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Montag, 9. Dezember 2013

"Die Vielfalt ist nicht Not": Adventssingen beim Chorlabor der Bachakademie Stuttgart

Chorlabor mit dem Eastern Ensemble & Ahmet Gül
Das interreligiöse Chorlabor beim TRIMUM-Projekt der Bachakademie Stuttgart am 8. Dezember 2013 war eine besondere Session: ein Adventssingen von Juden, Christen und Muslimen mit viel Improvisation, Kaffee, Tee, Gebäck und Gedankenaustausch. Da konnte vieles vorher nicht geprobt werden und hörte sich deshalb auch nicht immer so professionell an wie bei den vorausgegangenen Workshops. Trotzdem war es ein Beisammensein, dass die Gefühle der beteiligten Menschen besonders ansprach. Es ging eben einmal mehr nicht nur um Musik, sondern um das menschliche Miteinander und das Entdecken von gemeinsamkeiten im Glauben und Leben.

Karl-Hermann Blickle
Karl-Hermann Blickle vom Stuttgarter Lehrhaus, der Herausgebger des 1. TRIMUM-Buches "Wie klingt, was Du glaubst", einem Bildband zur Fotoausstellung von Jane Dunker, war dafür ein Beispiel. Er zitierte sichtlich ergriffen aus dem ergänzenden Text von Bernhard Königs Arrangement von "Es kommt ein Schiff geladen":

"Wir dürfen drüber staunen:
Die Vielfalt ist nicht Not.
Als Fremde, Freunde, Nachbarn
sind wir im gleichen Boot"

Mit der gleichen Freiheit und Anteilnahme sangen die Teilnehmer eine deutsch-hebräisch-türkische Version des Kanons "Gelobet sei mein Gott", die ich der Kürze wegen zuerst als Podcast zum Mithören ins Netz gestellt habe.

widmar-puhl.podspot.de


Jane Dunker
Die Autorin des Bildbandes muss aber hier auch einmal abgebildet sein: Jane Dunker, freundlich und aufmerksam wie immer, fotografiert auch diesmal fast ununterbrochen (wenn Sie nicht gerade in der Kamera des Bloggers lächelte).
Die Indonesierin mit Lebensmittelpunkt in Köln und Dozentenjob für Fotografie an der Internationalen Kunstakademie Heimbach hatte zu Beginn des TRIMUM-Projekts die Idee, für eine Fotoausstellung Menschen auch zu Wort kommen zu lassern. Über 50 Menschen aus Stuttgart beantworteten persönlich die Frage "Wie klingt, was Du glaubst?", und ließen sich ablichten. Zusammenfassungen der Interviews ergänzen die schnen Fotos von Menschen in ihrem religiösen Umfeld - mit ihren Fragen, ihren Problemen, ihren Freuden und ihrem Kummer über Unverständnis und Engherzigkeit in ihrer Umgebung, aber auch ihrer Freude über unerwartete Freundschaften und Zuspruch von anderen Menschen trug dieser Vielfalt Rechnung.

Das war ein wunderbarer Nachmittag in Erwartung einer wahrhaft göttlichen Botschaft. Aber jetzt fange ich an zu predigen und höre deshalb besser auf. Nur eins noch: Musik ist nicht Musik. Ein Licht in der Finsternis unserer Tage leuchtet aber aus solcher Musik, wie sie hier gepflegt wird. Weil sie eine Botschaft hat.















Freitag, 18. Oktober 2013

So kraftvoll singt keine Sopranistin, so schön nur wenige Engel

Philippe Jaroussky und das Venice Bafoque Orchestra
Philippe Jaroussky und das Venice Baroque Orchestra: der Countertenor mit der Engelsstimme und ein Barockorchester, das dem von Freiburg oder Köln in nichts nachsteht. Das war am Montag in der Liederhalle Stuttggart ein großartiger Abend. 
Wer noch nie von einem Komponisten namens Nicola Antonio Porpora (1686- 1768) gehört hat, sollte mit einer CD dieser Interpreten anfangen, ihn kennen zu lernen. Ein Erlebnis, weil diese Arien so poetisch und wunderbar sind, wie ich es nie erwartet hätte. Und das Orchester hat nichts von jenem kammermusikalischen "Kratzerpack", bei dem ich sonst schon mal einschlafe: richtig schmissig können die sein! 


Beim Signieren stellte sich heraus: der junge Solist ist auch noch ein ausgesprochen netter Kerl. Keine Starallüren, keine Diva-Posen: ein charmanter junger Mann mit einer umwerfenden Stimme. Dass es Feministinnen gibt, die ihm übel nehmen, dass man nicht sofort hört, dass es sich hier um einen Mann handelt, haben wohl ein Gender-Problem. Schade, aber auch das kommt noch vor. Mich interessiert nur, ob jemand schön singt, ob er Power hat und ob seine Stimme elastisch ist. Alles andere ist kein Kriterium für Kunst und gehört in die Mottenkiste der Vorurteile. Das Publikum an diesem Abend hat bewiesen, dass es dieser Kunst würdig war.



Sonntag, 13. Oktober 2013

Chorlabor VIII: Sephardische Liebeslieder mit Alon Wallach

Der Gitarrist Alon Wallach
Der Chorlabor-Workshop der Internationalen Bachakademie in Stuttgart gehörte am 13. Oktober sephardischen Liebesliedern. Gerade weil weder Bernhard König, der Leiter des TRIMUM-Projekts für interreligiöses Singen, noch der Fachreferent und Gitarrist Alon Wallach Chorleiter sind, war das "Einsingen" wieder ausgesprochen phantasievoll, verspielt und einfallsreich. Auch ein "Chaos-Kanon" von König war wieder dabei, der mit minimalem Material musikalisch verblüffend viel anfangen kann.
Wallach demonstrierte dann ebenso temperamentvoll wie einfühlsam den Kulturunterschied zwischen mitteleuropäischen Hörgewohnheiten und dem Orient an einer einfachen Tonleiter in D-Dur und d-Moll: die Verschiebungen der Tonhöhe beim zweiten und dritten von sieben Tönen. Wer das einmal im Ohr hat, kann es singen. Aber "Wer es einmal geschafft hat, glaubt oft, er werde das jetzt immer schaffen", warnte Wallach, - Irrtum! Fast immer geht es beim zweiten Mal schief." Das erinnert mich irgendwie an den kürzesten der zahlreichen Golf-Witze: "Ich kann´s".
Also war Üben angesagt, und das taten Choristen und Profis mit ungebrochener Begeisterung. Mehr noch: Von Wallach gewarnt, passten die Sänger auf und trafen die Töne meistens gleich auf Anhieb wieder. Wenn sie heute Nacht im Schlaf die d-Moll-Tonleiter ein paar Mal rauf und runter singen, sitzt sie wahrscheinlich wirklich. Ich kann nur hoffen, dass der häusliche Frieden das aushält. Dann kamen Noten in Umlauf: Wallach hatte zwei sephardische Romanzen mitgebracht.
Dabei sollte man kurz erklären: Romanzen heißen nicht so, weil sie so romantisch sind (obwohl das auch durchaus der Fall sein kann). Diese Lieder bekamen ihren Namen nach der Sprache, dem Romance, in der die Volkslieder der iberischen Halbinsel vor 1000 geschrieben und gesungen wurden. Das war - wie unser Mittelhochdeutsch für das Hochdeutsche - ein Vorläufer der späteren Hochsprache Spanisch. Es war die Volkssprache im Gegensatz zum Latein der Kleriker und der Gebildeten, hatte aber viel mit dem späten römischen Vulgärlatein gemeinsam und wurde deshalb "romanisch" genannt. Inhaltlich waren Romanzen (also die Volkslieder der sephardischen Juden, die auf diesem Gebiet besonders tüchtig waren und nachweislich die meisten davon aufgescheieben haben), teils Liebeslieder im Sinne unseres Minnesangs, teils Balladen - und Schlaflieder in Balladenform. Es gibt Tausende dieser Lieder für alle Gefühlslagen.
Statt aber ins Sammeln zu verfallen, übte Wallach mit den Choristen nur zwei dieser Lieder ein (ein Schlaflied, ein temperamentvolles Liebeslied). Der Rest des Tages gehörte dem Improvisieren. Denn es sollte ja kein Workshop über Alte Musik sein, sondern über etwas Quicklebendiges. Und sephardische Romanzen werden bis heute permanent variiert und durch Improvisation erneuert. Die Einflüsse dafür kommen aus allen Ländern rund ums Mittelmeer, aus deren Kultur die Juden nach Ihrer Vertreibung im Jahr 1492 als Einwanderer Neues aufnahmen. Damit zu spielen, machte allen Beteiligten sichtlich Spaß.

Samstag, 5. Oktober 2013

Tipps von meinem Bücherbord

Helmut Kuhn: "Gehwegschäden", Roman, Frankfurter Verlagsanstalt, 444 Seiten, 22,90 €

Eine Art Franz Biberkopf des 21. Jahrhunderts. Als Alfred Döblin mit "Berlin  Alexanderplatz" den ersten Großstadtroman schrieb, wurde die S-Bahn gerade gebaut, die erst vor wenigen Jahren ihren "Ringschluss" feierte. Döblins Antiheld Franz Biberkopf schlägt sich nach Art der klein en Leute schräg durchs Leben, und dessen Nachfolger Thomas Frantz tut bei Helmut Kuhn nichts anderes. War der Alex mit seinem Verkehrschaos und quirligen Nachtleben die Chiffre für die unruhige Zeit zwischen den Weltkriegen, so ist das Verkehrsschild "Gehwegschäden" die zentrale Metapher für das Leben heutiger Glücksucher, Experimentalisten und Prekarianer: das Heer derer, die sich mit Diplom und Aushilfsjobs direkt in die Globalisierung hineinträumen, ohne zu merken, dass sie längst im Enddarm der internationalen Märkte gelandet sind.
Das Schild "Gehwegschäden" sieht man häufig in Berlin. Es markiert Wunschbaustellen einer chronisch unterfinanzierten Stadtverwaltung, an denen mangels Geld nie gebaut wird, und entlässt die Gemeinschaft aus der Haftung für Schäden, die nur noch verwaltet und nicht behoben werden: "Es wird hier nichts mehr repariert, wir haben uns abgefunden". Thomas aber hat sich nicht abgefunden. Mit wachsender Wut und viel schwarzem Humor betreibt er das "Schachboxen" als Kreuzung aus geistigem und körperlichem Wettkampfsport. Seine scharfsinnigen, oft sarkastischen Beobachtungen entlarven eine Gesellschaft, die mehr am Spielen als an einer seriösen Lebensgestaltung interessiert ist. Ab und zu fliegt dabei etwas in  die Luft oder kackt ab. Ja, 60 Prozent der Deutschen geht es gut. Aber 40 Prozent bleiben dabei auf der Strecke, was die 60 Prozent einen Scheiß interessiert. Das ist die nackte, unappetitliche Wahrheit. Trotzdem liest sich der Roman von Helmut Kuhn ausgesprochen unterhaltsam. Ganz wie die Leidensgeschichte des Franze Biberkopf bei Döblin. - Chapeau!


