderes täten. Das ist einfach beeindruckend.
Höhepunkt des Tages war ein Experiment, bei dem der chrstliche Choral "Ich weiß, woran ich glaube" mit einem muslimischen Solo des türkischen Bassbaritons Ahmet Gül (eines der treuesten Chorlabor-Mitglieder) und mit dem hebräischen Lied "Eli, Eli" zu einem Medley von 5:30 Minuten wird. Auch wenn noch nicht alles vollständig ist und dem Arrangeur Bernhard König noch einige Ergänzungen vorschweben: Das sind die Augenblicke, wo Projektleiter König zu ganz großer Form aufläuft, und für die seine Sänger sich so viel Arbeit machen. In der Mittagspause gab es wieder ein interkulturelles Büffet und angeregte Diskussionen. Und wieder gab es neue Gesichter, mit denen man sich bekannt machen wollte. Denn hier trifft man wirklich interessante Leute!



Donnerstag, 23. Mai 2013

Geniale Jungs

Das Dierer Ilg Trio in Ludwigsburg

Das Dieter Ilg Trio in Ludwigsburg

"Ihr seid einfach genial!" rief eine Frau aus dem Dunkeln schon nach wenigen Stücken in den Saal, als gestern das Dieter Ilg Trio in der Ludwigsburger Karlskaserne das neue Album "Parsifal" konzertant  vorstellte. Die CD war schon rechtzeitig vor den medialen Feierlichkeiten zu Richard Wagners 200. Geburtstag auf dem Markt, das hier war ein echtes Konzert. Der Freiburger ECHO-Preisträger mit seinem Pianisten Rainer Böhm (Jazzpreisträger Baden-Württemberg 2010) und seinem neuen Drummer Patrice Héral erlaubte sich denn auch Freiheiten der Improvisation, die nur live möglich sind. Es scheint schon ein Markenzeichen dieser Schlossfestspiele unter der Intendanz von Thomas Wördehoff zu sein: Klassiker werden lustvoll gegen den Strich gebürstet und damit als musikalischer Steinbruck für andere musikalische Stile entdeckt. Zuerst war es Franz Schubert, dann Gustav Mahler, dann jeweils ein anderer - wer halt gerade Geburtstag hat, kann rangenommen werden. Das ist zwar nicht unbedingt ein systematischer Zugang, sondern eher der eines Flaneurs, aber das Element des kalendarischen Zufalls hat auch etwas durchaus Sympathisches.
Dabei sind die Musiker keineswegs Wagnerianer - genauso wenig wie Ilg voriges Jahr ein Verdi-Fan war, als er in Ludwigsburg "Othello" als sein erstes Opernprojekt vorstellte. Nein, er griff eine Anregung von Wördhoff auf, er wählte keine Bibliothek, sondern nach dem ersten Hören der Oper "Parsifal" und der Lektüre von Wagners Partitur den Klavierauszug als Basis für eine rein musikalische Inspiration. "Pures Bauchgefühl" sei das gewesen, sagte er nachher, er habe einfach markiert, welche Stellen ihm am besten gefielen. Dann ging´s zwei Tage lang ins Studio - und voilá. Auch die beiden anderen haben heute noch ein differenziertes Verhältnis zu Wagner. Ilg verzichtete darauf, seinen Part vorher zu erarbeiten, er wollte mit den Kollegen gemeinsam bei Null anfangen. Und dann kam eine Mixtur aus zarten, höchst melodiösen Angeregtheiten mit einem nicht weniger kreativen, aber betont rhythmischem Störfeuer dabei heraus.
Pianist Rainer Böhm in Aktion
Unglaublich schnell sei das gegangen, bestätigt Rainer Böhm, der als Geheimtipp unter Deutschlands Jazzpianisten gilt. Sehr lebendig ist das, was da aus Wagner und den Reaktionen der drei feinnervigen, technisch brillanten Musikern auf "Parsifal" entstanden ist. Es ist alles dabei, was Platz hat auf dem weiten Feld zwischen innigem Gefühl und wütendem Protest. Eine Wagner-Interpretation, die freier nicht sein kann und doch eine bemerkenswerte Auseinandersetzung mit dem kompositorischen Erbe des Bayreuther Dickschädels gelten darf.
Ich gebe zu: Beim ersten Anhören der CD war gar nichts. Kein Wiederkerkennen regte sich, ein Wagner-Kenner bin ich halt nicht. Aber dann hörte ich in Etappen den "Parsifal" und dazu jeweils abwechselnd die Stücke: "Zum Raum wird hier die Zeit", "Glocken", "Parsifal", "Amfortas", "Morgengebet", "Ich bin ein reiner Tor" usw. Und das ließen sich dann plötzlich die aufgenommenen Motive und Melodien erkennen und in ihrer Verwandlung verfolgen. Auf der Bühne ging das nicht so angestrengt zu. Der Saal konnte ganz intuitiv dem Spiel auf der Bühne folgen. Es entstand der Eindruck: Locker, verspielt und doch hoch konzentriert musizieren hier drei Männer, denen man auch Beethoven oder Rossini hätte geben können. "Dann spielt mal schön", möchte man ausrufen - und was tun die drei bei der Zugabe? Sie umtänzeln Beethovens "Ode an die Freude", dass es einem kalt den Rücken herunter läuft.
Vom zartesten Beckenstreichen mit großen Pinseln bis hin zur hämmernden Grobmotorik wirbelnder Schlagstöcke kam auch Patrice Héral oft im wahrsten Sinn des Wortes blind, fast ohne hinzuschauen. Atemberaubendes Schlagzeug jenseits des Gewohnten. Dieser Mann hat ein Rhythmusgefühl, das noch die x-te Brechung der Brechung in einer Synkope findet und technisch virtuos zelebriert.
Über Ilgs Soli kann ich kaum etwas formulieren, das sicher nicht schon oft geschrieben wurde. Zu viele kennen diesen eloquenten und doch uneitlen Bandleader, der mit dem Kontrabass spielt, als wär´s ein Cello. Nur dass kein Cello das Zwerchfell so zum Vibrieren bringt.
Ilg legt mit Héral den musikalischen Estrich für den filigranen Rainer Böhm. Aber dieser sensible, schmächtige Pianist kann auch enorm wuchtig auf die Tasten hauen, wenn Akzente gefragt sind. Sein Spiel ist immer ganz da, hoch konzentriert und enorm krativ. Wie sehr es in ihm arbeitet, seit bloß die introvertierte Mimik. Wunderbar! Das war ein außergewöhnlicher Abend.




