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Sonntag, 28. April 2013

Akos Doma las im Stuttgarter Schriftstellerhaus

Akos Doma (Mitte) mit unscharfen Damen

Über Lesungen schreibe ich selten, aber die Vorstellung von Akos Doma im Stuttgarter Schriftstellerhaus war doch ungewöhnlich. Der neue Stipendiat im Schriftstellerhaus Stuttgart und noch frische Chamisso-Förderpreisträger gab eine launige Kostprobe aus seinem Roman "Die allgemeine Tauglichkeit". Buch und Autor hätten mehr Publikum verdient gehabt, aber die kleine Schar von Interessierten hatte dafür mehr Gelegenheit als sonst, mit dem Urheber ihres gelungenen Abends Frage- und Antwort zu spielen. Doma wurde 1963 in Ungarn geboren, flüchtete im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern in den Westen und lebt als Übersetzer ungarischer Erzähler bzw. Autor in Eichstätt - da, wo Bayern in Franken übergeht.
Irene Ferchel, die Leiterin des Schriftstellerhauses (auf dem Foto links, leider bewegungsbedingt unscharf), stellte Doma launig und belesen vor, und der lutschte zwar im Kampf mit einer aufkommenden Erkältung ein Halsbonbon, sprach aber ungemein unterhaltsam, locker und souverän. Das heißt, zunächst einmal las er vor, aber auch das will gelernt sein. "Die allgemeine Tauglichkeit" ist eine Art moderner Schelmenroman über vier Arbeitslose, in deren Stadtrandidyll ein blonder Strahlemann mit Surfbrett eindringt. Der Neue ist zwar auch arbeitslos, entpuppt sich aber gleich als pedantischer Worcoholic und bringt das sozial-psychologische Gleichewicht der Männergruppe durcheinander. Als erstes macht er den Abwasch und putzt, und dann bleibt im weiteren Verlauf kein Auge trocken. Extrem unterschiedliche Lebensentwürfe prallen aufeinander. Diese Hartz-IV-Empfänger sind verdächtig aktive Verlierer oder besser kreative Arbeitsverweigerer. Und weil jeder ein ganz eigener Typ mit seiner sehr speziellen Geschichte, Kultur und Herkunft ist, wird der Roman auch gleich zur Sozialtypologie unserer Tage. Kein Buch der Theorien ist das, sondern eine Geschichte aus Fleisch und Blut mit Figuren zum Anfassen: sehr dialogisch geschrieben, stark in Bildern komponiert - und mit so viel Witz und Gesellschaftskritik, dass auch ein Fatih Akin vermutlich seine Freude daran hätte.
Ja, er könne sich das auch als Film vorstellen, erzählt Doma schmunzelnd, eine große Produktionsfirma hat die Rechte dafür bereits gekauft, aber vorerst kein Geld für die Produktion. Irgendwie typisch. Streckenweise ist der Abend also auch ein Hörspielabend, aber das schadet nicht im Geringsten. Denn wer hören kann, muss fühlen: da stellen sich existenzielle Fragen auf unterhaltsame Weise: Wie sollte man leben? Ist das ok. so, wie wir das in der Regel so momentan machen? Wie sollten wir miteinander umgehen? Es ist sein zweiter Roman. Der erste heißt "Der Müßiggänger" und erschien 2001 im gleichen Verlag. Da kommt Großes leichtfüßig daher, und das ist wirklich nicht leicht. Schön, diesen Mann drei Monate lang in der Stadt ztu haben. Er arbeitet jetzt an etwas neuem, in dem Frauen eine größere Rolle spielen sollen. Ich hoffe, wir sehen uns noch.
Akos Doma: "Die allgemeine Tauglichkeit", Rotbuch Verlag, Berlin, 270 Seiten, 18,99 €

Phantastischer Realität: "Wo Tiger zu Hause sind": ein Roman von Jean-Marie Blas de Roblés

