Sonntag, 30. September 2012
Alred Marquart ist tot - ein Nachruf
Das ist Alfred Marquart (geboren am 23.11. 1945 in Karlsruhe, gestorben am 3. 9. 2012 in Heidelberg): Autor und Redakteur für SDR, später SWF und nach der Fusion schließlich den SWR. Die meisten Menschen kennen ihn als den Erfinder der SDR-Sendung "Bücherbar" oder der ersten deutschen Radio-Soap, "Der Frauenarzt von Bischofsbrück". Damals nahm man solche Sachen ironisch, und das war genau seine Einstellung zum Leben, auch wenn er hier bei einer Betriebsfeier im Jahr 2004 eher nachdenklich aus der Wäsche schaut. Leider habe ich nur dieses eine Foto von ihm gemacht, weil ich dachte, wir hätten noch eine Menge Zeit. Wir hatten noch so viele Pläne: wir wollten z.B, noch radiophon auf der Hannibal-Route die Alpen überqueren oder auf den Spuren seines Großvaters Prag erkunden.
Alfred war "Die Stimme von SWR2", ein begnadeter Moderator, ein wacher Journalist, ein großer Kenner von Literatur und Musik. Man konnte mit ihm über Asterix und Obelix ebenso fachsimpeln wie über Dostoijewski, Goethe oder Rossini und Verdi. Er war aber auch der beste Freund, den man sich vorstellen kann. Und deshalb konnte man mit ihm auch so wunderbar diskutieren und lästern über Gott und die Welt und die Zeitläufte und den täglichen Irrsinn beim Sender.
Ich kann hier nicht unsere ganze gemeinsame Geschichte erzählen oder sein Lebenswerk unfassend würdigen. Aber ich will kurz erzählen, warum ich ihn niemals vergessen werde und schon jetzt schmerzlich vermisse. Alfred war vieles, aber sicher nicht geländegängig. Er war ein Stadtmensch, und so - mit dunklem Anzug, weißem Hemd und schwarzen Halbschuhen, begleitete er mich 2002 z.B. wegen meiner "spanischen Kulturfeatures" auf ein keltisches Musikfestival nach Ortigueira (nächster Flughafen: Santiago de Compostela): 20 000 junge Musikfans in einem 2000-Seelen-Städtchen.
Einmal wollte ich dem Gerücht nachgehen, im Zeltlager in den Dünen seien "urige keltische Rituale" zu beobachten - nix da. Wir kamen mit einem Pendelbus hin, aber nicht mehr zurück. Denn es war die Zeit des allgemeinen Aufbruchs zum Festplatz, etwa 4 Kilometer entfernt. Dreimal drängten uns die jungen Fans in ihrer Begeisterung ab, und der Bus fuhr ohne uns.
Da setzte sich Alfred auf einen Baumstamm am Straßenrand und erklärte: Ich gehe jetzt keinen Schritt mehr! Wir sind trotzdem wieder heim gekommen. Nicht zuletzt wahrscheinlich, weil ich ihm versprach, ihn bei der ersten Bar am Ortsrand zu lassen, damit er etwas trinken konnte, und ihn später mit dem Auto abholen würde - das stand nämlich kilometerweit weg am anderen Ortsende. Auch in seinen Schwächen war Alfred noch großartig. Mit kindlichem Vertrauen verließ er sich darauf, dass ich ihn als Dolmetscher und Fahrer (er hatte keinen Führerschein) nicht nur zurück in die Zivilisation bringen würde, sondern auch in tolle Restaurants, an spannende Plätze der Geschichte, zu interessanten Leuten und in Landschaften voller Schönheit.
Alfred hat mich als Kollege schon Anfang der achtziger Jahre ermuntert, in der Sendung "Circus culturelli" auf SDR3 live am Mikrofon zu sprechen. Er hat mich immer wieder zu Experimenten ermutigt, konnte sich für Ideen anderer begeistern und war niemals herablassend, auch nachdem er Karriere gemacht und es bis zum Feuilletonchef bei SWR2 gebracht hatte. Er sagte immer "Ich habe Glück gehabt" - und an diesem Glück wollte er andere teilhaben lassen. Ich weiß nicht, wie oft er mich zum Essen eingeladen hat, als ich ihn als Autor besuchte, um Ideen, Pläne und Projekte mit ihn zu besprechen. Und als ich einmal kein bezahlbares Zimmer iin Baden-Baden fand, obwohl ich schon jahrelang dort als Redakteur arbeitete, brachte er mich kurzerhand mehrere Wochen lang im Zimmer seines Sohnes unter und wollte kein Geld dafür.
Diesen Mann traf ein Schlaganfall nur wenige Monate, nach dem er in den Ruhestand gegangen war. Ausgerechnet die Stimme, die Fähigkeit zu sprechen, kehrte nie wieder zurück. Alfred war nur noch ein Schatten seiner selbst. Noch zwei Jahre hat er daruter gelitten. Sein Tod war eine Erlösung - und bedeutet zugleich einen schmerzlichen Verlust. Menschen wie Alfred Marquart werden immer seltener. Mit seiner umfassenden Bildung, seinem streitbaren Intellekt und seiner menschlichen Wärme hat er einen Sender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geprägt. Er hatte noch echte Wertschätzung für Autoren im Leib. Heute prägen uns Sparkommissare, die keinen Respekt vor ihrem Auftrag zur kulturellen Grundversorgung haben und gerade mal eben zwei Radio-Sinfonieorchester fusionieren wollen, als wären das Gemüseläden.