Montag, 20. Mai 2013

Orientalischer Pfälzer: Neue Gedichte von Hasan Özdemir

Hasan Özdemir: "Geschälte Sätze". Gedichte. Verlag Hans Schiler, Tübingen / Berlin, 2013, 75 S., 16 €.


Schon der Titel verrät: Dieser Dichter sucht den Blick hinter die Oberfläche der Sprache, sucht die Frucht, die Süße, das nackte Innere, den wahren Kern. Hasan Özdemir ist einer, der seine Sätze wirklich schält wie Obst: "Male die Zeit / In Merlot". Er ist 1963 in Büyükkisla / Sorgun geboren, kam als Student nach Ludwigshafen, studierte in Heidelberg und lebt seitdem in Ludwigshafen und Freisheim.
Er ist ein poeta doctus, ein gelehrter Dichter, denn er hat Germanistik und Philosophie studiert. Und obwohl er natürlich seine türkische Muttersprache nicht vergisst, schreibt er (fast) ausschließlich in deutscher Sprache. Er ist ein echter Pfälzer geworden - "mit Migrationshintergrund" meint hier hauptsächlich, dass seinem Blick und seinem Denken die orientalische Kindheit und Jugend nicht abhanden gekommen ist. Er liebt den Wein und den Rhein und die Wortspiele zwischen zwei Kulturen:

"ich özdemire mich hasan
An solchen Tagen
In Worte"

"Geschälte Sätze" ist Özdemirs sechster Gedichtband, dazwischen sind Erzählungen und ein Theaterstück erschienen. Und immer mehr hat er sich auf seine neue Heimat, seine Umgebung eingelassen, für die er originelle Bilder findet und die er stilistisch in Bewegung setzt, indem er sie personalisiert. "Morgens spucken die Häuser ihre Träume /Aus dem Fenster", heißt es da, oder "Der Wind macht einen Spaziergang / Über die Dächer der Stadt". Dieser Poet ist ein genauer Beobachter - nicht nur der äußeren Umgebung, sondern auch der eigenen Wahrnehmungen und durchaus zwiespältiger oder unterschiedlicher Gefühle:

"Sonntagnachmittag im Café überfällt mich ein Gefühl
Am Fluss umarmt es meinen Körper
Das muss es sein, was von Jahr zu Jahr das Leben verlängert
...
Die Einsamkeit spricht eine andere Sprache
Am verdichteten Tag
Regne ich der Erde zu und will ins Weite
Aber meine Brust
Ist eng"

Deutlich hörber ist eine ist den Jahren als Grundtönung mit der Reife wachsende Melancholie ("Seit Stunden schlagen die Kirchturmuhren / Ins Nichts"), der aber als Gegengewicht eine gleichbleibende, lebensbejahrende, zuweilen fröhliche Sinnlichkeit entspricht: "Die Mädchen laufen die Straße hinunter / Sie tragen kurze Röcke und lächeln sommerlich". Erinnerung wächst mit den Jahren für den Dichter an Bedeutung, und damit auch die Erkenntnis, was wir an schönen Zeiten bereits hinter uns haben. Besonders schön zeigt sich dieses scheinbar widersprüchliches Miteinander der Gefühle bei dem Gedicht "Zeit im Auge":

"Wir gehen entlang der Sommerwege
Und erzählen von vergangenen Tagen
Die Zeit nimmt unseren Vätern das Leben
und unseren Augen die Kraft

Jetzt wachsen 
Söhne und Töchter heran. Sie werden
Besseres Augenlicht haben
Als wir

Im Garten Deutschlands steht ein Baum
Er trägt saftige Früchte komm
Wir bauen uns dort ein Haus
Und wischen ab die Haut der Zeit"

Kein Philosoph und kein Dichter ist, der sich nicht mit dem Tod beschäftigen würde. Doch Hasan Özdemir tut das mit einer ungewöhnlichen, herzerwärmenden Grandezza: "Jetzt lasse ich / Mein Ich gen Himmel steigen". In den Atem dieser Sprache fügen sich auch Widmungsgedichte: für José F. A. Oliver, mit dem er vor vielen Jahren einen dreisprachigen, deutsch-türkisch-spanischen Lyrikband herausgab, ein wunderbares Mosaik der Kulturen, oder für seine Schwestern in der Türkei und andere Frauen. Darin spielen Erinnerung, Zeit und Vergänglichkeit wichtige Rollen, aber auch das Bewusstsein einer engen Verbindung, ja Einheit mit der Natur.
Der Sommer, bei Özdemir eine zentrale Metapher für die Liebe, inspiriert ihn zu einigen Texten, die ins Buch der schönsten Liebesgedichte deutscher Sprache gehören. Und nur weil hier schon so viel zitiert wurde, wähle ich als Beispiel das kürzeste von ihnen aus, das "Sommergedicht":

"Wenn eine Schwalbe keinen Sommer macht
Machen zwei Schwalben
Liebe irgendwo wo Sommer ist"

Ein schmales Bändchen, diese "Geschälten Sätze", aber man kann es immer wieder zur Hand nehmen und wird jedes Mal Neues darin entdecken. Nimmt man die zweite und oft auch dritte Bedeutungsebene dieser Verse hinzu, wird das Büchlein im Kopf ungefähr drei Mal so dick wie im Regal. Das soll Lyrik sein: Dichtung, verdichtete Sprache mit dem Prägestempel "Aufbewahren für alle Zeit!".