Dieses Buch angemessen zu besprechen ist schwierig, denn es geht eigentlich nicht in Kürze. Nötig wären da sehr ausladende Erklärungen umfangreicher Verwicklungen bzw. Entwicklungen in drei Handlungssträngen und Zitate aus ganz verschiedenen Sprach-Ebenen: zum Beispiel einer Pseudo-Biographie über den Jesuiten, Universalgelehrten und Hochstapler Athanasius Kircher aus der Barockzeit oder der damit verschränkten aktuellen Kriminalgeschichte einer archäologischen Expedition in den Amazomasdschungel, die die von Banditen angegriffen wird, die im Auftrag der Betreiber eines unnötigen Staudammprojekts unterwegs sind. Die dritte Ebene wäre der einsame Journalist in einem brasilianischen Provinzkaff, dessen Tochter an der Expedition teilnimmt und der langsam, ganz langsam hinter diese beiden Geschichten kommt: Die Kircher-Biographie recherchiert er in Archiven, in die Story mit dem großkriminellen Landraub stolpert er über eine schöne Frau und eine Gruppe von Umweltaktivisten, die korrupte Großgrundbesitzer und Provinzpolitiker im Visier hat. Diese Seilschaften der Reichen und Mächtigen haben so ziemlich alle Gesetze gebrochen, um eben jenes Staudammprojekt auf Kosten der Amazonas-Indios und der kleinen Leute heimlich "unumkehrbar" zu machen. Stuttgart 21 lässt grüßen: So lernen wir eben hier, wie es die großen Zampanos in Bananenrepubliken schon immer gemacht haben. Nur ist dies hier ein Roman, weshalb die betrogene Ehefrau des Gouverneurs einen Strich durch dessen miese Rechnung macht. Sie hat das Geld und ihr schurkischer Mann bloß Schulden; sein Pech, dass sie ihm auf die Schliche kommt. Spannend ist das geschrieben und meisterhaft erzählt: ein Buch des Dschungels, der menschlichen Leidenschaften und Gemeinheiten, aber auch ein Buch über Liebe und Betrug sowie das Leiden an der irdischen Bosheit. Das Ganze in das Aroma des tropischen Regenwaldes getaucht und paniert mit Bildung und Sprachkunst, Poesie und Geschichte: dieser Roman ist wahrlich ein großer Wurf über den Sarkasmus der Oberklasse und die Not der kleinen Leute, aber auch über die Kraft der Phantasie. Nicht zimperlich (es gibt ziemlich viele Tote - auch solche, die einem Leid tun), nicht immer leicht verdaulich, aber eine lohnende und nachhaltige Lektüre.

"Wo Tiger zu Hause sind" - ein Roman von Jean-Marie Blas de Roblés, S. Fischer Verlag, Frankfurt /Main, 800 Seiten, 26,99 €

Hübscher Episodenroman: "Das Schwein unter den Fischen" von Jasmin Ramadan.

Eine exaltierte nymphomanische Tante, eine versoffene Stiefmutter mit Hang tur Esoterik, ein kettenrauchender Schlaumeiervater und eine Katze, die sich an Zwiebelmett in Papas Imbissbude zu Tode frisst: Stine alias Celestine hat´s nicht leicht beim Erwachsenwerden. Sie ist durchaus klüger und zivilisierter als ihre durchgeknallte Familie. Und die Stationen ihrer durchaus nicht gradlinig verlaufenden Emanzipation haben neben Witz auch stellerweise überraschenden Tiefgang. "Das Schwein unter den Fischen" von Jasmin Ramadan ist der Episodenroman der Generation facebook, aber da steht auch viel über deren Umgang mit älteren Menschen drin - durchaus, durchaus. Schön ist das nicht immer geschrieben, aber komisch und ehrlich und traurig  - ganz wie das echte Leben. Stilprobe: "Es war am Morgen meines dreizehnten Geburtstags, als Ramona eine Tiefkühltorte föhnte und sich plötzlich auf den Boden warf: Pass auf, Stine, ich zeig dir jetzt mal, wie das mit den Tampons geht". Man kann sich denken, dass allerhand ulkige Verrenkungen folgen, gymnastische wie verbale. Wenn Jasmin Ramadan, diese junge deutsche Frau mit einem Vater aus Ägypten, so weiter macht, kann das noch was ganz Großes werden. Auf dem Weg dort hin ist sie schon: Ihr Debüt war "Soul Kitchen", und nach diesem Roman drehte Fatih Akin immerhin einen Kino-Hit. Stines Irrungen und Wirrungen sind anders, weil es da keine durchgehende Paarbeziehung oder Freundschaft gibt. Das Personal wechselt - oder Romanheldin Stine hält es sich auf liebevolle Weise vom Leib. Anders kann man ja gar nicht auf eigene Beine kommen.
"Das Schwein unter den Fischen": ein Roman von Jasmin Ramadan, Klett-Cotta Verlag Stuttgart, 272 Seiten, 17,95 €

