Seiten

Samstag, 21. Januar 2012

Große Literatur aus Spanien

SWR 2 Buchkritik: Antonio Muñoz Molina „Die Nacht der Erinnerungen“. Roman. Deutsch von Willi Zurbrüggen. Deutsche Verlagsanstalt, München, 1003 Seiten, 29,99 €.

Antonio Muñoz Molina, Jahrgang 1956, hat schon zwei Mal den spanischen Staatspreis für Literatur er­halten. Bisher hat er 18 in Thematik, Stil und Qualität sehr unterschiedliche Romane veröffentlicht. Aber der 1000-Seiten-Roman „Die Nacht der Erinnerungen“ ist wohl sein Lebenswerk: Der bisher tiefste Blick in die Abgründe des spanischen Bürgerkriegs zeigt au­thentische Vertreter des damaligen Madrid, zum Teil historische Gestalten wie den umtriebigen, sarkasti­schen Politiker Juan López Negrín, den letzten Premierminister der Zweiten spanischen Republik:

Was brauchen unsere Landsleute? Man muss sich nur in ein Straßencafé setzen und die Leute beobachten. Sie brauchen bessere Ernährung. Sie brauchen bes­seres Schuhwerk, die Kinder brauchen mehr Milch, damit ihnen nicht die Zähne ausfallen. Die Menschen brauchen mehr Sauberkeit und nicht so viele Kinder. Sie brauchen gute Schulen und anständig bezahlte Arbeit und, wenn möglich, eine Heizung im Winter. Das kann doch nicht so schwer sein!

Der Sozialist Negrín ist ein Freund und Förderer von Ignacio Abel, der Hauptfigur des Romans. In seinem Auftrag leitet der Arbeitersohn und Architekt Abel den Bau der modernen Universitätsstadt, wo García Lorca und Alberti, Dalí und der Filmemacher Buñuel ein- und ausgingen.
Am Vorabend des Bürgerkriegs beginnt Abel eine lei­denschaftliche Affäre mit der Amerikanerin Judith. Sei­ne Frau kommt dahinter, verlässt die Wohnung in Ma­drid und bleibt nach einem Selbstmordversuch mit den Kindern im Ferienhaus der Familie in den Bergen. Ju­dith, geplagt von Gewissensbissen, verschwindet spurlos. Abel aber kehrt allein nach Madrid zurück. Und während Franco-Truppen die Stadt einkesseln und die Republik in Gewalt und Chaos versinkt, irrt er auf der Suche nach Judith durch die Straßen. Abels Gefühlschaos, das Zerbrechen seiner Familie, seine Verachtung für die nationalistisch-klerikale Verwandt­schaft seiner Frau spiegeln die nationale Katastrophe im Kleinen.
Erzählt wird das alles in Rückblenden während der letzten Stunden von Abels Reise zu einer Gastprofes­sur in New York. Eine Zeitlupe, die gegen Unendlich tendiert, friert die Handlung oft ein auf quälend genau beobachtete Szenen, Augenblicke und Zustände. Opulent wie bei Thomas Mann formuliert, entfalten sich darin Erklärungen und Zusammenhänge, vor denen auch der Erzähler bis auf wenige strategische Fälle zurücktritt, in denen er „Ich“ sagt. Zum Beispiel:

Mit der Präzision eines Polizeiberichts oder eines Traums nehme ich alle Einzelheiten der Wirklichkeit wahr.