Sonntag, 19. Mai 2013

Vom Witz in den Wahnwitz: Otto A. Böhmers neuer Roman

Otto A. Böhmer: "Nächster Halt Himmelreich". Roman, Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen, 214 S., 19,50 €


Der Titel sollte eigentlich "Letzter Halt Himmelreich" heißen, es würde dem scheinbar autobiographischen Bogen des herrlich verrückten Ich-Erzählers entsprechen. Immerhin zieht sich die Handlung seit den Romanen ("Der Wunsch zu bleiben" (1983) und seinem viel gelobten Freiburg-Roman "Das Jesuitenschlösschen" (1985) oder auch "Der Zuwender" (2006) jedes Mal enger um den Hals des Protagonisten. Aber ausschließen lässt sich natürlich eine weitere Fortsetzung dieses erzählerischen Flechtwerks nie; Autoren arbeiten ja bekanntlich bis ins hohe Alter.
Hier in Himmelreich, der Station nach Kirchzarten, wenn man mit der Höllentalbahn von Freiburg hinauf in den Schwarzwald fährt, hier gibt es am Ende des jüngsten Böhmer-Romans tatsächlich eine Art Himmelfahrt, zumindest metaphorisch-symbolisch. Da nämlich steht eine Freilichtkapelle, wo der gealterte Antiheld nach Anzeichen eines Schlaganfalls seine Wanderungen durch diverse skurrile Geschichten beendet. Hier schreibt er einen Abschiedsbrief an die verstorbene Generalswitwe Fernanda Henningör, bei der er sich nach seiner Entlassung aus der Psychiatrischen Anstalt "Jesuitenschlösschen" nicht ganz zufällig eingemietet hat.
Dem aufmerksamen Böhmer-Leser dämmert bald, dass er sich da auf einige Deja-vú-Erlebnisse gefasst machen kann: "Ich befand mich in der Martin-Heidegger-Straße. Richtig. Ich war richtig gegangen, nach fast einhundert Jahren war ich noch richtig gegangen, mit tränenden, halbblinden Augen, mit einer unnützen Tasche an der Hand und beschwert von Erinnerungen, die sich den Anschein von Leichtigkeit geben, es aber in sich haben".
So liest sich Böhmer, wenn es ernst wird. Noch ausgesprochen unernst ist die Begrüßung an der Tür des Zweifamilienhauses, an der er dann klingelt:
"Was wollen Sie denn?"
"Ich suche eine Frau Henningör. Oder so."
"Ich bin Frau Henningör. Oder so."
"Man hat mir Ihren komischen Namen und Ihre Anschrift aufgeschrieben. Es hieß, ich könnte bei Ihnen wohnen."
"So hieß das. Dann sind Sie der..."
"Ja, der bin ich."
"Ich habe nicht viel Schmeichelhaftes über Sie gehört", sagte Frau Henningör. "Es hieß, Sie seien nicht ganz richtig im Kopf. Im Prinzip aber harmlos."
Neu-Leser kommen nicht gleich auf die Iee, dass es sich hier um den Beginn einer wunderbaren, wenn auch nicht unbedingt langen Freundschaft handelt. Tut es aber. Der bösartige Rezensent hat eine alte Besprechung aus dem Zeitungsarchiv geholt und vergleicht die Autorenporträts von 1985 und heute: Ja, der Ich-Erzähler ist im passenden Jahrgang, um die Generalswitwe schließlich als "Liebe seines Lebens" (wieder) zu entdecken. Das geschieht auf Umwegen, durch das Erzählen selbst, sonst wäre kein Roman, sondern höchstens eine Erzählung daraus geworden. Erstens hat der Ich-Erzähler die Klinik zwar mit einer kleinen Erbschaft verlassen, nimmt aber zwecks sittlicher Festigung eine Arbeit auf: Als 1-Euro-Jobber in einem Schwarzwaldsanatorium erzählt er Komapatienten aus seinem Leben, um sie aus der Reserve zu locken; "Der Zuwender" lässt grüßen. Zweitens aber erzählt er seiner Zimmerwirtin in Freiburg nach Feierabend andere Episoden aus seinem Schelmenleben, als sie krank und bettlägerig wird.
Bevor er für längere Zeit im "Jesuitenschlösschen" aus der Welt verschwand, hat er trotz aller Charakterschwächen den Job als Geschäftsführer einer Stiftung zur Förderung junger Künstler bekommen. Neigungsgemäß und vorhersehbar, hat er nach seinem zeitlich begrenzten Irrsinnsregime Geld veruntreut und wurde nicht nur entlassen, sondern gleich wieder in der geschlossenen Anstalt kaserniert. Vorher aber hat er als Drehbuchautor gearbeitet und zuletzt einen Film über Friedrich Nieztsche gemacht. Das gibt Anlass zu den köstlichsten Verdrehungen und existenziellen Veruntiefungen, denn der Produzent und der Haupt-Interviewpartner (ein Nietzsche-Spezialist natürlich) sind ebenso verrückt wie der alternde Philosoph und der Ich-Erzähler selbst. Diese Romanfigur und ihre Geschichten verhandeln das Scheitern auf hohem Niveau - finanziell, gesundheitlich, intellektuell, emotional, rundum. Er hat Kilos angesetzt und Haare verloren, aber bleibt der unverkennbare, alte selbstironische Kauz, der sich oft nur noch in Sarkasmus retten kann, weil sonst Kitsch droht oder Depression. Diese Balance zwischen Witz, Melancholie und Wahnwitz beherrscht Otto A. Böhmer meisterhaft.
Das ist alles so wunderbar bekloppt, dass es schon wieder realistisch wird im Zeitalter der "nicht-linearen Erwerbsbiographien", bei denen traditionell Medienschaffende die Ranglisten anführen. Zwar ist "Der arme Poet" schon seit dem berühmten Spitzweg-Bild ein ironisches Klischee, aber zeitlos gültig und literarisch vielseitig abwandelbar. Gealtert also, nur begrenzt weiser und klüger geworden, aber umso glaubwürdiger sind Romanfigur und Autor heute. Denn das Erzählen selbst als Lebens- und Überlebensmittel steht im Zentrum dieses Romans. "Ich bin noch nicht gestrandet, sagte ich würdevoll, ich bin noch unterwegs", heißt es in der ersten Phase der Geschichte. Am Ende, d.h. nach dem Tod der geliebten Zimmerwirtin Fernanda Henningör, heißt es in einem Abschiedsbrief:  "Wo ich jetzt bin, gibt es keine Zufahrtsstraßen mehr, auch kein Wegerecht und keine Besuchszeit. Dennoch bin ich nicht allein, sondern gut aufgehoben". In Himmelreich eben, an der Grenze zum Kitsch vielleicht auch zuweilen, oder in dem Begriff "Heimat". Wohl dem, der etwas hat, was die Erinnerung lohnt. Das nämlich kann uns niemand mehr nehmen.
Was ist das jetzt: ein Bildungsroman, ein Schelmenroman, ein autobiographischer Roman? Wohl nichts von all dem und doch all dieses zugleich. Auf jeden Fall eine heitere, tief menschliche Lektüre voller Verständnis für ein Dasein, das so gar nicht zu meistern ist. Dieses Buch ist mit Esprit geschrieben, aber auch mit Herzenswärme, Poesie und einem untrüglichen Sinn für skurrile Volten des real existierenden Lebens.