"Die Nachtwandlerin" von Bellini in der Stuttgarter Oper: schöne Musik, bekloppte Regie

2012 war "La Somnambula" von Vincenzo Bellini die Stuttgater Opernaufführung des Jahres, aber erst für die gestrige Aufführung bekamen wir Karten. Ich muss trotzdem sagen: Musikalisch hat sich das Warten gelohnt, auf die Inszenierung hätte man auch verzichten können. Das Stuttgarter Staatsorchester unter der Leiung von Gebriele Ferro, der Chor und die Sänger waren großartig. Allen voran Ana Durlovski als somnambule Amina, Luciano Botelho als ihr Liebhaber Elvino und Enzo Capuano als Graf sangen und spielten überzeugend, kraftvoll, traumwandlerisch sicher und sensibel. Sehr gelungen auch die wunderbaren Ensemblenummern.
Die Regie von Jossi Wieler - auch so ein Hätschelkind der Stuttgarter Feuilletons - hätte ich dagegen voll in die Tonne getreten. Wieler sieht seine Aufgabe anscheinend grundsätzlich darin, Orchester und Publikum ein bisschen zu ärgern, damit man sich bloß keinem ungerechtfertigt romantischen Kunstgenuss hingibt. Diesmal hatte er die Bühne mit Klapptischen und Klapp-Bänken aus einem Biergarten für die geplante Hochzeit möbliert, und die Sänger durften die Ausstattung mehrmals geräuschvoll auf- und abbauen - klar, ist ja ihr Job; ohne Multitasking wird man heute dank solchen Schwachsinns auch bei der Oper nichts mehr. Ich bewundere nur den Dirigenten Gabriele Ferro, der mit Engelsgeduld bei jedem größeren Knall oder Rumpelgeräusch eine Pause machte, die halt so nicht in der Partitur steht. Aber Klappmöbel gehören ja auch nicht zum Instrumentarium eines Orchesters - noch nicht. Jossi ille Wieler möchte das wohl ändern, und manche Feuilletonisten verwechseln solche Kindereien anscheinend nachhaltig mit künstlerischer Avantgarde. Da sei die Musik vor!
Bis auf diese (zugegeben: in Maßen) destruktive Idee hatte seine Regie nichts zu bieten, was über gepflegte Langeweile hinausging. Der Chor stand und saß statisch herum, wenn er nicht gerade länglich auf- oder abmarschierte bzw. Möbelpacker spielte. Und für den Umbau des Sofas im Festsaal zum vermeintlichen Lotterbett für den Grafen und Amina wurden dann doch ensemble-fremde Möbelträger engagiert - dabei hatten die Sänger doch eben an Tischen und Bänken bewiesen, dass sie´s genauso gut können. Unmotiviert geht es bei Wieler besonders gern zu; zum Beispiel: wo kommt das blutige Bettlaken her, wenn Amina doch unschuldig ist und gar kein Geschlechtsverkehr stattfand? Blut macht sich eben immer gut, denkt wohl der Mann.
Aber damit er nicht meint, ich hätte nichts Gutes an seiner Arbeit gesehen: Richtig witzig (leider die einzige Ausnahme) war die pantomimische Einlage des Chors, der nach dem Eklat - Amina schlafend in seinem Bett, er im Schrank - als dörflicher Mob die Koffer des Grafen filzt, wobei einige seiner Accessoirs den Besitzer wechseln. Insgesamt aber: Mehr als Schnaps trinkende Dörfler hatte Jossi Wieler nicht vorzuführen. Und diese tumben Saufnasen sollen so musikalisch sein? Klappe zu, Affe tot. Der Applaus war riesengroß, aber gewiss nicht für den Regisseur. Ach, Jossele!

