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Freitag, 22. März 2013

Unser Fukushima liegt vor der Haustür


Jürgen Lodemann "Fessenheim", Klöpfer & Meyer Verlag, Tübingen, 148 Seiten

Eine Novelle ist eine "unerhörte Begebenheit", eigentlich im Stil einer Reportage geschrieben. Nun ist Reportage nicht gleich Reportage, aber wer jemals etwas von Egon Erwin Kisch oder "Das Erbeben in Chili" eines gewissen Heinrich von Kleist gelesen hat, weiß den Blick des engagierten, persönlich für seine Eindrücke haftenden Reporters zu schätzen. Fessenheim ist ein Kernkraftwerk auf der französischen Seite des Oberrheins. Und in seiner Novelle "Fessenheim hat der im Ruhrpott geborene Freiburger diese literarisch-journalistische Tradition mit unvergleichlicher Wucht wieder belebt. Lodemann war von 1965 bis 1995 Filmemacher beim Südwestfunk, hat vor Jahrzehnten die SWR Bestenliste erfunden als Gegengewicht zur Marktmacht der Bestsellerlisten und ist längst bekannt als Autor sprachmächtiger, sinnenfroher Romane. Sein neues Buch ist außerdem politisch und ökologisch hoch aktuell: Was passiert, wenn ein Tsunami aus dem Bodensee das Atomkraftwerk Fessenheim wegreißt – ausgelöst durch ein Erdbeben im Oberrheingraben? Penibel recherchiert, mit Wut im Bauch und glänzend geschrieben, ergibt sich daraus ein Schrecken gleich dem von Fukushima, nur vor der eigenen Haustür und um einiges gesteigert: "Mit seinen Fundamenten stand der atomare Ofen Fessenheim auf siebzig Zentimetern Beton und unter dem Normalspiegel des Rheinwassers. Das japanische Fukushima hatte auf sieben Metern Beton gestanden." Der Zeitungsleser erinnert sich schaudernd an die Aussage des ehemaligen französischen Ministerpräsidenten Sarkozy, am Rhein gebe es nun mal keine Tsunamis.
Die Flutwelle aus dem Bodensee reißt ja nicht nur Fesenheim in Fetzen, sondern spült die strahlenden Trümmer zusammen mit der Chemie der BASF in Basel und Ludwigshafen den Rhein hinunter: Europa wird beiderseits des sagenumwobenen Flusses zu einer Alptraumlandschaft von apokalyptischen Ausmaßen. Die radioaktive Wolke vergiftet angesichts der vorherrschenden Westwindlage erst die Flüchtlinge aus Freiburg im Schwarzwald, macht dann Stuttgart dauerhaft unbewohnbar und nachfolgend Mannheim. Frankfurt, Leipzig. Dresden und Berlin sind nur noch in Schutzkleidung zu betreten. Die Tunnelbohrungen der Firma Herrenknecht für Stuttgart 21 könnten sich als vorübergehend lebensrettende Rückzugsräume für Millionen moderner Höhlenbewohner erweisen, die hier trotzdem langsam an Hunger sterben, weil oberirdische Landwirtschaft plutoniumvergiftet ist und Hilfsexpeditionen aus fernen Gegenden ebenso riskant wie unbezahlbar werden: Horrorvisionen, die sich im Kopf verselbständigen. Da sind nur die Grenzen geologischer, physikalischer, medizinischer Recherche gesetzt. Das Erdbeben von Basel jedoch hat schon im 14. Jahrhundert gezeigt, dass dies alles kein Produkt überkandidelter Phantasie ist, sondern reale Möglichkeit. Unsere Politiker in Frankreich und Deutschland ignorieren das nur aus einer unerträglichen Mischung von Hilflosigkeit und Wirtschaftskalkül: Risiken sind für sie zum Eingehen da, solange es nur die anderen sind, die daran eingehen.Schon auf den ersten Seiten zeigt Lodemann, wie sich allein mit sprachlichen Mitteln die Beschleunigung der Ereignisse nach Art eines Tsunamis darstellen lässt: 
"Am Abend dieses sonnigen Sonntags durchspülte das noch Worms und in der sternklaren Nacht auch Mainz und das mittlere Rheintal mit seinen berühmten Machtbunkern und Zollkontrollruinen, erreichte gegen Mitternach Koblenz und sein "Deutsches Eck" und am nächsten Morgen sehr früh Köln, zwei Tage lang Extremhochwasser mit mehreren neuen Seen, zum Beispiel zwischen Dom und Hauptbahnhof, durchschwemmte nach Köln auch Düsseldorf und Duisburg und in Deutschland zuletzt die Römer- und Nibelungenstadt Xanten, danach die Niederlande bis Rotterdam und Amsterdam und verpestete Ärmelkanal und Nordsee".
Woher hat er das? Nun, aus der Presse und von den Universitäten, so die Rahmenhandlung. Ein begabter junger Journalist auf Rheinreise begegnet zufällig auf der Suche nach einem Nachtlager bei Konstanz einer faszinierenden jungen Geologin, die dort Messungen im geologisch aktiven Untergrund macht. Der Funke springt über: aus Neugier wird Leidenschaft - für ein Thema, für eine Nacht - und eine Lehre fürs Leben. Für alles in der Welt nur diese Geschichte am nächsten Tag im Blatt. 
"Fessenheim" ist ein Buch über Lodemanns geliebte Wahlheimat Freiburg und deren innere wie äußere Verhältnisse, über die geheimen und offensichtlichen Verbindungen der "freien Bürger" dort oben am Schwarzwaldrand mit dem platten Land rheinabwärts bis hin ins Ruhrgebiet und nach Holland. Es ist zugleich ein Buch über die Ignoranz und Arroganz der politisch-wirtschaftlichen Eliten, über einen nötigen Weckruf und einen möglichen Aufbruch in eine neue Kultur, hin zu einem neuen, anders denkenden und funktionierenden Europa. Man kennt die Risiken und leistet sich noch - wie lange noch? - die Hybris, nicht einmal Katastrophen- und Evakuierungspläne zu haben für den Fall eines GAU, der am Oberrheingraben jederzeit eintreten kann. Nicht völlig neu das alles, aber blendend erzählt und deshalb von einmaliger Eindringlichkeit - eine schlaflose Nacht mit atemloser Lektüre. 
Danach ist nichts mehr, wie es einmal war. Wer also sagt, dass Bücher nicht gefährlich sind? Jürgen Lodemann beweist das Gegenteil: "Fessenheim" ist ansteckend und brandgefährlich für die noch existierenden Verhältnisse. Unbedingt lesen!