Sonntag, 12. Mai 2013

"Wir sind Murat Kurnaz": Zwei neue Bücher von Navid Kermani

Das erste ist länger liegen geblieben als ich wollte, und beim Lesen des zweiten Buches wurde  mir klar, wie viel die beiden miteinander zu tun haben, obwohl der erste Augenschein das nicht vermuten lässt. Also stelle ich sie hier in dem Zusammenhang vor, in dem ich sie wahrnehme:

Navid Kermani: "Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime.", Verlag C.H. Beck München, 2009, 173 Seiten, 16,90 € - und
Navid Kermani: "Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt", Verlag C.H. Beck München, 2013, 253 Seiten, 19,95 €

Der Reihe nach: "Wir sind Murat Kurnaz" heißt ein zentrales Kapitel in dem Buch "Wer ist wir?", wo Kermani beschreibt, wie und warum deutsche Politiker und Richter (auch Teile der Presse) genau jene Grundprinzipien des Rechtsstaates verletzt haben und immer noch verletzen, die sie verteidigen sollen. Er weist darauf hin, dass das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen, Ethnien und Religionen nirgendwo konfliktfrei verläuft. Er verlangt das auch nicht. Aber er zeigt am Fall des deutsch-türkischen Bremers Murat Kurznaz, worum es geht: "Murat Kurnaz muss niemandem sympathisch sein. Sympathie darf überhaupt keine Rolle spielen. Er hat Rechte, Menschenrechte, die nicht verhandelbar sind und nicht von seinem Aussehen, seiner Religion oder seiner Reiseroute abhängen." Kurnaz war gerade mal 19, als er im November 2001 in Pakistan verhaftet und gegen Kopfgeld der US-Army überstellt wurde. Er saß über 5 Jahre in Guantanamo und wurde gefoltert, obwohl seit 2002 feststand, dass er unschuldig ist. Die damalige Bundesregierung und speziell Frank-Walter Steinmeier (SPD) haben aus Angst vor Islamisten dafür gesorgt, dass seine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland nicht verlänger wurde. So eine Schande darf nicht in Vergessenheit geraten, sondern muss Motiv für eine neue Politik sein.
Karmani begründet dies als Verfassungspatriot überzeugend und zugleich unterhaltsam. Urkomisch erklärt er z.B., warum er vom Jahrespreis der Helga- und- Edzard- Reuter-Stiftung ein altes, denkmalgeschütztes Haus in seiner Heimatstadt kaufen möchte: "Hätte ich ein Haus in Isfahan, würden unsere Freunde aus dem Westen es nutzen, sie würden die Stadt besuchen, eine Zeitlang dort leben und ihre westliche Kultur gerade dadurch verbreiten, dass sie die Größe der lokalen Kultur entdecken". In Isfahan leben Muslime, Juden, Christen, Zoroastrier und Bahai, die fünf verschiedene Sprachen sprechen. Aber trotz der Intoleranz, die vor allem die Angehörigen der Bahai-Religion nach der islamischen Revolution erleiden, bestimmt doch immer noch der sehr kölsche Grundsatz das Lebensgefühl, dass "jeder Jeck anders ist". Trotzdem werden die schönen alten Häuser reihenweise abgerissen, teils aus Geldmangel, teils aus schlichter Ignoranz gegenüber der eigenen Kultur und Geschichte. Das kommt Ihnen bekannt vor?  - Soll es auch, und so ist es auch gemeint!
Kermani ist ein Muslim mit zwei Pässen und lebt im Kölner "Türkenviertel" Ehrenfeld, das ich während meines Studiums noch als Arbeiterviertel kennen gelernt habe. Seine gesprochene Muttersprache ist Persisch, seine schriftliche Deutsch, und die Poesie, mit der er aufwuchs, klingt spanisch, denn sie stammt von Pablo Neruda. Schon allein dafür könnte ich diesen Mann umarmen, aber außerdem hat er auch noch Witz. Über seine Frau sagt er, sie sei eine Aserbaidschanerin bzw. "türkische Iranerin", also eine Türkin mit iranischem Pass: "Ich kann vor solchen Doppelidentitäten nur warnen. Da besuche ich die Familie meiner Frau in Teheran, und meinen Sie, ich würde ein Wort verstehen? Die sprechen dort alle türkisch. Mitten in Teheran. Abgründe der Reformunfähigkeit tun sich auf. Eine erschreckende Parallelgesellschaft, vollständig integrationsresistent". Das sollte man Thilo Sarrazin und Claudia Roth mal unter die Nase reiben!