Cornelia Trevnicek: "Chucks", Roman,  Deutsche Verlagsanstalt (DVA) München, 192 Seiten, 17,99 €

Mae ist Anfang zwanzig und war bis vor kurzem eine Punk-Frau, zog durch die Straße von Wien, lebte von Dosenbier und Gesprächen mit ihrer Freundin über Gott und die Welt - eher die Welt. Dann letnr sie im AidsHilfe-Haus, wo sie eine Strafe wegen Körperverletzung abarbeiten muss, Paul kennen. Sie verliebt sich in ihn, und als die Krankheit bei ihm ausbricht, sammelt sie alles von ihm - bis hin zur Luft seines Krankenzimmers in einer Tupperdose. Schon einmal hat sie einen geliebten Menschen verloren - ihren Bruder, von dem nur ein paar rote Chucks geblieben, sind. Das wäre einfach bloß eine traurige Geschichte - wenig originell, wäre da nicht der Stil, diese Sprache.
Da ist Poesie drin, Melancholie, Zärtlichkeit, Lakonie, Humor, genaue Beobachtungsgabe, Trauer und Verzweiflung. Eigentlich zu viel für so eine junge Frau mit Rastalocken. Cornelia Trevnicek aus St. Pölten, der Bischofsstadt in Niederösterreich, ist weit über ihre 26 Jahre hinaus lebenserfahren, einfühlsam und geradezu erschreckend begabt. Was eine private Geschichte von einer öffentlichen unterscheidet, ist bekanntlich Allgemeingültigkeit. Und die entsteht hier durch Distanz und formale Konsequenz gleichermaßen. Das Aufwachsen zwischen Liebe und Tod will ziemlich viel auf einmal, aber weniger wäre auch enttäuschend. Als Mae das Krankenzimmer verlässt, weiß sie: "Draußen dreht sich die Erde weiter, bis die Dächer Wiens sich vor die Sonne scheieben. Das letzte Licht wirft seinen Schein  wie ein einzelnes Spotlight auf mich. Das bin ich, sind wir, im Endeffekt: nicht gerne allein". Huch, ist das altklug? - Nein, es ist frühreif, also etwas völlig anderes. - Must have!

Hernán Rivera Letelier: "Der Traumkicker", Roman. Suhrkamp Insel, Berlin, 207 Seiten, ? €

In einer abgewickelten Minensidlung in der chilenischen Wüste stemmt sich ein völlig durchgedrehter Haufen von Fußballfans gegen das Ende seines Clubs und seines Dorfes. Mit Charme und Einfallsreichtum, aber völlig chancenlos bereiten sie sich auf das letzte Spiel gegen die weit überlegene Mannschaft des rivalisierenden Hauptortes vor, die alles hat: die Sponsoren, die Trikots, die Stars und das Wohlwollen der Obrigkeit. Was den Männern und Frauen Hoffnung macht - oder besser wer, ist ein Ballkünstler, der eines Tages ins Dorf kommt. In sengender Mittagshitze zaubert er trickreich und mit atemberaubender Eleganz auf dem Dorfplatz mit dem Ball, dass allen die Spucke wegbleibt. Eine Delegation der Einwohner will ihn zum Bleiben bewegen. Er wird umworben, umschmeichelt, erpresst, geliebt und gehasst, weil er sich so fürchterlich ziert. Bis sich am Ende herausstellt, dass er an einer monströsen Behinderung leidet, die ihn völlig unfähig macht, ein echtes Fußballpiel durchzustehen. Trotzdem wird er zum Helden, denn er lässt sich einwechseln und stirbt auf dem Platz. Kurz vor dem Elfmeterpunkt foult ihn ein Typ, der eher wie ein Preisboxer beschrieben wird und weniger wie ein Fußballer. Was solls: Helden sind tote Träumer. Und der hier stirbt auch erst ganz am Schluss. Bis dahin träumt ein Dorf einen herrlichen, wunderbaren und ganz unmöglichen Traum. Ein bezauberndes Buch über die Macht der Wünsche und die Magie der Illusionen ist dem chilenischen Autor da gelungen. Auch ein Buch über Fußball natürlich, aber vor allem Fußball als Spiel des Lebens schlechthin.

Ivana Bodrozic: "Hotel Nirgendwo", Roman, Zsolnay Verlag bei Hanser, Wien/München, 221 Seiten, 18,90  €. Deutsch von Marica Bodrozic


Ein neunjähriges Mädchen fährt mit ihrem älteren Bruder und der Mutter im Sommer 1991 ans Meer. Doch aus den Ferien wird eine Flucht, denn in der Heimatstadt Vucovar ist der Krieg ausgebrochen und der Vater verschollen.Vom winzigen Zimmer in einem Flüchtlingslager aus versuchen Mutter und Tochter ihr Leben neu zu organisieren, den Mann und Vater zu finden, eine Wohnung zu bekommen, eine anstönsikge Arbeit zu finden und die Schule abzuschließen, also wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Das Mädchen kommt in die Pubertät und schließt Freundschaften - vom ersten Discobesuch bis zum ersten Rausch und dem ersten Kuss das Übliche, aber in unüblicher Umgebung. "Hotel nirgendwo" ist ein Ort im gesellschaftlichen Nirwana, der Roman ein literarisches Dokument der Selbstbehauptung, aber voll Witz und ohne jede Sentimentalität. Der ungebrochene Stolz der permanent Bittbriefe ans Wohnugsamt und an den Präsidenten schreibenden Mutter, die wachsende Wut des Buders, das Auf- und Ab im Gefühlsleben der Ich-Erzählerin, das alles kommt mit großer Glaubwürdigjkeit daher. Zugleich schlägt das Buch Töne mit einer Leichtigkeit an, die man wohl braucht, um so eine Geschichte überhaupt erzählen zu können. Entdeckt und übersetzt hat dieses Debüt die Lyrikerin und Erzählerin Marica Bodrozic, die in Berlin lebt und nie den Kontakt zu ihrer Heimatstadt Svib unweit von Split in Kroatien abgebrochen hat.



Fragen an Gauck, Merkel und Kretschmann

Bei den Feiern zur deutschen Einheit traten Bundepräsident Joachim Gauck, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsident Winfried Kretschmann (der Gastgeber) gemeinsam in Stuttgart öffentlich auf. Ich hätte an alle drei auch jeweils drei Fragen. 
Frau Merkel: Wo ist Ihre Politik eigentlich "christlich" und wie halten Sie es mit Ihrem Amtseid angesichts von Überschuldung, kalter Enteignung der kleinen Leute und Ihrer Schirmdamenfunktion für Wirtschaftskriminelle und Spione? Wo haben Sie das "sozial" der sozialen Marktwirstschaft versteckt und wie kommnen Sie zu der Behauptung, dass es den Deutschen gut gehe, wenn 40 Prozent davon ausgenommen sind? Wieso lassen Sie zu, dass Ihre Parteifreunde und die Industrie "Ihre" Energiewende ausbremsen oder pervertieren, während Sie auch noch von der Energiesteuer und der EEG-Steuer (mit Rabatten und Befreiungen für die Industrie auf Kosten der Provathaushalte) profitieren? 
Herr Gauck: Warum klären Sie nicht Ihr Verhältnis zu Vater und Mutter, die beide Mitglied der NSDAP waren und angeblich Ihren "Freiheitsdrang" geprägt haben? Wo waren Sie vor der "Wende" und der Abgeordneten-Kandidatur in der Bürgerrechts-Partei "Bündnis 90" als Pfarrer politisch aktiv? Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, ausgerechnet ehemalige Stasi-IM als Mitarbeiter der Gauck-Behörde einzustellen, und wieso sind die heute noch dort? 
Herr Kretschmann: Warum haben Sie vor Ihrer Wahl zum MP verkündet, Sie wollten alles Ihnen Mögliche gegen Stuttgart 21 tun, wenn Sie anschließend mehr Kreide gefressen haben als der Wolf in "Rotkäppchen"? Warum legen Sie sich mit der eigenen Klientel an, den Lehrern und Beamten, während Sie mit Herrenknecht einen heben gehen (der sagte, der von seinen Angestellten die Grünen wähle, fliege raus) und Ihr Kabinett ausgerechnet am 30. September zum Bier auf dem Wasen einladen? Und warum haben ausgerechnet Sie die Regierungspräsidenten der CDU samt deren reaktionären Seilschaften in Amt und Würden belassen, die seitdem fleißig Ihre Politik hintertreiben? (Z.B. bei EnMB, Energiewende, Nationapark Nordschwarzwald etc.).