Immer wieder bleibt dieser erzählerische Röntgenblick an den äußeren Kennzeichen des Exils hängen: dem zerkratzten Koffer, den abgelaufenen Schuhen und dem Anzug, der einmal teuer war und inzwischen  ver­schlissen wirkt. In der einen Brusttasche steckt die Brieftasche mit Fotos von Judith und seinen Kindern, Ticket und Reisepapieren, in der anderen die letzten Briefe der Ehefrau und der Geliebten.
Durch Abels Erinnerungen kann der Leser sogar ins Innere von Abels Koffer blicken – mit dem Diplom vom Bauhaus in Weimar, 1934 unterschrieben von Walter Gropius und Karl Ludwig Rossmann. Immer wieder er­innert sich Abel an das Bild seines jüdischen Lehrers im Leichenschauhaus. Rossmann war erst aus Nazi­deutschland nach Moskau und von dort nach Madrid geflüchtet. Dort hatte er Füller repariert und verkauft, bis ihn irgendwelche Milizen als verdächtiges Subjekt erschossen. Abel hätte ihm vielleicht helfen können, wenn er früher gesucht hätte.
So zeichnet Muñoz Molina das Gesicht der Angst, des Todes, der Verrohung im Krieg, der menschlichen Schwäche und Verlogenheit. Sein Buch handelt von dem modernen Spanien, das es ohne diesen Bürger­krieg hätte geben können, und von den zwei Spanien, die es bis heute gibt.
Muñoz Molina erzählt eine Liebesgeschichte mit offe­nem Ausgang. Aber vor allem ist dieses Buch ein Versuch, die Zeit selbst im Erzählen aufzuheben oder anzuhalten. Als Ignacio Abel am Ende Judith wiedersieht, ist sie auf dem Weg zu den Internationalen Brigaden und reagiert mit Abscheu auf seine Flucht. Aber sie hört ihm zu. Und Ignacio erzählt, wie Scheherazade in „1001 Nacht“ um ihr Leben erzählt:

Wie befremdlich es war, mit anzusehen, wie aus ganz normalen Menschen, guten Bekannten, in die Enge getriebene Tiere geworden waren oder Jäger und Mörder. Er hatte sich in allem geirrt, am meisten aber in sich selbst, in seinem Platz in der Zeit. Sein Leben lang hatte er geglaubt, der Gegenwart und der Zukunft anzugehören, und jetzt erst hatte er begriffen, dass er sich deswegen so fühlte, als sei er aus der Zeit gefallen, weil sein Land Vergangenheit war.

Montag, 16. Januar 2012

Als Kultursponsor die Hände in Unschuld waschen?

Stolz wendet sich heute die Pressestelle des Mannheimer Nationaltheaters an die Presse mit der Einladung zu einer Pressekonferenz am 19. Januar: Bilfinger Berger wird Hauptsponsor für die geplante Film-Dokumentation des Neuen "Mannheimer Rings" durch den Regisseur Rudij Bergmann.


Bilfinger Berger, so viel zur Erinnerung, ist ein Bau- und Logistikunternmehmen, das durch ständige Fusionen und Beteiligungen auch mit deutschen Unternehmen Tausende von Arbeitslosen und Milliardengewinne auf dem Konto haben dürfte. Der Jahresumsatz 2010 betrug über acht Milliarden Euro.

Im Februar 2010, nach dem Einsturz des Kölner Stadtrarchivs, wurde der Verdacht auf Betrug durch Mitarbeiter von Bilfinger Berger beim Bau der Nord-Süd-Stadtbahn in Köln laut. Bis heute ernmittelt die Staatsanwaltschaft. Dabei geht es um den Vorwurf von gefälschten Messprotokollen bei der Erstellung der Schlitzwände an der Baugrube sowie um nicht eingebaute Teile der Stahlbewehrung in den Schlitzwänden. Der Vorwurf wurde von Bilfinger Berger am 24. Februar 2010 als zutreffend erklärt. Ende Februar 2010 folgte ein Verdacht auf gefälschte Protokolle beim Bau der ICE-Trasse Nürnberg-München sowie beim U-Bahn Bau in Düsseldorf. Die Mitarbeiter – ein Polier, ein Bauleiter und ein Oberbauleiter, gegen die staatsanwaltschaftliche Ermittlungen laufen – wurden entlassen. Sie hatten auch Protokolle manipuliert.

Am 8. März 2010 teilte der Vorstandsvorsitzende Herbert Bodner mit, dass zwei unabhängige Expertenkommissionen das Qualitätssystem umfassend auf den Prüfstand stellen wollen. In der Presse kam auch der Verdacht auf Schwarzarbeit und Lohndumping durch Subuinternehmer auf. Im Juli 2011 wurde der ehemalige hessische Ministerpräsidenten Roland Koch an die Konzernspitze berufen.