Wie Kermani eine Bürgerversammlung in Ehrenfeld zum Thema "Moscheebau" beschreibt, ist Demokratie- und Integrationsunterricht pur. Und eben davon, nur mit dem Blick in die große Welt der religiösen und ethnischen Koflikte, handelt auch das zweite Buch, Kermanis gesammelte Reportagen über eine Welt im Ausnahmezustand. Ob er die brutal niedergeschlagene Revolte der iranischen Jugend gegen die Wahlfälschungen von 2009 beschreibt, die antimuslimischen Pogrome und Massaker im indischen Bundesstaat Gujarat, den Kaschmitkonflikt oder eine Reise zu den Sufis im angeblich vom Steinzeitislam beherrschten Pakistan: Kermani geht hin, wo es Fragen gibt. Er bohrt nach, wo es unbequem wird, und tritt unermüdlich für die Unteilbarkeit von Grundwerten wie Demokratie und Menschenrechte ein. In Afghanistan, wo auch die abziehende Bundeswehr dabei ist, ihre Helfer und Dolmetscher hilflos der Rache der Taliban zu überlassen. In Syrien, wo das Outsourcen des Terrors und die Stellvertreterkriege um die Macht im ganzen Nahen Osten das Volk bei lebendigem Leibe zerreißen, während die Welt zuschaut und Veto-Mächte der UNO ihre Hände in verlogener Unschuld waschen.
Oder auf der italienischen Insel Lampedusa, wo sich die ganze Doppelzüngigkeit einer EU offenbart, die das Ideal offener Grenzen verkündet und zugleich die brutale Gewalt der gemeinsamen FRONTEX-Truppe beim Umgang mit Bootsflüchtlingen aus Afrika nicht verhindert. An dieser Grenze sind inzwischen mehr Menschen gestorben als an der Schandmauer zwischen DDR und Bundesrepublik. In Palästina, wo der gemeine Gutmensch schon lange kapituliert vor den Tsunamis aus Hass und Gewalt zwischen Juden und Arabern, die sich gegenseitig nicht mehr als Menschen wahrnehmen. Unsere alte, aus historisch schlechtem Gewissen her rührende Israel-Solidarität bröckelt vor Kermanis Blick ebenso wie das Verständnis für jede Toleranz gegenüber der Intoleranz. Die Hamas ist zwar im Gaza-Streifen demokratisch an die Macht gekommen, verhält sich jedoch undemokratisch. Wie finde ich da eine ethische Position, ohne die eigenen Standards zu verletzen?
Deutschland und Europa als Paradies der Elenden und Verfolgten oder als "Festung": der rechte Weg liegt in der Mitte zwischen diesen beiden Vorstellungen. Wir sind Einwanderungsland und Einwanderungskontinent. Die Frage ist nur, wie wir damit umgehen. "Lupenreine Demokraten" dürfen eben nicht alles, das wissen wir schon seit Putin und Berlusconi über die politische Bühne toben. Dass "der Westen" mit gespaltener Zunge spricht und seine Repräsentanten in Wirtschaft und Politik permanent anders reden, als sie handeln, hat uns "Westlern" ja den Hass vieler Muslime erst eingebracht. Navid Kermani ist Westler und Musilim zugleich. Er schreibt keine einfachen Bücher mit einfachen Lösungsvorschlägen wie Thilo Sarrazin oder Olaf Henkel. Das will er auch nicht. Er hilft uns, genauer hinzuschauen. Das ist sehr wichtig in diesem Land. Aber wie er das macht, das ist auch eine Bereicherung für unsere Literatur. Unbedingt kaufen und lesen!!!