Dienstag, 24. September 2013

Leben mit dem Trauma: ein anspruchsvoller Debüt-Roman

Hanna-Laura Noack: Strom des Himmels. Verlag André Thiele, Mainz, 412 Seiten, 19,90 €


Hanna-Laura Noack ist gelernte Psychotherapeutin und hat mit "Strom des Himmels" ihren ersten  Roman vorgelegt. Der Titel ist ein Bild für ziehende Wolken und Metapher des Lebens schlechthin. Er ist inspiriert von japanischen Tuschezeichnungen, durchzogen von den Fachkenntnissen und dem Blick einer reifen, berufstätigen Frau aufs Leben, ein Erstling in dieser großen literarischen Form zwar, aber weder naiv noch auf andere Weise "unschuldig": ein Buch voller Lebenserfahrung mit dem Trauma, ein Buch vom Entdecken der eigenen Identität und von der niemals konfliktfreien Begegnung zweier unterschiedlicher Kulturen, die sich doch gegenseitig nicht nur schockieren, sondern vor allem bereichern.
Der Plot entwickelt sich erst verhalten und dann mit dramatischer Wucht: Alice, 32 Jahre alt, freie Therapeutin und Mitarbeiterin einer schwächelnden Fachzeitschrift, eine selbstbewusste, berufspolitisch engagierte Frau, fliegt 1978 für einen Bericht über die "Kinder von Hiroshima" nach Japan. 35 Jahre nach dem Atombombenabwurf will sie das Schicksal der Zivilisten erkunden, die lange Zeit ohne staatliche Hilfe und angemessene medizinische Versorgung mit den Folgen der Verstrahlung und dem Trauma des Massensterbens überleben mussten. Wie der Umgang mit der Katastrophe von Fukushima zeigt, sind politische Eliten, der staatliche Energiekonzern Tepko und die japanische Bürokratie bis heute nicht in der Lage zu einem wirklich offenen, effizienten und menschlichen Umgang mit den Folgen großflächiger Verstrahlung. Alice sticht bei ihren Recherchen promt in diverse Wespennester.
Parallel dazu erzählt ein zweiter Handlungsstrang die tragische Liebesgeschichte eines Japaners und einer Deutschen in den Jahren 1945 und 1946. Im zerstörten Hiroshima lernen sich der junge Pressefotograf Tadashi Yamamoto und die deutsche Krankenschwester Teresa kennen und lieben - beide vom Krieg traumatisiert und voller Verachtung für die ideologische Verblendung, die ihn verursacht hat. Teresa ist die Mutter von Alice, deren eigentliches Motiv für die Reise darin besteht, ein versäumtes Gespräch mit der Mutter über diese Vergangenheit nachzuholen. Teresa ging als Rotkreuzhelferin nach Hiroshima, um dem reaktionären Vater und der Trauer über ihren gefallenen ersten Mann im zerstörten Deutschland zu entfliehen. Tadashi hat sich beim Fotografieren der Atombombenopfer verstrahlt und fürchtet, die Liebe seines Lebens mit einem genetisch geschädigten Kind unglücklich zu machen.
Die Eltern von Alice sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, bevor Aufklärung darüber möglich war, warum Teresa zeitlebens eine der Tochter unerklärliche Verehrung für einen Japaner gefühlt hat. Der hat sich später als Chefredakteur der Hiroshima Post für Menschlichkeit gegenüber ausgrenzten Wanderarbeitern, Frauen und Kindern von Hiroshima eingesetzt und mit der korrupten Regierung angelegt. Japan ist weit weg für eine Deutsche im Jahr 1978; doch die Einladung einer ehemaligen Patientin nach Tokio und die Urlaubsbekanntschaft mit einer japanischen Oberschichtfamilie, deren Sohn die erfahrene Taucherin bei einem Bootsausflug auf den Malediven vor dem Ertrinken rettet, ebnen den Weg.
Plötzlich ist Alice in einem merkwürdigen Wunderland, wo allein reisende Frauen wie ein neues Weltwunder bestaunt werden und wo unglaubliche Gastlichkeit neben krassestem Chauvinismus der Konservativen gegenüber Frauen und Ausländern zu finden ist. Sie wird weitergereicht und bekommt immer neue Kontakte. Sie lernt etwas Japanisch, macht unglaubliche Erfahrungen mit dem Essen, dem "Verlieren des Gesichts", dem Einkaufs- und Komsumwahn japanischer Großstädte, aber auch der feinsinnigen Kultur Japans. Besonders reizvoll: Der Kontrast zwischen der Reise in die Vergangenheit ihrer Mutter mit deren japanischem Liebhaber und der Reise in eine immer noch reichlich fremdartige Gegenwart mit Shikansen-Zügen, Touristenhotels und traditionellen Gasthäusern. Sie trifft Ärzte und kann Überlebende von Hiroshima interviewen. Sie lernt sogar ihren späteren Mann kennen; also noch eine moderne Liebesgeschichte mit einigen sehr sinnlichen Szenen von saftiger Erotik. Dem Leser ist wirklich einiges geboten.
Sprachlich sind vor allem die lebendigen Beschreibungen von Menschen, Landschaften und Szenen ein Genuss, die Ausländer in Japan erwarten. Das Buch ist aber ein Roman und kein Handbuch japanischer Sitten und Unsitten; da darf man ruhig ab und zu schmunzeln und staunen.Nicht immer stilsicher und manchmal umständlich geht die Autorin mit Reflexionen und historischen Einschüben um. Wo sie über Männer, Historie, ihren Beruf und japanische Traditionen räsonniert, schwankt der Ton zwischen amüsiert und etwas zu sehr therapeutisch. Wunderbar, wie die 17jährige, pubertierende Alice den Wunsch der Mutter abschmettert, über ihre Vergangenheit mit Tadashi Yamamoto zu reden: "Auf einmal? Als Kind durfte ich das Wort Tadashi nicht einmal aussprechen. Ein Handtuch hast du nach mir geworfen!... Deine Liebhaber interessieren mich nicht die Bohne!"
Doch nach dem türenschlagenden Abgang der Tochter lässt sie´s nicht gut sein, sondern hängt gebildet dozierend dran: "Eine kurzsichtige, verbockte Elektra, die sich leidend ihrem unkontrollierten Eigensinn hingab. Sie war weder bereit, die Gefühle ihrer Mutter wahrzunehmen noch auf  sie einzugehen". Doch das sind eigentlich Belanglosigkeiten; ein besseres Lektorat hätte so etwas ausgemerzt. Die Spannung über 400 Seiten zu halten, gelingt Noack mühelos trotz solcher Passagen. Denn immer passiert etwas, immer wieder wird der Leser mit überraschenden Wendungen und Einfällen konfroniert, die seine Neugier wieder anstacheln
Da ist der Stil journalistisch. Poetisch wird er bei Begegnungen mit dem Leid. Hier spürt man jedes Mal: Das Leben mit dem Trauma und trotz des Traumas ist so etwas wie Noacks Kernkompetenz. Dafür hat sie feine Antennen, dafür findet sie immer die richtigen Worte. Wer die Sprache des Beobachters und der Erotik beherrscht, muss nicht auch die Sprache der Traumatisierten sprechen. Noacks feinfühlige Distanz macht auch Szenen des reinen Horrors erträglich - etwa wenn Yamamotos Schwester erzählt, wie ihr Bruder ihr von den Gräueln der japanischen Armee berichtet hat, mit der er während des Krieges in Nanking war. Erschütterung, ja auch Wut findet ihren Ausdruck, z.B. wenn Alice auf die Presseclubs stößt. Sie fragt Yamamotos Schwester danach, weil ihr Bruder dort austrat, um frei berichten zu können, bevor er unter nie ganz geklärten Umständen starb.
Die pensionierte Lehrerin: "Hier bei uns stand er allein damit. Ausschließlich Journalisten der Presseclubs gelangen an bestimmte Informationen, die sonst niemandem zugänglich sind und strengster Geheimhaltung unterliegen". So wird gezielt verhindert, dass Nachrichten über Japan ungewollt ins Ausland kommen - es sei denn, ein Atomkraftwerk explodiert zufällig vor laufenden CNN-Kameras. Dieses Buch lehrt: Japan ist anders als die Mainstream-Regionen des globalen Tourismus. Da weist Noacks Romandebüt weit über das Jahr 1978 hinaus ins 21. Jahrhundert und ist hoch aktuell.
Am Ende ist "Strom des Himmels" aber vor allem der Roman einer therapeutischen Reise ins Zentrum des eigenen Ich. Man muss keinen japanischen Helden zum Vater haben, aber es tut gut und befreit, keine losen Enden in der eigenen Biographie zu dulden. Das alles so spannend und unterhaltsam zu erzählen, macht das Buch zu einem lebendigen Stück aufklärender Literatur. Erfrischend, wie diese Autorin an dem deutschen Dogma rüttelt, dass ernste, ja schwierige Literatur nicht unterhaltend sein dürfe.

Freitag, 20. September 2013

30 Jahre Stuttgarter Schriftstellerhaus

Stadtbibliothek Stuttgart am Mailänder Platz
So romantisch auch die Umgebung der Stadtbibliothek Stuttgart am Mailänder Platz: Dies ist nicht das Schriftstellerhaus. Aber hier wurde am 19. September der 30. Geburtstag dieser Einrichtung gefeiert.
Nach verkehrsbedingt teilweise chaotischer Anreise auswärtige Autoren, die so unvorsichtig gewesen waren, mit der Bahn zu kommen , wurde es doch ein sehr schönes Fest für die Literatur in Stuttgart - und für die Stuttgarter Literatur. Denn zu den Gründungsmitgliedern des Schriftstellerhauses gehörte Helmut Pfisterer, aus dessen Nachlass aus diesem Anlass das hübsche Büchlein "Der Pascha sitzt in seinem Ausguck und schaut ein Plätzchen" vorgestellt wurde (edition kanalstrasse 4).
Nach einer Begrüßung mit historischem Rückblick durch Irene Ferchel, die Vorsitzende des Vereins, und einem launigen Porträt des 2010 verstorbenen Dichters, Physikers und Philosophen Pfisterer durch den Verleger Titus Häussermann vom Silberburg Verlag ging´s zur Sache.
Halt, eh ich´s vergesse: Musik wäre hier normalerweise eine Frage der Verdrängung gewesen, aber nicht so bei der Geigerin Katharina Widmer und dem Akkordeonisten Frank Eisele. Denn die waren mit Helmut ein halbes Leben lang nachhaltig befreundet und haben mit ihren fidelen Kreuzungen aus Klezmer, Zigeunermusik und Tango viele seiner Lesungen begleitet. Bach-Kantaten, Hochzeitsmärsche und Chöre wie von der Kirche gegenüber wären im unpassend erschienen. Die zwei also gaben einen gehörigen Rahmen, ließen dem Buch hier Platz und werden dafür geliebt.
Gilbert Fels (links) und Signe Selleke

Die Herausgeber Signe Selleke und Gilbert Fels, beide wie der bescheidene Autor dieser Zeilen mit Helmut Pfisterer befreundet, lasen aus dem Buch, das die Mitglieder des Vereins "Stuttgarter Schriftstelkerhaus" als Jahresgabe 2013 erhalten. D.h. sie lasen nicht bloß, sie trugen kongenial etwas vor, das nun wirklich sehr der Art und Weise entsprach, wie Helmut die Welt sah und beschrieb. In den letzten Jahren vor seinem Tod tat er das mit Vorliebe vom Balkönchen aus, wo er einen Blick auf den belebten Pauluskirchplatz hatte: Loge, Meckereck, Ausguck, Mastkorb, aber nie Maulkorb für den alten Bruddler von Graden, der das Träumen nie lassen konnte. Selbstironisch, sprachverliebt, sehnsüchtig nach Leben bis auf den Tod, das war er. Und die beiden Lyriker, die sein Buch herausgegegen haben, taten unserem Freund Helmut Pfisterer eine Ehre an damit, wie sie´s taten. Und verzeiht bitte die hässlichen Fotos. Sie sind wie das Leben heute: hektisch und hässlich. Helmut war nicht so, und auch sein Buch ist es nicht.






