"Nabucco" in der Stuttgarter Staatsoper: Super

Die Oper "Nabucco" von Giuseppe Verdi kennt jeder, das Stuttgarter Opernhaus auch. Nicht kannte ich die Inszenierung von Rudolf Frey, und die war sehr schön. Was das Orchester unter der Leitung von Giuliano Carella, der Chor und die Solisten ablieferten, fand ich im Gegensatz zur "Stuttgarter Zeitung" super. (Meine Frau übrigens auch, die eigentlich mehr von Opern versteht als ich, obwohl auch ich ganz gute Ohren habe). Die Aufführung am 12. April war ein Hochgenuss.
Es ist seltsam und auffällig: Die Kritiker der STZ haben irgend eine Art von elitärem Avantgarde-Fimmel. Wenn Musik nur einfach schön klingt, auf der Bühne alles eine nachvollziehbare Ordnung hat und beides zusammen passt, kriegen die Tobsuchtsanfälle. Was den Leuten gefällt, treibt ihnen Schaum vor den Mund. Den totalen Verriss in der Zeitung noch vor Augen, warteten wir die ganze Zeit über vergeblich auf Skandale, Hänger, Patzer oder eklatante Schwächen - nichts. Zum Kotzen, das muss der Kritikerriege mal gesagt werden, fand ich bloß deren ungerecht mäkelige, nicht nachvollziehbare Häme. Und dafür kriegen die auch noch Freikarten!

Samstag, 20. April 2013

Er will doch nur spielen

Thomas Wördehoff

Ein Treffen mit Thomas Wördehoff, Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele

Gestern stand in der "Stuttgarter Zeitung", Thomas Wördehoff werde vielleicht Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele bleiben. Als ich ihn dann am späten Vormittag zu einem persönlichen Hintergrundgespräch in Stuttgart treffe, findet er, die Kollegen von der Zeitung hätten für seinen Geschmack zu dick aufgetragen - "Ich möchte das VIELLEICHT betonen".
Der stets gut gelaunte, aber durchaus ernsthafte Endfünfziger hatte am Donnerstag im Ludwigsburger Gemeinderat viel Lob für seine Arbeit eingeheimst - auch von Bürgermeister Spec, der dem Aufsichtsrat der Schlossfestspiele vorsteht. Und der weiß immer noch nicht so recht, was für ein Festival er eigentlich will. Nur dass er mehr Besucher will als zuletzt 31 000 - aber das kann man wohl kaum als inhaltliche Vorgabe bezeichnen.
Wördehoff, zuletzt Chefdramaturg der Ruhrfestspiele, hatte der alten Mainstram-Kultur á la Gönnenwein mit einem reinen Klassik-Festival und großen Namen eine Absage erteilt und war dafür vor einem halben Jahr noch fast hinterrücks von seinem Aufsichtsrat erdolcht worden. Der hatte die Fühler nach möglichen Nachfolgern ausgestreckt und war sogar mit Zusagen an die Öffentlichkeit gegangen, ohne mit Wördehoff überhaupt geredet zu haben. Als Hintergrund vermuten Eingeweihte die Experimentierfreude von Thomas Wördehoff, der als Schüler von Gerard Mortier keinen Augenblick geistig stillsitzen kann. Man wollte ihm die Pistole auf die Brust setzen und verlangte drastisch bessere Besucherzahlen, andernfalls sei 2014 das letzte Jahr seiner Amtszeit. Noch vor wenigen Monaten sah es so aus, als sei die die Kulturregion Stuttgart und Ludwigsburg der Weltoffenheit und Neugier dieses Mannes einfach nicht länger als fünf Jahre gewachsen.
Jetzt, wo die potenziellen Nachfolger einen Rückzieher gemacht haben, weil der Aufsichtsrat ihnen wahrscheinlich als seltsam schwankendes Gremium zu unzuverlässig war, ist anscheinend alles wieder offen: Wördehoff nicht nachtragend, der Aufsichtsrat froh, dass es ihn (zumindest noch) gibt. Tatsache ist ja auch, dass die Entwicklung des Publikums mit 30 Prozent Erstbesuchern und einer deutlichen Verjüngung des Publikums für die Zukunft Gutes verheißt.
Thomas Wördehoff hat nach unserem Gespräch ein Treffen mit einem Sponsor, und das ist in der jetzigen Lage der Festspiele und der Kulturpolitik besonders spannend. "Was ich in letzter Zeit bei allen Gesprächen mit Sponsoren spüre, ist vorwiegend Angst", sagt Wördehoff. Angst vor der Konjunktur, dem Finanzmarkt, der politischen Zukunft. Dabei geht es ihnen gut bis hervorragend. German Angst eben, eine Unsicherheit, die eher politisch zu verstehen ist. Dabei will Wördhoff bloß spielen. Er beißt nicht, er verweigert sich nur einem alleinigen Mainstream, der nebenan im Opernhaus und in der Liederhalle prächtig bedient wird. Er bringt nur ab und zu neue Leute mit ins Festival, die Musik anders spielen, auch mal schräg. Er zeichnet Ikonen gern einmal neu. Das war bei Gustav Mahler so oder Karl May, und das ist dieses Jahr bei Richard Wagner so. Das Dieter Ilg Trio wird mit jazzigen Phantasien Motive aus dem "Parsifal" so verändern, dass die Inspirationsquelle in den Hintergrund und ganz Eigenes hervor tritt.
Wördhoff holt Musiker wie Christian Muthspiel oder Mnozoil Brass nach Ludwigsburg, die witzig und ironisch mit dem multikulturellen Reservoire des Balkans und der alten österreichischen k.k. Monarchie spielen. Er hat übrigens seine Wohnung in Wien nie aufgegeben - "weil ich Wien als Rückzugsort brauche, wenn es mir hier mal zu eng wird". Wien sei besonders weltoffen. Ein Stück dieser Weltoffenheit bringt er mit in seine Sichtweise von Stuttgart und Ludwigsburg. Lange unterhalten wir uns über das Stadttheater, das laut Wördehoff so schön und so zentral liegt wie kein anderes auf der Welt - und dem man nicht ansieht, dass Claus Peymann und andere hier Theatergeschichte geschrieben haben.
Blick aus dem Café am Schlossgarten - leider war es zu kühl für draußen