Vom Bosporus ins Neue Schloss Stuttgart: Türkische Klassik

Halil Ibrahim Yüksel (vorn) und seine Musiker aus Stuttgart und von der Ägäischen Universität Izmir
"Harmonie der Kulturen" hieß das Konzert, aber es war ein türkisches Klassik-Programm auf hohem Niveau, das der Stuttgarter Verein für Bildung, Kultur und Musik (BKM) gestern (11.05.2013) ins Neue Schloss brachte. Drei Stunden lang wurde ein historischer Querschnitt durch die klassische Chor- und Instrumentalmusik der Türkei geboten: Vom Morgenlied eines mittelalterlichen Minnesängers über romantische Kunstlieder des 18. und 19. Jahrhunderts über Sufi-Gesänge und traditionelle türkische Pilgerlieder (Illahis) bis hin zu erlesener Neuer Musik in großer Besetzung von hierzulande nahezu unbekannten Komponisten wie Johann Krieger, Resat Aysu, Kemani Sebuh Aga und Ihsan Özer.
Gewöhnungsbedürftig für europäische Ohren war das Wenigste: Meist hatte Yüksel Stücke ausgesucht, die sich auch füruns durch besonderen Wohlklang auszeichnen und die komplizierte türkische Achtelton-Musik nicht ins Extrem treiben. Nein, das war wirklich schöne und nur teilweise für den deutschen Klassikfreund fremdartige Musik (meist dort, wo arabische Einflüsse hörbar wurden). Vor allem die Instrumentierung ist interessant: Zu Celli, Geigen und Klavier kommen in der türkischen Klassik offenbar immer Lauten (darunter die exotisch wirkende Langhals-Laute Oud), eine Rohrflöte, deren herbe Melancholie den Klang antiker Hirtenflöten assoziiert, eine sehr intensive und klangschöne "türkische Geige" und Handtrommeln, deren virtuose Handhabung immer wieder überrascht.
Die Vielfalt dieser Musik in einem baden-württembergischen Barockschloss zu erleben, hatte seinen ganz besonderen Reiz. Der Chor des BKM und der Ägäischen Universität mit Yüksels Instrumentalmusikern nutzen die intensive Probenarbeit  auch für einen Workshop mit Musikstudenten an der PH Ludwigsburg am Montag, dessen Ergebnis sie am Abend in einem gemeinsamen Konzert vorstellen.

Montag, 6. Mai 2013

Totentanz: Israel Galvan mit "Lo Real" in Ludwigsburg

Israel Galván
Ein Sänger des Cante Hondo taucht erst später auf. Zuerst ist der Tänzer allein. Er tanzt eigentlich nicht. Er kämpft. Zum Beispiel mit einem zerstörten Klavier, dessen Saiten sich später zum KZ-Zaun wandeln, mit Erinnerungen, mit Albträumen. Israel Galván ist ein Tänzer, der den Flamenco nicht im herkömmlichen Sinn zeigt, sondern als Steinbruch, als Mittel zu einem neuen Zweck einsetzt. Seine Körpersprache ist minimalistisch und ausdrucksstark. Da leidet jemand. Er tanzt erzählend. Er berichtet nicht in chronologischer Folge, sondern in losen Szenen und starken Bildern von den Wurzeln des Flamenco im Leid. Im Schrei. In Qual und (meist vergeblicher) Sehnsucht.
Zu Beginn begleitet Galván, der Roma aus Triana, sich selbst mit diesem Klavier. Er nimmt Posen des klassischen Flamenco ein, macht dessen Schrittfolgen, führt aber nichts zu Ende. Bricht ab. Setzt wieder an. Wie auch der Gitarrist Juan Gómez "Chicuelo", später die Sänger Tomás de Perrate und David Lagos, der Saxophonist Juan M. Jiménez, die Geigerin Eloísa Cantón, Antonio Moreno am Schlagzeug. Ihre Geschichte ist die Geschichte der Roma und ihr Leidensweg - Jahrtausende lang, aber mit einem Höhepunkt in den Vernichtungslagern der Nazis. Leni Riefenstahls Film darüber wird eingeblendet. Szenen überlagern sich wie Zwiebelschalen, in denen Galván sich mit ungeheurer körperlicher und mentaler Disziplin zum Instrument dieses Cante Hondo macht: Hände, Arme, Füße, Beine, Rücken und Schädel. Der Mann tanzt im Sinn des Wortes "von Kopf bis Fuß", mit einer Intensität, die schon beim Zuschauen schmerzt.
Musik, Tanz und Tod sind einander nirgends näher als im Flamenco, und das zeigt dieser Abend überdeut-lich. Der "Nazi im Herzen" - das ist nicht nur der Song "Hitler in My Heart" der US-Band Antony and The Johnsons. Das ist auch das Spanien der Falange, das zum Teil heute noch lebt. Das sind die Guardias Civiles, die einen wie Federico García Lorca umgebracht und im Straßengraben verscharrt haben, damit ihn bloß niemand ehrenvoll begraben ind anständig betrauern kann, diesen schwulen Theaterschreiber. Von denen hat jeden ein bisschen Hitler im Herzen.
Aber damit sind wir Deutschen nicht aus dem Schneider. Auch die Ghaddafis und Assads der arabischen Welt nicht, die Juden, Sinti, Roma und Christen von Mossul bis Teheran, von Beirut bis Tanger diskriminieren, quälen, verfolgen, verjagen und umbringen. Was Israel Galván vortanzt, geht weiter. Arbeitet durch seine Bilder auch in den Köpfen weiter. Der "Tange de la muerte", der Todestango ist ein Fandango, ein Flamenco, dessen Bilder und zuckende Tanzbewegungen im KZ spielen. Mit verrenkten Gliedmaßen, pochendem Schädel, pumpenden Lungen, rasendem Herzen, schweißnass.
Nie habe ich die "Todesfuge" von Paul Celan auf Spanisch gehört, nie so eindringlich gehetzt, so erlitten, so auf der Flucht, so authentisch erlebt wie hier auf der Bühne im Forum am Schlosspark Ludwigsburg an diesem Samstag, dem 4. Mai 2013. Das war der erste große Höhepunkt der Ludwigsburger Schlossfestspiele in diesem Jahr. Den wird man sich merken, weil es gar nicht anders geht. Die Sänger, und zwei Tänzerinnen (Belén Maya und Isabel Bayón), die hierzulande niemand kennt, unterstützen, variieren mit eigenen Klangfarben und Bewegungsmustern kongenial diesen Flamenco.
Der Cante Hondo erhielt an diesem Tag eine neue Bedeutung: Ein Schrei aus tiefster Seele ist das, aber einer in Bewegung, ein Totentanz. Mal verjazzt, mal geschreddert, mal zum Heulen schön, aber nie war Flamenco authentischer, schrecklicher. Das war kein Flamenco, wie man ihn den Touristen in Andalusien vorsetzt. Das war ganz und gar neu und großartig. Denn es hat die ur-andalusische Ausdrucksform des Flamenco von der Folklore befreit und dem Leid der ganzen Welt geöffnet.