Musikfest Extra Türkei in Stuttgart: So geht Integration

14.9.: Eastern Ensemble und Gächinger Kantorei in der Musikhochschule
Am 14. September - eine Woche nach dem offiziellen Abschluss, doch dafür nach dem Schulbeginn - gab es ein "Extra Türkei" beim diesjährigen Musikfest Stuttgart der Bachakademie. Der Höhepunkt war zweifellos das gemeinsame Konzert des neuen Eastern Ensembles mit der Gächinger Kantorei unter der Leitung von Cigdem Yarkin (Eastern Ensemble) und Maddalena Ernst (Junger Chor der Bachakademie) in der Musikhochschule. Auf dem Programm standen türkische Pilgerlieder (Ilahis) nach Texten so bekannter Dichter wie Yunus Emre, Rumi oder Ahmed Bey, begleitet von Profimusikern an traditionellen Instrumenten. Natürlich sangen da zunächst nicht die Gächinger, sondern Musikstudenten aus der Türkei. Von besonderem Reiz waren Rezitationen religiöser Gedichte von Yunus Emre durch den Schauspieler und Regisseur Kenan Isik (ganz rechts im Bild), den in Istanbul jeder Theaterbesucher als ehemaligen Intendanten des städtischen Theaters kennt. Auch wer kein Wort verstand, konnte sich der emotionalen Wirkung seines Vortrags nicht entziehen, der von verhaltener Instrumentalmusik untermalt war.
Es folgte der Junge Chor der Bachakademie mit der Motette "Jesu, meine Freude" von Johann Sebastian Bach (BWV 227). Das war ebenfalls ein Hochgenuss und sowohl stimmlich als auch in der dramatischen Gestaltung etwas Besonderes.
Aber die gemeinsamen Proben müssen auch eine anssteckende Wirkung gehabt haben. Wie nah die Musiker da gekommen sind, konnte man bei der berührenden Interpretation des Bach-Chorals "Befiel du deine Wege" hören (BWV 244). Tiefer Glaube und große Gefühle entfalten in der Kunst eine gewaltige Wucht. Doch diesmal bekam ihr Ausdruck eine einzigartige Färbung durch Soli von Ahmet Gül zwiswchen den Strophen. Der blinde Bassbariton aus Esslingen liebt Bach und die Sufi-Musik gleichermaßen; sein Gesang glänzte durch technische Perfektion und anrührende Inbrunst. Das Pendant dazu war ein Solo-Auftritt von Cigdem Yarkin bei einem der folgenden Ilhis von Ahmed Bey: ein glockenheller Sopran, der zugleich intensiv und leicht mit unglaublichen Vierteltonmelismen über dem Chor schwebte.
Ein Moment, um den Atem anzuhalten, war schließlich der Einsatz beider Chöre im Tutti des anonymen Ilahi (Hüseyni Ilahi) zu einem Text von Yunus Emre. Das klang für mich, als hätten die Sänger zeitlebens nichts anderes getan. Das gemischte Publikum im großen Konzertsaal der Musikhochschule spendete lang anhaltenden, begeisterten Beifall. So kann Integration aussehen und sich anhören: ein großartiges Konzert ausgerechnet zum Yom Kippur Fest, wie ein jüdischer Musiker hinterher sagte - sicher kein Zufall. Man muss vielleich nicht eigens hervorheben, aber ich tue es doch, dass die Veranstaltung trotzdem kein Mischmasch weltmusikalischer Romantik war. In gegenseitigem Respekt blieb jeder "Schuster bei seinen Leisten. Das Miteinander und Ineinander war eher dramaturgisher Art. Dennoch zeigen sich vieleicht gerade darin die Gemeinsamkeiten der getrennten Religionen und so verschiedenen musikalischen Stile. Schön, dass der neue Intendant Rademann von der Bachakademie das gehört hat. Mehr davon!
14.9.: Chorlabor-Workshop mit Halil Ibrahim Yüksel
Das große Familienfest im Kulturhaus Arena (das ehemalige Theaterhaus in Stuttgart-Wangen) hatte aus Sicht des Chorlabors einen Vorläufer. Schon am Samstag Nachmittag gab der schon Stuttgart-erfahrene Dirigent Halil Ibrahim Yüksel von der Universität Izmir wieder einen Workshop im Konzertsaal der Bachakademie. Aktive und interessiertes Publikum kamen also an diesem Wochenende ganz schön herum in Stuttgart; wohl dem, der eine VVS-Dauerkarte sein eigen nannte. Es ist bisher eine Eigenart dieses offenen interreligiösen Chorlabors, dass bei den Workshops die Besetzung wechselt - je nachdem, wer Zeit und genug Interesse für diese intensive Arbeit hat. So kamen beim Thema "Gottesliebe und Menschenliebe" viele neue Gesichter. Projektleiter Bernhard König, der das Improvisieren leidenschaftlich liebt, hatte dazu spontan mit Yüksel zusammen einen türkisch-deutschen Kanon nach der Zeile "Es ist, ewas es ist, sagt die Liebe" aus einem Gedicht von Erich Fried geschrieben. Da hier nicht nur türkische und deutsche Sprache zu einer Einheit werden sollten, sondern auch türkische Vierteltonfolgen und deutsche Vierstimmugkeit, war Yüksel dankbar für eine musikalisch versierte Dolmetscherin für die vielen deutschen Sänger.
15.9.: Das Chorlabor im Kulturhaus Arena Stuttgart-Wangen
Lohn der Mühe und krönender Abschluss des deutsch-türkischen Familienfestes im Kulturhaus Arena war dann der erste echte öffentliche Auftritt des Chorlabors. Da konnten nicht nur die Sänger zeigen, was sie drauf haben. Auch Yüksel und König waren als Musikpädagogen  gefordert, denn sie animierten das Publikum, die vierte Stimme des Kanons zu singen. Das Ergebnis dieser improvisierten Musikstunde konnte sich durchaus hören lassen. Es war nicht nur für deutsche Ohren etwas Neues. Sogar Menschen mit türkischen Wurzeln können sich im Land ihrer Herkunft kaum einmal von solchen Spezialisten in die Musik ihrer Vorfahren einstimmen lassen. Das Ergebnis meinem Podcast zu hören: widmar-puhl.podspot.de






Vorbildliche Literaturförderung in Karlsruhe

Eigentlich neige ich nicht zum Ankupfern von Pressemitteilungen. Doch hier geschieht etwas Vorbildliches, und so mache ich eine Ausnahme. Wie man regionale Literaturförderung anstellt, kann man an dem Programm der 1. Karlsruher Literaturtage schon erkennen, ohne ins Detail zu gehen: Man hört in die Szene hinein und beteiligt bekannte Gruppen und Initiativen an aktiven Hotspots. Man entwickelt gemeinsam mit ihnen ein Programm, das sich nicht an "Big Names" orientiert, sondern am tatsächlich Vorhandenen und lokal engagierten Künstlern. Die Qualität beurteilen nicht Außenstehende, sondern die Autoren selbst, die das Programm selbst gestalten und die Teilnehmer einladen. Meckern können Kritiker, die Leute vom Ministerium und vom Kulturamt sowie das Publikum hinterher.

2012 fanden auf Initiative der Literarischen Gesellschaft
unter dem Motto "WertWortWandel" mit großem Erfolg die 29.
Baden-Württembergischen Literaturtage in Karlsruhe statt. Ziel war, mit
dieser von Land und Stadt unterstützten Veranstaltungsreihe die
literarische Szene in Karlsruhe und Region zu stärken. Von daher war der
nächste Schritt folgerichtig, die literarischen Initiativen, die
Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Karlsruhe einzuladen, zusammen
mit der Literarischen Gesellschaft regelmäßig Literaturtage durchzuführen.
Schnell war man sich einig, die erfolgreiche Zusammenarbeit fortzuführen
und gemeinsam jährliche Literaturtage zu organisieren. Mit finanzieller
Unterstützung durch Land und Stadt haben wir dieses Jahr den Poetry Slam in
das Zentrum der Veranstaltungen gerückt. Die Slam-Szene hat auch in
Karlsruhe ihre festen Orte; diese wollen wir einem breiteren Publikum
bekannt machen.
Wir laden Sie zu einer literarischen Endeckungsreise ein: nutzen Sie die
Möglichkeit, in wenigen Tagen alle Spielarten und die wichtigsten Performer
des Poetry Slam kennenzulernen! Im nächsten Jahr geht es weiter. Karlsruher Literaturtage sollen zukünftig zeigen, welches literarische
Potential diese Stadt hat.

Freitag, 20.09.2013:
-17.00 Uhr | Schauburg Filmtheater
Film | Dichter und Kämpfer
-20.00 Uhr | Die Kurbel
Lesung | Das Bücherbüffet präsentiert den Diary Slam
-20.00 Uhr | Tollhaus
Poetry Slam | KOHI Slam #75

Samstag, 21.09.2013:
-12.00 Uhr | Stadtbibliothek im Neuen Ständehaus
Saturday Noon Fever ? Slam-Show in der Stadtbibliothek
-12.00 - 15.00 Uhr | U-Max im PrinzMaxPalais
Poetry Slam Workshop im Literaturhaus
-15.00 Uhr | Schauburg Filmtheater
Film | Dichter und Kämpfer
-16.00 Uhr | K-PUNKT
Literarisch-musikalische Performance | Tanzende Worte von AMISTAD
-17.30 - 19.30 Uhr | Staatstheater Karlsruhe
Lesung | AUTORiKA ? Das Wortgefecht
-20.00 - 22.00 Uhr | Staatstheater Karlsruhe
Dead or Alive Slam
-22.15 - 23.45 Uhr | Staatstheater Karlsruhe
Bühnenhörspiel mit Live-Illustrationen | Die Tonbänder des Ignaz Euling.