Warum erinnert mich das an die Geschichte russischer Oligarchen, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR mit organisierter Kriminalität Milliarden anhäuften und inzwischen tatsächlich versuchen, ehrlich zu werden? Die in der zweiten Generation, wie übrigens auch die Mafia, gesetzeskonforme Unternehmen gründen und nach der großen Geldwäsche nun in aller Unschuld mit dem moralischen Händewaschen beschäftigt sind? Die ihren Kindern die bestmögliche Ausbildung zukommen lassen und als großzügige Mäzene von Kunst und Kultur auftreten?

Auch Krisengewinnler, Agenten der "Treuhand"-Umverteilungen nach der Wiedervereinigung Deutschlands und Propagandisten von "Sachzwängen" der Globalisierung sehen, dass sich der Wind dreht, dass sie wohl bald auf die bisherige Art keine Geschäfte mehr machen können. Und so waschen sie ihre schmutzigen Hände in Unschuld.

Lutz Wengler, Stellvertreter der Generalintendantin des Nationaltheater Mannheim, und Thomas Töpfer, Mitglied des Vorstands von Bilfinger Berger, werden am 19.01.2012 Einzelheiten der Zusammenarbeit bei diesem Großoprojekt bekannt geben, das den Mannheimer "Ring" in allen Medien und in aller Welt bekannt machen soll.

Klar ist: Die Stadt und die Theater Deutschlands sind klamm, die Künstler brauchen Mäzene. Aber ob es solche sein müssen, sollten sie sich noch einmal überlegen. Im Zweifel wissen sie gar nicht, wie viele vernichtete Existenzen und wie viel Leid der Firma Bilfinger Berger das Geld für ihr Sponsoring in die Kasse gespült haben.

Samstag, 14. Januar 2012

Unrechtsregime beim Bahn-Projekt Stuttgart 21

Fluchtwege sollte es nicht bloß bei öffentlichen Bauten geben, sondern auch bei Großbauvorhaben

Peter Dübbers, der Enkel des Architekten Bonatz, hat Recht mit seiner Aussage, dass der Abriss des Bahnhof-Südflügels in Stuttgart eine "sinnlose Machtdemonstration" sei (einundzwanzig, Online-Ausgabe von heute). Denn angeblich braucht die Bahn den Platz für den Bau einer Baustraße und eines Kontrollzentrums für die Schluckbrunnen beim Grundwassermanagement.
In Wirklichkeit aber ist weder über dieses zusätzliche Wasserbauwerk noch den verdoppelten Umfang des Grundwassermanagements überhaupt eine Planfeststellung auf dem Tisch oder gar eine Genehmigung. Und so lange braucht man auch keinen Platz für irgend etwas beim Südflügel. Die Bahn ist also erneut dabei, ohne Rechtsgrundlage vollendete Tatsachen zu schaffen. Wahrscheinlich als kindlich-kindische Reaktion auf das Baumfällverbot: "Gibst du mir die Bäume nicht, dann nehm ich wenigstens deinen Bahnhof!" Für so etwas sollte wirklich kein Polizeischutz möglich sein.
Aber ganz allgemein gilt: Gesetze wie die zu Umweltschutz und Denkmalschutz dürfen nicht durch eine politische "Güterabwägung" zur Disposition gestellt werden. Sonst geht der Rechtsstaat zum Teufel. Entweder gelten Gesetze für alle, oder der demokratische Rechtsstaat wird zum potempkinschen Dorf, zur leeren Kulisse, zur Täuschung.
Die Winkeladvokaten der Projektbetreiber sind aber in  diesem Punkt wie viele Juristen schon seit der Ausbildung auf Unrecht geprägt.
Jedem Erstsemester wird genüsslich der Spruch vorgekaut "quod licet Jovi, non licet bovi" (Was Göttervater Zeus darf, darf der Ochse noch lange nicht). Das soll Ungleichheit zementieren in einem System, das angeblich auf die eisernen Säulen des römischen Rechts gebaut ist. Was die heutigen Interpreten dieses Satzes verschweigen: Sie sind nicht Gott oder gar Göttervater, und wir keine Ochsen bzw. Stimmvieh. Außerdem haben die alten Römer ihrem Chefgott Zeus gelegentlich einen Ochsen geopfert. Tier-oder Menschenopfer sind aber kein Merkmal unseres demokratischen Rechtsstaates.