Sonntag, 3. März 2013

Interreligiöses Chorlabor geht jüdisch weiter

Geleitet von Assaf Levitin und begleitet von Andreas Eckert (am Klavier): Das interreligiöse Chorlabor der Bachakademie Stuttgart bei der Arbeit an jüdischer Synagogalmusik
Heute fand der zweite Workshop des interreligiösen Chorlabors bei der Bachakademie Stuttgart statt. Ging es bei der Auftaktveranstaltung um Pilgerlieder türkischer Muslime, so ging es jetzt um geistliche Musik der chassidischen (zentral- und osteuropäischen) Juden. Nach Atemübungen mit der musikpädagogischen Dozentin Käthe Krokenberger von der PH Ludwigsburg übernahm Assaf Levitin das Einsingen und die Proben. Kaum zu glauben, dass Levitin, der zur Berliner Geiger-Kantorenschule gehört, bisher nur als Solist gearbeitet haben will. Auf jeden Fall ist an ihm auch ein großartiger Teamarbeiter und Musikpädagoge verloren gegangen.

Assaf  Levitin (Berlin)
Nach speziell für Sänger entwickelten Dehnübungen und diversen Ritualen zum Einsingen und Einölen der teils infektgeplagten Stimmen kamen lustige Spiele zum gegenseitigen Kennenlernen. Denn Levitins Credo Nr. 1 lautet: "Auch der beste Solist kann keinen einzigen Akkord allein singen. Im Chor sind wir aufeinander angewiesen und müssen uns aufeinander verlassen können". Lehrsatz Nr. 2 lässt sich in einem Wort verfassen: "Hingabe". Es gebe in der chassidischen Musiktheorie und Theologie die Auffassung, dass schon allein das Singen bestimmter Melodien Gottesdienst sei, auch ohne eine einzige Silbe Text. Dazu nickten einige der Muslime im Chor; die Sufis sehen das ganz ähnlich.
Dergestalt aufgelockert und entspannt, fand die ganze Gruppe schnell zu großer Konzentration. Hier treffen sich keine Profis, aber doch etliche halbprofessionelle Sänger und in der Mehrzahl engagierte Laien mit Erfahrung in diversen Chören. Die Begeisterung sei groß, sagte auch der musikalische Vollprofi Levitin anerkennend schon in der Mittagspause. Und meiner bescheidenen Meinung nach ist auch das eingebracht Talent erheblich. Sonst hätte dieser Chor nicht auf Anhieb das "Chassidic Nigun"vom Blatt gesungen - zwar noch ein wenig verhalten und nicht ganz fehlerfrei, aber immerhin vierstimmig! Ich bin von dem beeindruckt, was ich bisher in diesem Chorlabor zu hören bekam. Die Workshops finden im Rahmen eines dreijährigen Projekts namens TRIMUM statt, das bei der Internationalen Bachakademie jetzt schon im zweiten Jahr Juden, Christen und Muslime zusammenführt, um geistliche Musik zu machen. Projektleiter Bernhard König war diesmal wie auch etliche der Sänger ein Opfer der grassierenden Grippewelle geworden. Das änderte aber nichts am Programm und am Niveau. So prangen etwa einige weibliche Alt-Stimmen einem einsamen Tenor bei und  verstärkten diese Partie. Schon nach der Mittagspause ging es mit der Annäherung an hebräische Texte weiter, die für alle Nichtjuden wohl als größte Herausforderung bei dieser Musik gilt. Man darf gespannt sein, was bis zum Musikfest Stuttgart vielleicht reif ist für ein erstes Konzert.