Sonntag, 22.09.2013:
-10.00 - 12.00 Uhr | U-Max im PrinzMaxPalais
Poetry Slam Workshop im Literaturhaus
-13.00 Uhr | U-Max im PrinzMaxPalais
Lesung | Brot & Kunst-Matinee im Literaturhaus
-16.00 - 17.30 Uhr | Hochschule für Gestaltung
Leseperformance | Der Löwengruben-Loop
-19.00 Uhr | Die Kurbel
Film | ZEBRA Poetry Film Festival ? Best of Poesiefilme
-19.00 - 22.00 Uhr | GOTEC CLUB
Poetry Slam | Gotec Slam
-22.45 Uhr | Schauburg Filmtheater
Film | Dichter und Kämpfer

Sonntag, 8. September 2013

Bach niederländisch: ein Hochgenuss

Kleiner Nachtrag zu einem "kleinen" Konzert beim Musikfest Stuttgart: Der Auftritt der "Nederlandse Bachvereniging" unter Jos van Veldhofen in der Reihe "Sichten auf Bach" in der Stiftskirche am 30. August. Das sind Konzerte für die Mittagspause, und die Leute strömten, dass es eine Freude war. Die Niederländer boten ein wunderbar eingespieltes Ensemble, das zwei Bach-Kantaten kammermusikalisch interpretierte, die beide das Thema "Liebe" im Hohelied aus dem Alten Testament behandeln. "Ich geh und suche mit Verlangen" (BWV 49) betonte die erotische Seite dieses biblischen Textes auf herrlich sinnliche Weise im Duett mit zwei Solisten: Johannette Zoomer (Sopran) und Stephan Macleod (Bass).
Selten - eigentlich nie - habe ich einen Bass gehört, der klarer, weicher, treffsicherer und runder die anspruchsvolle Rolle im Stil eines Oratoriums bewältigte: Eine Offenbarung! Verstärkt um den Tenor Wolfram Lattke kam dieses dialogische Musizieren auch bei der Kantate "Wachet auf, ruft uns die Stimme" (BWV 140) zum Tragen, wo das Gleichnis der treuen Jungfrauen, die mit ihren Lampen bereit stehen, um cdas Brautpaar zur Hochzeit zu begleiten, aufs Schönste und Anspruchsvollste in Töne gesetzt ist. Kein Vergleich zu dem, was wir von dem Adventslied kennen, das Philipp Nicolai 1599 komponiert hat und das sich z.B. in  Berliner Gesangbuch von 1940 findet (Herder Verlag)! Das wird im Ohr bleiben und demonstrierte machtvoll die Vielseitigkeit des Komponisten Johann Sebastian Bach.

Mehr Bach geht nicht: Bach auf Japanisch-Deutsch beim Musikfest Stuttgart

Shunske Sato (links), Kent Nagano und das Ensemble Concerto Köln
Kent Nagano & Shunske Sato und das Ensemble Concerto Köln beim Musikfest Stuttgar am 07.09.2013: Ein absolutes Highlight!
Den Dirigenten Kent Nagano kennt jeder als Chef der Bayerischen Staatsoper, aber den 26 Jahre alten japanischen Geiger Shunske Sato sollte die Welt noch kennen lernen. Wie der das berühmte Violinkonzert E-Dur von Johann Sebastian Bach gespielt hat, war einfach ein Wunder und eine Freude. Natürlich ist so etwas kein Zufall, sondern das Ergebnis herausragender Bagabung und harter Arbeit. Aber beides hat der junge Mann in solchem Übermaß, dass er davon viel an andere verschenken kann und seine Spielfreude auch ein ganzes Orchester ansteckt. Die Folge: Das Publikum kennt sich kaum wieder vor Jubel.
Das Konzert begann mit der Sinfonie Nr. 1 von Carl-Philipp Emanuel Bach - ein ungewöhnliche modernes Werk des Bach-Sohnes, total verspielt und von einem Temperament, dass manche Flamenco-Truppe vor Neid erblassen ließe. Es folgten zehn Minuten orchestraler Bienenschwarm mit einer "Annäherung an alte Burgen und einen Bachchoral" von Ulrich Creppein - eine Auftragskomposition der Deutsche Bank Stiftung. Der junge Komponist wurd anschießend auf die Bühne gerufen und muss wohl begriffen haben, wie vermessen seine Bemühungen um Neue Musik zwischen Vater und Sohn Bach wirken mussten. Das ganze Ausmaß dieser Kluft tat sich auf mit Johann Sebastian Bachs Violinkonzert E-Dur und der Reaktion des Publikums darauf im Vergleich zu dem höflich-Distanzierten Applaus für den verlegenen jungen Komponisten.
Nach der Pause folgte die Sinfonie Nr. 5 d-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy, die "Reformations-Sinfonie" mit dem kunstvoll variierten Leitmotiv des Chorals "Ein feste Burg ist unser Gott". Mehr Bach geht einfach nicht. Ein großartiger Bach-Abend alles in allem mit phantastisch souveränen Musikern.


Samstag, 7. September 2013

Retro-Festival "Stuttgarter Lyriknacht"

Eine Polemik zum 30. Jubiläum des Stuttgarter Schriftstellerhauses


So freundlich wurden wir empfangen   bei der 10. Stuttgarter Lyriknacht in der Stadtbibliothek: Mit einem bunten Strauß Malven gedachten die Organisatoren Stadtbibliothek, Stuttgarter Schriftstellerhaus und Literaturhaushaus des Schweizer Dichters Rainer Brambach (1917 - 1983), der im Hauptberuf Gärtner war, und seines Freundes Günter Eich (1907 - 1972). Den ersten Teil gestaltete das Schriftstellerhaus mit einem Vortrag des Germanisten und Journalisten Michael Braun über die beiden Dichterfreunde - unterstützt durch den Rezitator Florian Ahlborn. Es folgte unter der Regie von Florian Höllerer vom Literaturhaus ein poetischer Dialog von und mit Nico Bleutge (2012: "verdecktes gelände") und Uwe Kolbe (2013: "Lietzenlieder"). Wem danach war, der durfte anschließend vertonte Lyrik von Friedrich Hölderlin, Eduard Mörike und Ludwig Uhland als Kunstlied hören, vorgetragen von Melanie Schlerf (Mezzosopran) und Hitoshi Tamada (Tenor), begleitet von Katie Lonson an der Gitarre. Alles sehr schön, alles sehr gut vorgetragen. Eine echte Lyriknacht.
Aber es gibt doch auch grundsätzliche Kritik: Ich finde es beschämend und traurig, dass zeitgenössische Stuttgarter Lyriker (Stuttgart steht ja im Titel!) da überhaupt nicht vorkommen. Mit Nico Bleutge und Uwe Kolbe hat das Literaturhaus einmal mehr Mainstream-Autoren präsentiert statt heimische Schriftsteller, beide von auswärts, beide vielfach preisgekrönt und herumgereicht. Jetzt also auch noch hier, wo einst lokale und regionale Autorenförderung angesagt war. Kein Ersatz, nirgends.
Das Schriftstellerhaus, von dem Lyriker Johannes Poethen vor 30 Jahren als Heimstatt und regionale Interessenvertretung lebender Autoren gegründet, begnügte sich mit zwei veritablen Toten. Akademisch gelehrt, aber eben nicht von einem Autor präsentiert, sondern von einem belesenen Lyrik-Kenner und einem Schauspieler. Und der Beitrag der Bibliothek selbst galt ebenfalls toten Dichtern (taniemenfrei), wobei die Honorare des Abends ausschließlich an Musiker und nicht an Autoren gingen. Aber was soll man sagen, wenn sogar die SWR2-Hörspielredaktion immer häufiger Hörspielaufträge an Komponisten vergibt, die kaum je ein Hörspiel gehört haben - geschweige denn geschrieben?
Nichts zeigt besser als diese Stuttgarter Lyriknacht ohne Stuttgarter Lyriker, wie tot die regionale Literaturförderung in der Landeshauptstadt ist. Die Rathauslesungen (in Stuttgart wurden die mal erfunden und waren bis zuletzt gut besucht!) wurden unter OB Schuster ebenfalls abgeschafft, und von Lesungen des Förderkreises Deutscher Schriftsteller höre ich auch nicht mehr viel. Wo einst blühende Landschaften kenntnisreich und sensibel vom Ministerium für Wissenschaft und Kunst und dem Kulturamt gepflegt wurden, ist heute für Stuttgarter Autoren eine Wüste. Da drin gibt´s Oasen, z.B. für Krimi-und Bestseller-Autoren. Aber nicht für Lyriker oder sperrige Essayisten. Walle Sayer war der einzige Lyriker, den das Schriftstellerhaus zur viel gepriesenen "Literatur im Salon" in diesem Sommer eingeladen hatte - sein Auftritt war ein Glanzlicht. Aber er ist in der Szene inzwischen zum "Big Name" aufgebaut worden und stammt auch nicht aus Stuttgart. Da stimmen einfach die Gewichtungen nicht. Aber das ist kein Wunder, wenn die Programme von Journalisten oder Kulturmanagern gemacht werden, die Autoren aus der Region einfach nicht beteiligen.
Veranstaltungen dieser Art sind eine Fata Morgana für eitle Literaturfunktionäre, denen die ewig hungrigen Schriftsteller selbst nur noch lästig fallen. Ein potempkinsches Dorf für Oberflächen-Bildungsbürger. Bei Licht besehen: ein Skandal. Ein Retro-Festival der lyrischen Eitelkeiten, das die lebenden Autoren mit kaum zu überbietender Verachtung straft. Weil Ihr Nicht-Stromlinienförmig-Sein erst nach ihrem Tod wieder zur Selbstbespiegelung taugt. Weil ihre Kreativität verdächtig und nicht leicht verdaulich ist. Weil die Verwalter von Literatur heute lieber sich selbst fördern als diejenigen, die es nötig hätten und besser verdienten. So verdienen sie halt gar nichts mehr mit ihrer ohnehin meist brotlosen Kunst. Dass sie brotlos ist, verdankt sich solchen Zuständen - in einem immer noch reichen Land.
Dabei wird gern vergessen: Auch Mainstream-Autoren waren mal klein. Sie wurden zu dem gemacht, was sie heute sind: durch Preise wie den Thaddäus-Troll-Preis, durch Stipdendien, Einladungen zu Deutsch-Schweizer Autorentreffen, dem "Irseeer Pegasus", Landes-Literaturtagen und anderen Festivals, bezahlte Lesungen, Aufmerksamkeit in der Presse. Literaturförderung darf nicht zur reinen Mainstreamförderung verkommen, die Autoren aus der "zweiten Reihe" aus dem Blick verliert. Sie sollte auch nicht zur reinen Leseförderung werden wie bei "Eine Stadt liest ein Buch". So etwas ist schön, solange dabei Autoren aus dem Land nicht auf der Strecke bleiben wie 2011 in Stuttgart. Da sind Veranstaltungen wie das Eifel Literaturfestival oder die neuen Karlsruher Literaturtage von deutlich anderem Zuschnitt.
P.S.: Liebe Literaturfreunde, kommt mir jetzt nicht mit dem Totschlagargument "Neiddebatte", wo doch nur Gerechtigkeit angefragt ist (vielleicht auch noch die Zweckentfremdung von Steuermitteln zur regionalen Literaturförderung)! Auch Dichter wollen leben und haben ein Recht darauf. Das aber wird in Stuttgart vergessen - oder noch schlimmer - sehenden Auges dem Zeitgeist geopfert. Hier geht´s um nicht mehr und nicht weniger.