Sonntag, 5. Mai 2013

Gregorianik beim interreligiösen Chorlabor der Bachakademie Stuttgart


Warm Up mit einem Kinderlied: am Klavier Bernhard König
Sonntag, den 5. Mai 2913: beim Chorlabor der Bachakademie Stuttgart geht es um

Alte und Neue Musik zu Pfingsten

Leitung: Christian Schmid und Bernhard König




In den ersten drei ersten Workshops ging es um Musiktraditionen des Judentums und des Islams. Diesmal folgte das erste Chorlabor mit einem christlichen Schwerpunkt. Unter der Leitung des Domkantors und Dirigenten Christian Schmid (St. Eberhard, Stuttgart) arbeiteten die Teilnehmer an Beispielen für den Gregorianischen Choral, die älteste überlieferte Form christlicher Kirchenmusik. Als Warm Up diente ein interreligiöses Kinderlied, das Bernhard König frisch von der "Tübinger Libretto-Werkstatt" des TRIMUM-Projekts mitgebracht hatte. Eine Hörprobe gibt´s ebenso wie das "Kyrie" aus der Missa de Angelis auf meinem Podcast - noch sind die Schwierigkeitsgrade überschaubar:

 widmar-puhl.podspot.de

Christian Schmid
In Christian Schmid hatte Bernhard Knönig dann einen Fachmann gefunden, der spannend aus der Musikgeschichte erzählen konnte. Dann aber ging es unter seiner Anleitung richtig zur Sache. Nach einigen leichteren Übungen wurde an den Gesängen zur Pfingstmesse nach der Handschrift von St. Gallen gearbeitet- "und das ist richtig schwer", gab der verständnisvolle Lehrer zu. In der Entstehungszeit dieser Musik (600-800 n-Chr.) existierte noch keine richtige Notenschrift, sondern nur eine grobe "Quadratnotation". Daher wurden die behelfsmäßigen Notenpunkte mit zahlreichen "Neumen" versehen - kurzen, oft kryptisch wirkenden Zusatzzeichen über den Notenpunkten, die Angaben zu Längen, Dehnungen, aufsteigenden oder absteigenden Sequenzen etc. darstellen.
Das ist eine Wissenschaft für sich, denn es gilt immer gleichzeitig die Neumen und die eigentlichen Noten im Auge zu behalten. Da heißt es dann: hören, üben, wieder hören und wieder üben, bis man lernt, die Melodie mit den Ohren und die Feinheiten mit dem Auge zu verfolgen. Und als ob das nicht schon genug wäre, hatte auch noch jede Region Europas ihre eigene Schreibweise, ihre eigenen Überlieferungs- und Intonationsdetails. In solchen Unterschieden kann man sich durchaus verlieren - und auch die Übersicht. Verständlich daher das Einigungsstreben der Päpste und Kaiser im Heiligen römischen Reich deutscher Nation - auch wenn die nicht gerade musikalisch aufgefallen sind.

Das Mittelalter war eine Zeit, in der die Entwicklung der christlichen und der islamischen Sakralgesänge aus jüdischen Vorläufern noch deutlich -und hörbar - gemeinsame Wurzeln zeigt. Man kann also das eine kaum ohne das andere denken und singen. In diesem Wissen ging es in die Mittagspause - traditionell schon mit einem Büffet aus christlich, jüdisch und islamisch geprägten Küchen. Die Pause verkürzte sich durch diverse dokumentarische Pflichten erheblich, und so fanden die letzten Interviews schon wieder vor dem Hintergrund einer lebhaften Klangkulisse statt. Immerhin: Der harte Kern der Sänger ist so schnell weder durch einen Wechsel der Sprache noch der Umgebungslautstärke zu erschüttern. Viele haben auch schon Erfahrung mit kulturell gemischten Chören.
Vom Ältesten war der Weg zum Neuesten nicht weit: Gerade das Pfingstfest hat viele zeitgenössische Komponisten dazu inspiriert, nach neuen Klängen und Gesangsformen zu suchen. Der Komponist und Trimum-Projektleiter Bernhard König brach am Nachmittag in das Neuland einer »experimentellen Chormusik«auf .Und wieder war erstaunlich, wie leichtfüßig ihm der Chor dabei folgte. Die Suche nach einer Sakralmusik, die wirklich tauglich ist für den Praxistest in Synagoge, Kirche und Moschee, könnte gerade hier am besten vorankommen.