Wir sitzen im Café am Schlossgarten, blühender Frühling und flanierende Menschen zwischen uns und dem Theater. Leider ist es an diesem Frühlingstag zu kühl für draußen. Der Winter war viel zu lang und die Sanierungspannen im Theater wollen wir auch nicht besprechen. Nur wenig weiter das Opernhaus am Eckensee und der Landtag, auf der anderen Seite die unsäglichen Baustellen und städtebaulichen Wunden, die "Stuttgart 21" geschlagen hat. "Auch das schreibt Geschichte, das Projekt und der Protest dagegen", meit Wördehoff. Hier im Schlossgartenhotel habe ich vor Jahresfrist noch Walter Sittler interviewt, der sich als Gegner des größenwahnsinnigen Projekts vehement für einen unabhängigen kritischen Journalismus einsetzt. Denn eine manipulierte Öffentlichkeit war ja entscheidend dafür, dass dieses finanzielle, juristische, für manchen Schwaben architektonische und politische Unglück überhaupt so weit gedeihen konnte. Nein, eigentlich seien die Schwaben schon sehr weltoffen, meint Wördehoff. Aber nicht unbedingt ihre Chefs, die über Sponsorengelder entscheiden.
Dabei war voriges Jahgr bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen die deutsche Erstaufführung von Gerard Mofrtiers Tanzproduktion "CHOERs" mit dem Teatro Real de Madrid zu sehen - mit singenden Tänzern und tanzenden Opernchören. Eine fulminante politische Großproduktion, die entsprechendes Aufsehen erregte. Die Linie setzt sich dieses Jahr fort, ohne dass sich das Interesse auf gleichem Niveau halten könnte. "Wahrheit" - eine Produktion des Teatro Real mit dem Tänzer und Choreographen Israel Galván, ist aus dem Flamenco Nuevo hervorgegangen, der die klassischen Traditionen dieser Musik- und Tanzschule erneuert und politisiert. Da kommt die Arabellion auf die Bühne, da kommen die Folterknechte von Bashar al Assad auf die Bühne, da fließt Musik aus Nordafrika, vom Balkan und Neue Musik ein.
Israel Galván ist Jude und thematisiert nun als Tänzer die Leiden des syrischen Volkes und überhaupt der arabischen Welt unter ihren Diktatoren, nicht etwa den Holocaust. Auch das ist eine hoch emotionale, hoch moralische Botschaft. Aber er steht allein auf der Bühne mit ein paar Gitarristen und einem Sänger des "Cante Hondo", der der im Flamenco für den tiefsten Ausdruck menchlichen Leids geschaffen wurde - der Blues Nordafrikas. Auch das ost ungeheuer spannend, aber eben eher Kammerspiel. - Und schwupps, sind die Kameras der öffentlich-rechtlichen Sender weg. Da lohnt es sich aber, hinzuschauen und hinzugehen.
Die Musik der Sinti und Roma aus Österreich-Ungarn, aus Deutschland und aus der Türkei ist ein weiterer Schwerpunkt des Festivals, dessen hinreißendes Potenzial erst zu entdecken, ist. Einer wie Wördehoff muss immer entdecken. Und wir können immer aufs Neue davon profitieren. Wir müssen keine Angst vor ihm haben, er will nur spielen. Auch Sponsoren müssen nicht fürchten, dass sie ihr Geld in irgend ein Bermudadreieck pumpen. Sie sollten wissen: Der will nur spielen. Und er wird ihnen zuverlässig immer neues Spielzeug anschleppen aus Musik und Theater, Literatur und Kunst. Er baut ständig Brücken und zeigt täglich neu, wie vielfältig Europas Kulturen sind. Diesen Mann brauchen wir in Ludwigsburg und Stuttgart unbedingt länger als nur bis zum Sommer 2014.

Montag, 8. April 2013

Interreligiöses Chorlabor III: Aleviten stellen sich vor

Sirin Üstün und ihre Musiker stellen mystische alevitische Gesänge vor
In der Internationalen Bachakademie Stuttgart ging am 7. April das interreligiöse Chorlabor im TRIMUM Projekt weiter. Dabei singen Juden, Christen und Muslime gemeinsam geistliche Musik unterschiedlicher Herkunft. Diesmal stellte Sirin Üstün mit traditionellen Musikern alevitische Musik vor. Und dabei wurde die zunehmende Komplexität der selbstgestellten Aufgabe noch deutlicher als bisher.
Die Unterschiede zu den türkisch-sunnitischen Pilgerliedern oder den extatischen Gesängen der Sufis sind mit viel gutem Willen für den musikalisch gebildeten Mitteleuropäer hörbar. Ob sie aber auch ohne weiteres umsetzbar sind? Diese Frage zu beantworten wird zunehmend schwieriger. Jede der bisher vorgestellten musikalischen Traditionen präsentierte den Sängern neue Ansprüche und Schwierigkeitsgrade - ganz abgesehen von den auch nicht gerade einfachen Sprachen Deutsch, Hebräisch und Türkisch.
Beispiel: Hat die christliche Kirchenmusik sich schon im Mittelalter von der einstimmigen gregorianischen Schola zu vielstimmigen Chorälen bzw. Chören entwickelt, so weist die jüdische Synagogalmusik diese Tendenz erst in der Moderne auf. Alte jüdische Lieder - sowohl bei Sefardim (den orientalischen Juden) als auch bei der anderen Tradition der mittel- und osteuropäischen Chassidim klingen die alten Gesänge deutlich anders und orientieren sich strikt an der Einstimmigkeit. Noch komplizierter ist es bei der muslimischen Musik: Statt unserer siebenstufigen Tonleitern in Ganztonschritten (die naturlich Halb-, Viertel-, Achtel- und Sechzehnteltöne einschließen) in Dur und Moll kennt die muslimische Musik grundsätzlich "nur" so genannten "Komma-Tonleitern", bei denen die meisten Tonschritte in Zehnteln gemessen und danach auch Tonarten benannt werden. Das ist so komplex, erklärte Ahmet Gül, dass ein Klavier, mit dem man diese Musik auch nur annähernd spielen könnte, über drei Meter breit sein müsste und damit technisch für menschliche Arme nicht mehr beherrschbar wäre. Diese Feinabstufungen SIND die orientalische Mehrstimmigkeit oder entsprechen der abendländischen jedenfalls. Da hat es einfach zwei gleichwertige Entwicklungen in unterschiedliche Richtungen gegeben.Und denen muss sich das Ohr der Sänger erst einmal anpassen. Ich stelle mich das ähnlich schwierig vor wie das Bearbeiten unterschiedlicher Rhythmen mit Händen und Füßen an einem Schlagzeug - nur eben ganz anders.
Sirin Üstün, Sängerin & Lehrerin