Freitag, 6. September 2013

Igor Levit in Stuttgart: eine magische linke Hand

Igor Levit am 04.09.2013 bei seinem Klavierabend in der Stuttgarter Liederhalle: eine leuchtende linke Hand! Johann Sebastian Bachs "Chaconne" aus der Partita d-Moll für Violine solo - bearbeitet für die linke Hand von Johannes Brahms ist eine Herausforderung, die nur wenige Pianisten bestehen. Der Deutschrusse oder Russlanddeutsche tut´s mit Bravour. Er ist trotz seiner Jugend schon ein großer Meister mit unglaublicher Technik und sehr viel interpretatorischem Gefühl. Bei diesem Stück spielt er auch nur Klavier und verzichtete darauf, zusätzlich Theater zu spielen wie bei Beethovens Klaviersonate Nr. 17 d-Moll oder den Stücken aus den "Pilgerjahren" und den "Petrarca-Sonetten" Franz Liszt: Kein Grimassieren, kein gewollt diabolisches Augenrollen, Gehacke mit den Fingern, Händezittern und Gefletsche mit den Zähnen, kein unpassender Versuch, ins Klavier hineinzukriechen (sieht aus, als sei er extrem kurzsichtig, kommt gar nicht gut rüber). Am besten, man schließt die Augen, lehnt sich zurück und gibt sich ganz dieser wunderbaren Musik hin. 
Hinterher übrigens, beim Signieren seiner Beethoven-CD, erwies sich Levit als ganz normaler, freundlicher, netter junger Mann ohne Allüren oder Sperenzchen. Er ging auf jeden Wunsch des Publikums ein, war offen, plauderte locker und hatte sichtlich Spaß am Kontakt mit den Fans. So würde man sich alle wünschen, die hier spielen. Aber es werden ja auch mehr und mehr. Und vielleicht spielt er eines Tages nur noch Klavier. Nicht auszudenken- da könnte ein neuer Alfred Brendel heranwachsen... Das Musikfest Stuttgart hatte einma mehr ein Highlight. Die Menschen sind dankbar dafür und zeigen das auch mit lang anhaltendem Applaus, Bravorufen und Standing Ovations. Ein Ärgernis sind nur manche Leute im Saal, da können Künstler und Veranstalter nichts für: vor allem junge Frauen, die permanent an ihren Wasserflaschen nuckeln ("Nachbarin, Euer Fläschchen...") und manchmal den Verschluss klappernd fallen lassen, oder andere, die auch während des Konzerts fortwährend mit ihrem Smartphone spielen müssen.
Das ist schrecklich, unhöflich und lästig und sollte auch ruhig mal zum Platzverweis führen. Solche Unsitten sind zwar noch nicht so schlimm wie in manchen Opernlogen vor 200 Jahren, wo während der Darbietungen ziemlich ungeniert und laut getafelt oder auch gevögelt wurde, aber auf dem besten Weg da hin. Musik kann ja durchaus erotsierend sein, aber Klappern, Tippsen und Gluckern ist´s nicht.





Donnerstag, 29. August 2013

Musik hilft versöhnen: Das West-Eastern Divan Orchestra

Auftakt zum Musikfest Stuttgart mit Daniel Barenboim

Das Musikfest Stuttgart der Internationalen Bachakademie hatte am 22. August in der Liederhalle eine fulminante, sehr emotionale Eröffnung mit Daniel Barenboim und seinem East Western Divan Orchestra. Angesichts der Vorgänge im Nahen Osten war das ein wunderbares Beispiel dafür, was möglich ist, wenn unterschiedliche Menschen friedlich zusammen arbeiten: große Kunst! In diesem Orchester spielen junge Musikker aus Israel, Palästina und anderen Ländern des Nahen Ostens zusammen. Und sie vereint kulturell mehr, als sie politisch trennt. OIhne falsches Pathos spielten sie Verdi, Wagner (in Israels Staatsrundfunk noch immer ein Tabu wegen der antisemitischen Haltung des Komponisten) sowie Neue Musik von Saed Haddad, einem libanesischen Christen, und der jungen Jüdin Chaya Czernowin. Die Zugabe: Das Vorspiel zum 3. Akt der "Meistersinger". Der Beifall war riesengroß. Standing Ovations sowohk für das Orchester als auch den chariamatischen Dirigenten.
Die unnötigen Umbauten durch die Platzierung der musikalischen Experimente jeweils zwischen den Vorspielen zur "Sizilianischen Vesper", "La Traviata" und "Die Macht des Schicksals" von Giuseppe Verdi einerseits und Wagners "Parsifal" und "Die Meistersinger" andererseits war unnötig wie ein Kropf. Aber sonst war der Abend wunderbar! Bleibt zu hoffen, dass der neue Intendant Gernot Rehrl weiter so einen guten Riecher für die richtigen Gäste beweist und dass der neue Akademiechef Hans-Christoph Rademann die großen Fußstapfen von Helmuth Rilling ausfüllen kann.

Freitag, 9. August 2013

Eine Wende im Islam: Kein Gottesrecht gegen Menschenrechte

SWR 2 Buchkritik (Sachbuch) Katajun Amirpur:
Den Islam neu denken – Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte“.Verlag C.H. Beck München, 256 Seiten, 14,95 €

Viele islamischen Gesellschaften haben ein Problem mit Gleichberechtigung, Demokratie und Menschen-, vor allem Frauenrechten. Doch nicht der Islam hat den Anschluss an Moderne und Aufklärung verpasst, sondern privilgierte Gruppen islamischer Geistlicher, die seit 1000 Jahren eine primitive Lesart des Korans vertreten. Ihr Deutungsmonopol ist verantwortlich für Frauenfeindlichkeit und ein rückständiges Gottesbild, das nur ihnen nützt. Katajun Amirpur, Professorin für islamische Studien an der Universität Hamburg, hat jetzt ein überfälliges Buch vorgelegt: „Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte“. Ihre Systemkritik kommt von innen.

Im Zentrum steht der Koran selbst. Dieser ist als der Referenztext der islamischen Kultur das einzige, worüber sich alle Muslime einig sind, was man beispielsweise über die Auslegungen nicht sagen kann. Deswegen sind die hier vorgestellten Denker der Auffassung, dass jede Reform ihren Ausgang am Koran nehmen muss. Ohne eine koranische Legitimation hat sie keine Aussicht auf Erfolg.“

Die Autorin zeigt, dass die Vielfalt der Koranauslegun-gen immer ein Wesensmerkmal der islamischen Theologiegeschichte war. Sie lenkt aber vor allem die Aufmerksamkeit auf islamische Reformer von heute. Zum Beispiel zeigen die Auseinandersetzungen mit Salafisten und Muslimbrüdern in Ägypten seit dem „arabischen Frühling“: Innerhalb der islamischen Welt tobt ein Kulturkampf, und wir haben die Chance, die Modernisierer zu unterstützen. Einer davon ist der iranische Wissenschaftler und Theologe Abdolkarim Soroush. Er lebt seit über zehn Jahren in London, weil er den Mullahs unangenehme Wahrheiten wie diese predigte:

"Freie Gesellschaften, ob religiös oder areligiös, sind göttlich [d.h. mit Gottes Willen im Einklang] und menschlich; in totalitären Gesellschaften aber bleibt weder die Menschlichkeit noch die Gottheit übrig".

Amirpur stellt brillante Analysen des Korans durch die wichtigsten Denker eines Reformislam vor, der viel zu wenig Beachtung findet. Die meisten sitzen zwar im Exil, erhalten aber gerade jetzt Aufwind, weil die Islamisten ganz offensichtlich übertreiben.
Exzesse der Idiotie und Brutalität machen diese Reformer immer wichtiger. Der Ägypter Nasr Hamid Zaid etwa griff die Unfehlbarkeit der Geistlichen an. Die nannten ihn einen Gottlosen, und ein Gericht verfügte seine Zwangsscheidung, weil in Ägypten nur Muslime mit einer muslimischen Frau verheiratet sein dürfen. So läuft das!
Amirpur stellt mit Amina Wadud aus den USA und Asma Barlas aus Pakistan auch die wichtigsten weiblichen Vordenkerinnen eines neuen Islam vor. Sie bekämpfen die Sklavenhaltermentalität islamischer Machos. Sie wehren sich gegen Genitalbeschneidung, Zwangsheirat, die lebenslange Bevormundung durch Männer, das Eingesperrtsein im eigenen Haus. Die Verweigerung von Bildung oder Gewalt gegen Frauen werden ja auch noch gern – und völlig unsinniger-weise – mit dem Koran begründet.
Amina Wadud aus den USA zum Beispiel ist die erste Frau, die ein öffentliches Freitagsgebet leitete, an dem Männer und Frauen teilnahmen. Die konvertierte Tochter eines schwarzen Methodistenpfarrers sagt:

Für den, der in den Islam und die Gender-Apartheid hineingeboren wird, mag es Situationen geben, in denen manche Denkmuster, obschon sie unterdrük-kerisch sind, erduldet werden. Ich hatte diesen Hintergrund nicht und akzeptiere nichts, das meine Würde verletzt. Dagegen hatte ich ja schon in einem rassistischen Amerika zu kämpfen gelernt.“

Für Wadud und ihre Kollegin Asma Barlas beleidigt das Patriarchat den Islam und die Moral, weil es ungerecht ist. Es setzt die eigene Auffassung von Gottes Offenbarung mit der Offenbarung selbst gleich und die eigene Person an die Stelle Gottes. Was wäre das für ein jämmerlicher Gott, der universale Gerechtigkeit fordert und Ungerechtigkeit zwischen Männern und Frauen duldet? Gottesrechte gegen Menschenrechte auszuspielen, so die Autorin, ist gegen jede Religion und jede Vernunft: Es ist zutiefst dumm und anachronistisch. Auch davon erzählt dieses Buch sehr überzeugend.