Mittwoch, 1. Mai 2013

Spielte wie im Rausch: Khatia Buniatishvili in Stuttgart

Khatia Buniatishvili in Stuttgart
Da hatte sogar der Musikkritiker der Stuttgarter Zeitung Mühe, den richtigen Ton für seine Lobeshymne zu finden. Frank Armbruster wählte Ausdrücke wie "berauschende Intensität", "schier unfassbar" und "bravourös", um die Steigerung zu beschreiben, die das Publikum bei diesem Klavierabend erlebte und die auch ihn ergriff. Darf man ja wohl mal sagen. Khatia Buniatishvili spielte am 28. April in der Stuttgarter Liederhalle: wirklich ein unvergesslicher Sonntag Abend.
Chopin ist schon etwas anderes als Liszt, Strawinsky oder gar Prokofjew, da ist schon melancholisches Gefühl gefragt, Zartheit vielleicht gar, auf jeden Fall weniger Wucht und mehr Sanftheit. Und in der ersten Hälfte spielte Khatia Buniatishvili Chopin: die Klaviersonate Nr. 2 b-Moll, die 4. Ballade und die Polonaise A-Dur des französischen Polen. Zurückgenommen hat sich die junge Georgierin nicht dabei, aber durch kluge Zusammenstellung des Programms in der Tat ein Crescendo aufgebaut, das man guten Gewissens unglaublich nennen darf. Fast schüchtern trat sie auf und reagiert fast wie fassungslos auf den rauschenden Beifall des Publikums, der zum Ende in stürmische Ovationen überging.
Dieses Konzert war wie Sex mit dem Flügel vor 1000 Leuten: totale Hingabe, rasende Leidenschaft, kreative Lust; ein langsames, aufmerksam tastendes, darum nicht weniger intensives Vorspiel, und dann ein hemmungsloser Höhepunkt nach dem anderen. Schon bei der Chopin-Polonaise ging das so. Und wenn sich nach der Pause jemand gefragt haben sollte, ob man solche Höhenflüge wiederholen oder gar übertrumpfen könnte, gab es eine klare Antwort. Die Zuhörer bemerkten schon bei den Liszt-Bearbeitungen der drei Schubert-Lieder "Ständchen", "Gretchen am Spinnrade" und "Erlkönig", wie sich inniger Gefühlsausdruck zu atemlose Leidenschaft steigerte. Sie dankten der Künstlerin mit wachsender Begeisterung. Drei Sätze aus Strawinskys "Petruschka" waren dann wie ein Fest des musikalischen Temperaments und der Sinnenfreude, vergleichbar höchstens noch einem furiosen Solo im Free Jazz: hinreißend.
Selbst die Zugaben waren ein aufmerksames Echo auf die Blumensträuße, die Kathia Buniatishvili erhielt: ein Satz aus der Bach-Kantate BWV 208, der 3. Satz aus der 7. Klaviersonate Prokofkews und zum Abschied ein selbst arrangiertes georgies Wiegenlied. Schade, dass sie gleich weiter musste zum nächsten Termin und deswegen keine Signierstunde mehr möglich war. Dieser Klavierabend hat sich den Stuttgarterns ins Gedächtnis gebrannt.

Lyriktag im Stuttgarter Schriftstellerhaus

Die Teilnehmer (von links ober nach rechts unten): Irma Rommel, Manfred Bartsch, Widmar Puhl, Eva Christina Zeller und Wolfgang Brenneisen, der hier auch fotografiert hat und schöne Collagen macht, wie man sieht.

Am Samstag, den 23. April war wieder ein scheußliches Wetter in Stuttgart, aber 5 Lyriker trafen sich dennoch im Schriftstellerhaus. Zweck der Übung: sich bei Kaffee und Kuchen aus dem benachbarten Café Nast neue Arbeiten vorzulesen und in wohlwollende-kritischer Gegenseitigkeit zu "putzen". Das ist inzwichen eine Tradition, die vor über 20 Jahren mit Seminar der Bertelsmann-Stiftung unter der Leitung von Johannes Poethen und Jochen Kelter begann.
Seitdem treffen sich diese "Süchtigen" alle sechs Monate aus eigenem Antrieb wieder. Was sie zu dieser Form der literarisch-sozialen Fellpflege motiviert, ist zum einen der rundum verbürgte Sachverstand und zum anderen auch ein Vertrauen, das in vielen Jahren des gegenseitigen Respekts und der Sympathie entstanden ist. Das kann kein noch so professionelles Seminar der aktuellen Poetik bieten. Das ist ein so genanntes Alleinstellungsmerkmal in diesem Haus. Denn natürlich könnten wir uns auch in jedem Café treffen (das haben wir auch zwischendurch immer wieder getan), aber es ist nicht dasselbe: Kellner stören mit wohlwollenden Fragen, der Geräuschpegel im Hintergrund wird doch oft sehr vordergründig, und wenn man sich laut etwas vorlesen will, ist auch nicht jeder Kaffeehausbesucher davon begeistert. Nein: Hier kann man einfach gut arbeiten - ungestört und doch mitten im Getriebe der Großstadt, direkt beim U-Bahn-Station Charlottenplatz.
Wolfgang Brenneisen hat uns bei seiner Bildcollage einfach mal auf die Glasfassade des Kunst-Kubus am Schlossplatz montiert. Ich finde das nett, weil ja noch niemand weiß, wie gut wir uns da machen würden. Und man kann auch nie wissen, wie lange das noch möglich ist, seit gestern die Verwaltung von Schloss Sanssouci in Potsdam Blogger und freie Fotografen aufgefordert hat, alle Fotos von Schloss und Park aus dem Netz zu entfernen. Dummerweise stützt sich das auf ein Gerichtsurteil.
Das ist das jüngste und vielleicht krassteste Beispiel für die zunehmende Zahl von Versuchen, die Pressefreiheit und das Urheberrecht von Fotografen im öffentlichen Raum einzuschränken. Da findet eine Umdeutung statt, die ohne gewisse hirnlose Juristen gar nicht möglich wäre. So etwas trifft uns auch als Autoren und deshalb bellen wir - laut! Es ist wohl so: ein Winkeladvokat findet sich im demokratischen "Rechtsstaat" für jede Rechtsverdrehung, und sei sie noch so skurril! Die Freiheit, anderen Leuten auf so dreiste Weise ihre Freiheit zu nehmen, sollte bei uns niemand haben. Wir leben ja nicht in Ungarn, und auch da regen sich die Leute zu Recht über die verrückten Angriffe auf die Pressefreiheit auf. Übrigens: Die Tür geöffnet hat uns der gebürtige Ungar Akos Doma, derzeit als Stipendiat im Schriftstellerhaus und ein ebenso freundlicher wie begabter Romancier.