Als Sirin Üstün, die schon von Anfang an im Chorlabor mitsingt, die Musik ihrer alevitischen Tradition mit Musikern an traditionellen Instrumenten vorstellte, kam neben der Herausforderung des türkischen Textes und der "Komma-Tonarten" noch eine enorme Länge des Liedes und ein abrupter Tempowechsel hinzu.
Also blieb es in der ersten Etappe der Annäherung weitgehend beim aufmerksamen Zuhören auf der einen und einer Demonstration oder Hörprobe auf der anderen Seite. Ein paar eher schüchterne Durchgänge für die Sänger gab es zwar noch, aber da wird beim nächsten Workshop noch einiges zu tun sein. Vielleicht hätte man erst einmal die neuen Schwierigkeiten der ersten beiden Workshops sicher aufarbeiten sollen, bevor schon wieder Neues oben drauf kommt; aber wie Sirin Üstün sagt: "Der Spaß ist bei allen ungebrochen". Auch wenn gerade bei den deutschen Sängern manche an der Grenze ihres Fassungsvermögens waren - auch sie machen begeistert weiter.
Natürlich gab es wieder selbst Gebackenes und Gekochtes zu Mittag und zur Kaffeepause. Das gehört für viele der Aktiven einfach schon so dazu wie das Singen selbst.
Projektleiter Bernhard König hatte angesichts des enormen Lernstoffes eine geniale Idee mitgebracht: Nicht nur musikalisch stellt das Chorlabor hohe Ansprüche an die Teilnehmer, sondern auch theologisch-philosophisch. Nur kann man offenbar beim Nachdenken über theologische Prioritäten und bei der Suche nach Formen des gemeinsamen Singens, die dafür Freiraum lassen, die Schwierigkeiten unterschiedlicher Sprachen und Tonarten besser verarbeiten. So erschien es jedenfalls dem Beobachter. Ein christliches Lied mit dem Inhalt des Glaubensbekenntnisses aus dem Gesangbuch gab ein hervorragendes Beispiel dafür ab. Man konnte - jeder und jede für sich - sozusagen musikalisch ausruhen, um theologisch Position zu beziehen und diese auch philosophisch zu begründen.
So hat sich ein Verdacht bestätigt, den ich schon zu Anfang hatte: Hier lernen die Teilnehmer wesentlich mehr als "nur" in fremden Sprachen und Tonarten zu singen. Da lässt sich das Entstehen einer interreligiösen Familie beobachten - in großem Respekt voreinander, mit viel Humor und einer enormen Begeisterung für das Gemeinsame. Für mich ist es immer ein gutes Zeichen, wenn ich Menschen bei harter Arbeit häufig lachen höre. Und Arbeit war das - davon können alle wahrhaftig ein Lied singen.