Doris Runge und die Urkraft der Dichtung


SWR2 Buchkritik: Doris Runge „zwischen tür und engel“, Gesammelte Gedichte. 
Deutsche Verlagsanstalt (DVA) München, 253 Seiten, 22,99 €
Gute Lyrik kann man auf mehreren Ebenen lesen und interpretieren. Sie ist mehrdeutig wie das Gedicht aus dem Band „zwischen tür und engel“, von dem eine Zeile den Titel gab. Die gesammelten Gedichte von Doris Runge sind zum 70. Geburtstag der Autorin am 15. Juli erschienen. Ausgewählt und in einem schönen Nachwort erklärt hat sie Heinrich Detering. Er versteht diesen zentralen Text als Sterbegedicht, aber man kann durchaus auch an eine erotische Begegnung denken. Der Titel lautet „blind date“:

es muss ja nicht
gleich sein
nicht hier sein
zwischen tür und
engel abflug
und ankunft
in zugigen höfen
es könnte
im sommer sein
wenn man
den schatten liebt
es wird keine
liebe sein
jedenfalls keine
fürs leben

Tatsächlich ist der Text beides. Hinter einem One-Night-Stand verbirgt sich der Todesengel. Auch wenn die Autorin in früheren erotischen Gedichten den Liebhaber nicht selten „Engel“ nennt – oder gerade deswegen. Was ist das Leben anders als die Liebe – eine flüchtige erotische Begegnung, schmerzhaft eingeklemmt in den schmalen Spalt zwischen Tür und Angel? Abflughallen irdischer Flughäfen, Ankunft im Jenseits? Doris Runge spielt meisterhaft mit solchen Mehrdeutigkeiten. Und Herausgeber Heinrich Detering betont diese Stärke durch die getroffene Auswahl. Es sind ihre schönsten und wichtigsten Texte, jedenfalls die allermeisten davon.
In konsequenter Kleinschreibung, ohne Satzzeichen und in konzentrierter rhetorischer Verknappung präsentieren diese Gedichte die Nachtseite der Romantik. Schon ganz zu Anfang finden sich typische Alltagsbeobachtungen mit Falltüren ins Psycho-Land. Zum Beispiel:

manchmal nachts
die morde
die wir tagsüber
mit sauberen händen
begehen

In elf Kapiteln, wobei die zwei ersten jeweils nur zwei Gedichte enthalten, folgt dieses Buch im Wesentlichen der Chronologie von Doris Runges Gedichtbänden: Von „Liedschatten“ im Jahr 1981 – mit IE geschrieben und eben KEIN kosmetischer Begriff – bis heute pendeln sie zwischen Eros und Tod. Runge-Gedichte sind ein Hexenkessel: Bannflüche, Bindesprüche, blutsaugende Vampirliebe. Sie schreibt die „Ballade von einem, der einzog, das Fürchten zu lernen, sieht sich „überm Teekessel, weiße Wolken, beschlagene Brillengläser“.
Hexen, Nixen oder auch die Mönche des alten Klosters in ihrer Heimat Cismar an der Ostsee: Runges Personal liebt Schatten, Mondnächte, das Überschreiten der Grenzen zwischen Realität und Phantasie. Sie leben in Zwielichtwelten mit einer großen Tradition seit Goya, Theodor Storm oder E.T.A. Hoffmann. Manchmal kommt das lyrische Ich daher wie Draculas Braut oder eine Werwölfin.
Das letzte Kapitel heißt „federleicht“ und enthält neue Gedichte. Da staunt man wie die Autorin selbst darüber, was für ein blauäugiges, neugieriges, hungriges Kind noch in ihr lebt. Wirklich, in der Poesie sind 70 Jahre kein Alter. Das buchstäblich letzte Wort aber hat die Urkraft von 50 Jahren Dichtkunst:

könnte ich
den zorn halten
ihn einspannen
wie einen ochsen
ich würde
das brachliegende
tiefstumme
weiße
papier aufreißen...
schwarze lettern zerbrechen
aus den bindungen reißen
könnte ich den zorn halten
ich würde werwölfig umgehen

Wie es im Nachwort treffend heißt, hat man diese Gedichte sehr schnell durch. „Aber man wird nicht fertig damit“. Das sind Gedichte, die nachwirken. Dieses Buch ist ein Lebenswerk, das man ruhig immer wieder zur Hand nehmen sollte.

Sonntag, 21. Juli 2013

Triumph der Liebe und des Belcanto über Bosheit und schlechtes Libretto: "Ricciardo e Zoraide" bei Rossini in Wildbad

In der Mitte (von links): Alessandra Marinelli als Zoraide und Maxim Mironov als Ricciardo

Das war zwar "nur" eine konzertante Opernaufführung unter der Leitung des jungen spanischen Dirigenten José Miguel Pérez-Sierra. Aber erstens war die Musik wunderschön und zweitens kann da schon mal kein Regisseur was verhunzen. Drittens aber waren da vor allem zwei junge Sänger in den Hauptrollen zu hören, die sicher noch die ganz große Karriere machen werden. Die Sopranistin Alessandra Marianelli (Zoraide) und der Tenor Maxim Mironov (Ricciardo) in den Hauptrollen waren einfach umwerfend und sangen, als wären sie an der Met in New York oder an der Mailänder Svala und nicht in der überhitzten alten Trinkhalle eines Kurortes im Schwarzwald. Klasse!
Vor allem die Duette (auch der musikalisch-dramatische Zickenzoff zwischen der Königin Zomira Silvia Beltrami und der vom König vergeblich angehimmelten, entführten Zoraide), Terzette und Quartette waren Höhepunkte von Rossinis Schöngesang. Das aufwändige Bühnenbild des "Tell" musste noch für eine Vorstellung stehen bleiben, das hat sicher zu der Entscheidung beigetragen, diese Oper konzertant aufzuführen. Musikalisch geschadet hat es ihr nicht. Der junge Dirigent machte seine Sache ausgezeichnet, die Virtuosi Brunensis und der Chor Camerata Bach ebenfalls.
Aber auch der Bösewicht sang eine furiose Partie: Der Amerikaner Randal Bills (im Bild ganz links) hat eine Tenorstimme von stahlharter Strahlkraft - ideal für den Tyrannen, den er hier zu geben hatte. Seit der letzten Spielzeit gehört er fest zum Ensemble der Oper Leipzig, aber Gastrollen führten ihn schon um die ganze Welt. Zusammen mit Mironov und Artavazd Sarsyan, der Ricciardos Freund Ernesto gab, standen hier drei Tenöre in einer Oper auf der Bühne - eine Seltenheit, aus der ein Komponist wie Rossini aber durchaus Funken schlug. Die drei ergänzten sich prächtig.
Das Libretto ist schnell erzählt und eigentlich belanglos - bloß ein wildes Durcheinander historisch falscher Orientalismen plus Gefälligkeitsarien für eine überflüssige Figur (Zoraides Vater): Finsterer Tyrann, Herrscher von Nubien, raubt Braut eines Kreuzritters, die ihn standhaft abweist und mittels einer unglaubwürdigen Mischung aus List, Gewalt und ziemlich dämlichen Intrigen von ihrem Verlobten und dessen Freunden befreit wird. Der Text wimmelt nur so von Platitüden und Klischees, aber wa soll´s. Unmotiviert blieben zudem einige wenige Chor-und Orchesterpassagen aus dem Off: Da wurden die Musiker zunächst aufgenommen und echoten dann recht sinnlos ein bisschen herum. Solche kleinen Einschränkungen nimmt man als Musikfreund aber gerne hin, wenn im übrigen so engagiert und phantastisch gespielt und gesungen wird wie hier.

Freitag, 19. Juli 2013

Eine Erkundung: Wie gesund ist Bad Gastein?

Die Hotelstadt mit Wasserfall

Ein bisschen Zauberberg für Reiche

Kein Parkplatz nirgends und viel Verfall

Am Heilstollen I: So könnte jedes Hallenbad von außen aussehen

Prospekte gibt´s gratis - auch russisch

Weiterunten ist das Gasteiner Tal dörflich-bescheiden

Bad Gastein von ferne: ein schöner Schein und eine sterbende Idylle

Thermalwasser auch in Hotelpools für Normalos: Bad Hofgastein
Bad Gastein hat einen Weltruf als Kurort: eine urbane Hotelbastion, die z.T. schon verfällt, weil in einer Höhe über 1000 Meter die Straßen und Hotelbauten an Steilhängen extrem pflegebedürftig und teuer sind. Was Besucher anzieht, ist ein Thermalwasser, das Radongas enthält und daher dreifach wirkt: gut für den Bewegungsapparat (Wirbelsäule, Rheuma und Schmerztherapie), gut für die Atemwege (Asthma, COPD), gut bei hartnäckigen Hautkrankheiten wie Schuppenflechte, Allergien etc. (wegen Förderung der Immun-Abwehrkräfte). Das Radonwasser gibt´s nur als Wannenbad, denn in Hotel-Pools toben auch Kinder unkontrolliert herum, die sich an keine Dosierung halten. Radon ist aber nichts für Spontis, sondern darf nur unter medizinischer Aufsicht verwendet werden. Das Thermalwasser ohne das leicht radioaktive, medizinisch aktive Radon (kann, da es ein Gas ist, einfach herausgequirlt werden) gibt es auch einfach in vielen Hotelpools für Normalverdiener - deutlich preiswerter weiter unten im Tal, z.B. in dem Ortsteil Bad Hofgastein. Die absolute Krönung der Gasteiner Kur ist aber der Heilstollen im Berg über Bad Gastein: nichts für Klaustrophobiker und nur auf ärztliche Verschreibung. Dafür zahlt´s aber auch die Krankenkasse.
In diesem Stollen wurde vor 100 Jahren mal nach Gold gesucht. Man fand keins, aber die hohe Luftfeuchtigkeit und Wärme (rund 40 Grad) viel auf. Das war nicht die Nähe zum Erdinneren, denn die heißen Quellen liegen eigentlich 1000 Meter tefer. Durch Spalten und Risse im Gestein stiegt (und steigt) der Dampf des radionhaltigen Thermalwassers hoch bis in den Stollen. Dort reichert sich das Edelgas in einer feuchten, warmen Atmoshäre so optimal an, wie es kein Apotheker besser hinbekäme - sagen jedenfalls einige wissenschaftliche Studien. Hier also legen sich auch Lungenkranke auf Liegen und atmen schwitzend vor sich hin, was das Zeug hält. So schmilzt das Rheuma einen sanften Tod, die Haut erholt sich und das Wohlbefinden bessert sich. Ich hab´s einmal gratis im Schuppermodus ausprobiert: Nicht schlecht. Da drinnen darf man leider nicht fotografieren. Aber vielleicht ist das auch für eine Digitalkamera besser so. Ich hab´s auch noch nicht in der Sauna probiert...