Donnerstag, 13. September 2012
Wunderbare Gedichte
SWR2 Buchkritik
Wulf Kirsten: „fliehende Ansicht.“ Gedichte. S.
Fischer Verlag., Frankfurt a.M., 78 S, 16,99 €
Als Wulf Kirsten 1987 den Peter-Huchel-Preis des
Südwestfunks und des Landes Baden-Württemberg bekam, lobte die
Jury bereits die Genauigkeit seiner Naturlyrik in dem Band „Die
Erde bei Meißen“. Sie ist bodenständig, ohne jemals auch nur
ansatzweise zu „tümeln“. Auch sein neuer Gedichtband „fliehende
ansicht“ ist erdverbunden, aber nie provinziell oder gar bloß
höhere Heimatliteratur. Kirsten ist auf dem Dorf bei Meißen
aufgewachsen. Er wurde erst Buchhalter und dann Verlagslektor in
Weimar – Berufe für besonders genaue Leute. Das Titelgedicht
„fliehende ansicht“ beschreibt vordergründig eine Zugfahrt
durchs Tal der Saale. Zitat:
...o tempora, o mores,
jeder bahnhof, der vorbeifliegt, ist
längst abgeschrieben, triste
angelegenheiten langhin verzettelt,
eine ruinöser als die andre,
scherbenhaufen hinterlassen, schutt...
Das ist moderne Vanitas-Dichtung und zugleich
politischer Protest gegen den Zeitgeist. Als Führer durch die
Geschichte der Region erklärt er bissig, was vorüberzieht: der Sitz des Nazi-Rassetheoretikers und Kunstprofessors
Paul Eduard Schultze-Naumburg, die Burg Saaleck mit ihrer
Historie, das Kösener Bahnhofslokal, wo sich Friedrich Nietzsche als
Schüler der nahe gelegenen Landesschule Pforta einmal fürchterlich
betrank.
Es ist schon fast unheimlich: Nur 78 Seiten dünn ist
dieses Bändchen; doch schriebe man alle Erklärungen aus, die
als Kürzel oder Andeutung in Namen und Orten stecken, würde es
doppelt so dick. Kirsten spielt mit Wörtern und Wortfeldern,
Bedeutungsebenen und Assoziationen. Seine Alterslyrik setzt neben der
Melancholie einer gewissen Todesnähe auch Humor und Ironie ins
Bild, etwa im „nachruf“ auf einen Medizinalrat K., dessen Praxis
nun Sperrmüll ist: „abgeschriebenes verdinglichtes leben, nun nur
noch Gerümpel … kisten und kästen, lampen und lumpen“. Solche
Wortspiele liebt Kirsten. Auch der Arzt kann sich am Ende selbst
nicht helfen. Und dann heißt es:
...jählings gefällt der mann,
ein hühne, sportlich gestählt,
firm in so mancher olympischen disziplin,
inbegriff eiserner konstitution,
ein luftzug hat ihn unter die erde
geweht, auf dem entsorgten gestühl
singt eine amsel und schmettert
voller wohllaut ihren nachruf
in den taufrischen morgen.
So ein starkes Finale mit Pointe zum Schmunzeln ist eine
von Kirstens Spezialitäten. Ansonsten ist er formal seiner
konsequenten Kleinschreibung treu geblieben – mit Ausnahme von
Eigennamen. Er baut seine Gedichte in frei-rhythmischen Versen ohne
Gliederung in Strophen oder Abschnitte. Punkte stehen fast nur am
Ende. Diese Texte fordern Konzentration, manchmal auch mehrmaliges
Lesen.
Eigennamen, die einzig großgeschriebenen Wörter bei
Kirsten, sind der Schlüssel zu einer weiteren Qualität seiner
Texte: der Schluftergraben im thüringischen Herbsleben, der
Ortsteil Röttelmisch in Gumperda, Saale-Holzland-Kreis
Thüringen oder die alte Jenaer Vorstadt Zweifelbach sind
Wüstungen – laut Lexikon Orte, die heute nicht mehr existieren
außer in Namen. Oft sind es sprechende Namen, die eine ganze
Geschichte erzählen.
Ob in Kindheitserinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, ob
in Dichterporträts, Landschaften, Flora und Fauna: Kirsten ist ein
Hüter klangvoller alter Wörter und Wendungen. So hält er sie
lebendig wie die unterschiedlichen Namen und Gebrauchsformen des
fast vergessenen Lippenblütlers Leonurus
cardiaca, aus dem Kräuterkundige früher
einen krampflösenden Tee gegen Herzbeschwerden gekocht haben. Solche
Verse sollte man laut lesen:
Löwenschwanz, Herzheil, Falscher Andorn,
Berufskraut zudem mitunter auch noch
gerufen, zumeist jedoch, wenn überhaupt
noch einer imstande, dir namen zu geben:
Leonurus, Katzenschwanz oder ganz einfach
Gemeines Herzgespann.
Diese 60 Gedichte gehören zum Schönsten und gedanklich
tiefsten, was deutsche Literatur derzeit zu bieten hat.
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