Sonntag, 14. Juli 2013

Rossinis "Guillaume Tell": Große Freiheitsoper in Bad Wildbad


"Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr"
Es passte aber auch wirklich alles bei der Premiere der Oper "Guillaume Tell" von Gioacchino Rossini am 13. Juli in Wildbad: Wetter, Musik, Bühnenbild, Regie, auch die politischen Kämpfe um demokratische Freiheiten in Ägypten, in der Türkei, aber auch in den Ländern des "Westens", die einen aktuellen Hintergrund bildeten.
Alles zusammen ergab am ersten großen Opernabend der Saison im Schwarzwald die Premiere einer grandiosen Freiheitsoper. Zum 25. Geburtstag des Festivals "Rossini in Wildbad" hätte es nicht besser laufen können: Das Ganze wurde zu einem musikalisch-theatralischen Rütlischwur, der das Publikum zu Beifallsstürmen hinriss. Regie führte diesmal der Intendant Jochen Schönleber persönlich, die musikalische Leitung lag in den bewährten Händen des erfahrenen Rossini-Dirigenten Antonino Fogliani, und auch sonst wurde nichts dem Zufall überlassen.
Der Camerata Bach Chor lief zu großartigen Leistungen auf, das Orchester Virtuosi Brunensis (die Musiker aus Brünn sind ebenfalls Stammgäste in Wildbad) war in glänzender Spiellaune. Robert Schrag hatte eine stilisierte Gebirgslandschaft als Bühnenbild geschaffen, das mit 20 Meter Tiefe für die Massenszenen mit Schweizer Milizionären ebenso intelligente Lösungen anbot wie für Augenblicke intimer Zweisamkeit im Hause Tell oder bei den Liebesduetten zwischen Arnold Mecthal und der designierten Regentin Mathilde von Habsburg. Die Kostüme von Claudia Möbius, die deutsch-französischen Übertitel von Reto Müller, die Choreographie von Matteo Graziano für die Balletteinlagen passten ebenfalls bis aufs i-Tüpfelchen.
Für eine Oper von über vier Stunden ist es eine enorme (und seltene) Leistung, Rossinis Auftragsarbeit Pariser Opéra überhaupt zu stemmen. Die wollte im Entstehungsjahr 1828 nicht einfach eine Oper, sondern bereits ein Gesamtkunstwerk, in dem Musik mit anspruchsvoller Literatur, Tanz und bildender Kunst zu verknüpfen sei. Diverse Komitees prüften akribisch die Balletteinlagen, die historisierenden Kostüme, bei der Inszenierung vor allem die Bewegung der gewaltigen Chöre. Es gab Vorschriften, die bis in die Besetzung hinein reichten. Daher die Länge des Werkes - und daher auch die Länge der Produktionszeit. Rossini, der sonst schon mal eine komplette Oper in ein- bis zwei Monaten auf die Bühne stellte, brauchte hier anderthalb Jahre bis zur Uraufführung des "Tell" am 3. August 1829 an der Académie Royale de Musique.
Das Ergebnis ist ein unerhörter Reichtum an musikalischen Einfällen, Chorsätzen, Arien, Duetten, Terzetten, Quartetten und Ensemblenummern. Rossinis legendäre melodiöse Vielseitigkeit und Vielstimmugkeit erreicht hier einen Höhepunkt des Schönklangs, der zugleich Schlusspunkt war. Mit seinem angekündigten Rückzug vom Opernschaffen und mit angeblichen Krankheiten hatte er seinen Marktwert so in die Höhe getrieben, dass nur noch der Ruhestand blieb, den der Komponist insgeheim längst wollte.
Der "Tell" ist in mehrfacher Hinsicht eine ungewöhnliche Oper, nicht nur durch seine Länge und musikalische Kraft. Es ist die französische Oper eines Italieners mit einem Libretto von Étienne de Jouy und Hippolyte Bis zum Gründungsmythos der Schweiz - nach dem Drama des Deutschen Friedrich Schiller: ein wahrhaft europäisches Werk also. Es war aber auch immer ein "work in progress", denn schon nach der Pariser Uraufführung floss die Aufnahme durch Presse und Publikum in immer neue Varianten ein, bei denen der Zeitgeist keine unerhebliche Rolle spielte. Es gab zahlreiche Bearbeitungen und häufige Zensureingriffe wegen der revolutionären Dynamik mit Tyrannenmord und Freiheitsrufen. Es gab aber auch Kürzungen (vor allem bei den extrem langen Tanzeinlagen) von vier auf drei Akte.
Schon während der Ouvertüre verknüpfte die Regiedas Geschehen klug mit zeitgenössischen Assoziationen zur "Arabllion" und der "Blockupy"-Bewegung. Die Misshandlung von Frauen und Zivilisten, die Demütigung und Unterdrückung der Völker durch Regierungen so genannten Global Player (damals Habsburg), die sich außerhalb der Gesetze stellen und grausame Sippenhaft üben, fand ihre nonverbale Entsprechung in getanzten Sequenzen. Der Sohn Tells (Jemmy, eine fulminante, sich vom stummen Statisten zum Heldensopran steigende Hosenrolle mit Tara Stafford), der vom Opfer zum Helden des Widerstandes gegen Gessler wird, die Chöre der Frauen und Männer, die den Gessler-Hut grüßen müssen und auf Gewalt mit Gewalt reagieren: das alles steigert sich zum Volksaufstand gegen Tyrannei, dem sich sogar die designierte Regentin aus Liebe zu Arnold anschließt, dem Sohn des ermordeten alten Macthal. Die Perversion der alpinen "Kuhreigen"-Volkstänze zum demütigenden Erschöpfungs-Tanzritual zu Gesslers Ehren gerät ein wenig arg lang, aber so steht´s halt in der Partitur. Und dass im französischen Libretto Habsburg als der Erbfeind aus Deutscland erscheint: geschenkt.Zu seinem 25. Geburtstag hat Wildbad sich und dem Publikum eine vollständige Aufführung nach der kritischen Ausgabe der Partitur der "Fondazione Rossini" in Pesaro gegönnt, die als neue Referenzgröße dienen dürfte. Dafür wird schon die Aufzeichnung des SWR sorgen, die in ein- zwei Jahren als CD bei NAXOS oder SWR Classics erscheinen wird.
Andrew Foster-Williams als Tell
Rossinis Tell ist radikaler als der von Schiller, aber einen blindwütigen Fanatiker, den Intendant Schönleber hier sieht, zeigte die Aufführung eigentlich nicht. Nur einen, der sich dem Landvogt Gessler mehrfach ganz offen widersetzt und dafür auch in Ketten gelegt wird und beim Apfelschuss aus Liebe zu seinem Kind Qualen leidet, konnte man erleben: durchaus psychologisch glaubwürdig bis hin zum finalen Tyrannenmord. Motivation: zusätzlich hat Rossinis Gessler nach dem Apfelschuss auch Tells Sohn in Sippenhaft genommen und bedroht den geflüchteten Schützen rachsüchtig und wortbrüchig mit dem Tod. Andrew Foster-Williams gab ein überzeugendes Debüt als britischer Wilhelm Tell, stimmgewaltig und trittsicher.
Auch die übrigen Solisten waren sorgfältig ausgesucht. Der amerikanische Tenor Michael Spyres sang einen starken, klaren Arnold Mecthal, der trotz seiner Liebe zu Mathilde als Heerführer Rache für seinen ermordeten Vater nimmt. Er hatte seine besten Auftritte in den Liebesduetten mit Mathilde (die Britin Judith Howard, die zuletzt in Hesinki in Verdis "Don Carlo" und in Minneapolis die Titelrolle in Puccinis "Madame Butterfly" sang): ein musikalisch wie psychologisch stimmiges Paar, das die Abgründe eines zwiespältigen Weges durch beschädigte Loaylitäten zum privaten Glück souverän bewäligte.
Zu den Entdeckungen dieser Aufführung dürften zwei junge Sänger gehören, die noch am Anfang ihrer Laufbahn stehen und sich hier eindeutig für Größeres empfohlen haben: der argentinische Bass Nahuel Di Pierro, der mit großer stimmlicher Präsenz den Eidgenossen Walter Fürst sang und in famoser Maske auch den alten Vater Mecthal), sowie die bereits erwähnte Tara Stafford aus Baltimore im burschikosen Punk-Look. Ihr glockenreiner, durchsetzungsfähiger Koloratursopran begeisterte nicht nur die Zuschauer, sondern auch ihre Mitsänger. Die Bösewichte Gessler (Raffaele Facciola, Bass) und Rodolphe (Giulio Pelligra, Tenor) waren stimmlich eher farblos; aber das könnte sogar Absicht einer Besetzung gewesen sein, die strahlende Helden in den Vordergrund rückte.
Das Arrangement des Tell-Abends war in mehrfacher Hinsicht ein Experiment. Um den langen Operngenuss zu erleichtern, hatte im Hotel "Rossini" (vormals "Bären") in einer großen Pause ein Abendessen angerichtet, von dem man rechtzeitig zum 3. Akt wieder zurück bei der Aufführung in der Trinkhalle sein konnte. Ein Wermutstropfen muss trotzdem in den guten Wein dieses Abends: viereinhalb Stunden verlangen dem Sitzfleisch schon einiges ab, vor allem wenn ältere Leute mit Rückenproblemen zu kämpfen haben. Dass aber anscheinend zwei Sitzreihen mehr als bisher in die Trinkhalle gezwängt wurden, sorgte für qualvolle Enge selbst bei mittelgroßen Opernfreunden, die im Flugzeug noch Economy fliegen können, ohne ständig mit den Knien an die Lehne des Vordersitzes zu stoßen. Für ein paar verkaufte Karten mehr mussten alle leiden. Ich will nicht hoffen, dass die Standing Ovations am Ende auch mit dem Drang zu tun hatten, sich aus dieser schmerzhaften Eingeklemmtheit zu befreien.

Beim Schlussapplaus vereinigt: Gut und Böse bei Rossinis "Tell" in Bad Wildbad