Seiten

Samstag, 29. Dezember 2012

Der Islam muss weiblich werden!

SWR 2 Buchkritik Necla Kelek:
Hurriya heißt Freiheit. Die arabische Revolte und die Frauen“

Kiepenheuer & Witsch, Köln, 237 Seiten, 18,99 €.


Necla Kelek, in Istanbul geboren und in Berlin zu Hau­se, gehört seit Jahren zu den streitbaren Begleitern der Debatte über Islam und Integration in Deutsch­land. Sie kämpft gegen Zwangsehen, Beschneidung und Parallelgesellschaften, aber für Bildung und Frau­enrechte. Ihr Buch, „Hurriya heißt Freiheit. Die arabi­sche Revolte und die Frauen“ entstand nach einer Reise durch Ägypten, Tunesien und Marokko. Sie wollte aus erster Hand und nicht aus westlichen Medi­en hören, wie es den Frauen dort jetzt ergeht. Und ihre Bilanz ist ausgesprochen nüchtern:

Freiheit hat es zunächst für alle von den Regimes in Tunesien und Ägypten unterdrückten religiösen Eiferer und Fundamentalisten gegeben. Pressefreiheit und Freiheit im schwer kontrollierbaren Internet auch. Aber die Freiheit der Frauen, die Gleichberechtigung, der Sieg der Menschenrechte stehen noch aus.“

Ägypten, Tunesien, Marokko: drei sehr verschiedene Länder, die doch viele Probleme gemeinsam haben. Einerseits enorme Armut und Arbeitslosigkeit, vor al­lem bei den jungen Menschen; andererseits, als Kehrseite dieser Medaille, eine scheinbar unausrott­bare Korruption. Dazu ein furchtbarer Mangel an Wis­sen und Bildung, weshalb falsche Propheten leichtes Spiel haben. Und schließlich diese falschen Prophe­ten selbst: Salafisten, religiöse Eiferer der primitivsten Art, die jetzt wieder aus ihren Löchern kommen. Noch ein Zitat:

Dass bei den Protesten auf dem Tahrir-Platz Frauen teilnahmen, war für viele Männer ungeheuerlich und revolutionär. Die Frauen dringen mit ihrem Auftreten in den Bereich der Männer ein, wie sie in selbständiger Berufstätigkeit in männliche Domänen eindringen. Viele Männer sehen allein dies als Kriegserklärung.“

Die Autorin wirft die unterschiedlichen gesellschaftli­chen Strukturen und Traditionen der arabischen Län­der nicht in einen Topf. Aber mit einer Beharrlichkeit, die ahnen lässt, wieso konservative Muslime diese Frau hassen, kommt sie immer wieder auf einen zen­tralen Punkt: Die Geschichte islamischer Gesellschaf­ten war seit jeher eine Geschichte der Sklaverei. Seit Mohammed haben alle Kalifen Menschen zu Sklaven gemacht. Die Osmanen versklavten Christenkinder zu Janitscharen, Ägypten holte sich Tscherkessen als Mamluken. Das Prinzip gilt nach wie vor, so Kelek:
Die Frau ist die Sklavin des Mannes, auch wenn der Prophet und der Koran etwas anderes zulassen wür­den. Der Mann unterwirft sich Gott und herrscht über die Frauen wie über die Sklaven. Die islamische Ge­sellschaft lebt diese Hierarchie. Die Idee der Gleichbe­rechtigung von Männern und Frauen, sagt die marok­kanische Soziologin Fatima Mernissi, stellt eine grund­sätzliche Bedrohung der hierarchischen Ordnung des Islam dar.“

Allein mit ihren öffentlichen Auftritten bei Demonstra­tionen haben die arabischen Frauen an den Grundfes­ten dessen gerüttelt, was Necla Kelek die Apartheid der Geschlechter nennt. Bisher hat die Umma, die Ge­meinschaft der Gläubigen, alles dafür getan, diese Hierarchie als gottgewollte Ordnung zu verteidigen. Anführer des Kollektivs sind immer Männer, die Äl­testen und die Gelehrten – wie wenig gelehrt sie auch sein mögen. Daher der permanente Rückgriff auf Maß­stäbe wie Ehre, Ansehen, Schande und die Bereit­schaft zu nackter Gewalt. Letzten Endes fürchten tra­ditionell denkende Muslime nichts mehr als die Idee ei­ner demokratischen Gesellschaft gleichberechtigter Menschen. Echte Gleichberechtigung ist für sie unver­einbar mit dem Glauben. Noch ein Zitat:

Die Frauen in der islamischen Welt führen einen Mehrfrontenkampf. Gegen die Despotie der Herrscher, gegen die Geschlechterapartheid, für die Individualität. Sie haben mächtige Gegner – die Herrscher, die Männer und die geballte Macht der Verhältnisse.“

Necla Kelec erzählt von der jungen Bloggerin Meryam, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo dabei war und immer noch in Angst lebt. Von jungen Frauen in Tunesien, die im Internet einen Muslim in Deutschland suchen, weil sie daheim keine Zukunft sehen. Und von Fatima in Casablanca, für die Freiheit bedeutet, Arbeit zu finden und ihren Lohn behalten zu dürfen. Keleks Analyse ist nüchtern und zeigt, warum der arabische Aufstand scheitern und trotz allem weiter gehen wird. Das System aus Macht und Religion ist noch nicht besiegt. Aber es gibt Hoffnung, und die ist weiblich.

Sonntag, 16. Dezember 2012

Was man über König Juan Carlos von Spanien wissen sollte

SWR2 Zeitwort 22.11.1975: Juan Carlos von Spanien wird König

Am 22. November 1975 wurde Juan Carlos als König von Spanien proklamiert – nur zwei Tage nach dem Tod des Diktators Francisco Franco. Genau der schaut dem König aber bis heute über die Schulter, obwohl der König als überzeugter Demokrat gilt und 1981 einen Militärputsch beendet hat.

 

[Zitat-Quellen: WIKIPEDIA und mein Interview mit dem Autor Rafael Chirbes über seine Romane „Der Fall von Madrid“ und „Alte Freunde“]

Autor:
Der spanische Diktator Francisco Franco sah schon 1947 die Wiedereinführung der Monarchie vor, um seine Nachfol­ge zu sichern. Thronfolger wäre damals Juan de Borbón ge­wesen, der Vater von Juan Carlos, aber der hatte schon im Exil von Franco die Restauration der spanischen Monarchie gefordert und galt als dessen Konkurrent. Im August 1948 einigte er sich mit dem Diktator: sein ältester Sohn Juan Carlos sollte als Francos Nachfolger ausgebildet und nach dessen Tod König werden.
Der zehnjährige Juan Carlos kam 1952 nach Spanien und besuchte nach dem Abitur fünf Jahre lang die Militärakademien von Heer, Marine und Luftwaffe – nicht gerade die Laufbahn eines Bürgerrechtlers. 1956 hatte der Kadett Juan Carlos Osterferien und sein jüngerer Bruder Alfonso starb durch einen Unfall beim Reinigen einer Schusswaffe. Die gerichtliche Untersuchung, die der ältere Bruder seines Va­ters forderte, fand nicht statt. Auch wurde nie geklärt, wer den Schuss ausgelöst hatte, und der Vater versenkte die Waffe persönlich im Meer.
Juan Carlos war der Ältere und der offizielle Thronffolger. Ein Motiv für Brudermord gab es also nicht. Aber rechtsstaatliche juristische Normen galten offenbar in der Familie nicht. Dieses rückwärtsgewandte Denken gibt den oberen Zehntausend bis heute das Gefühl, niemandem Rechenschaft schuldig zu sein. Das lässt unnötig viel Raum für Spekulationen und spaltet Spanien bis heute. Der Schriftsteller Rafael Chirbes schreibt ständig über dieses Phänomen.

O-Ton Rafael Chirbes 01 – 0´29 (cuando me ...mi mismo)
Wenn ich mich frage: Und du, Chirbes, was machst du in der Welt? – Dann schaue ich direkt auf die Franco-Zeit und auf mein persönliches Leben. Vielleicht ist in Diktaturen die Politik gegenwärtiger als sonst. In meinem Leben war das so, denn die Franco-Diktatur hat sich mehr in mein Privatle­ben eingemischt als eine Demokratie es getan hätte. Also sagt alle Welt: Sie schreiben über die Franco-Diktatur. Nein: Ich schreibe über mich selbst.

Autor:
Juan Carlos studierte nach der Militärzeit zwei Jahre lang Verfassungsrecht, Internationales Recht und Wirtschaftswissenschaften. Schon zwei Tage nach Francos Tod, am 22. November 1975, wurde er zum König ausgerufen. In seiner Thronrede verkündete er „eine freie, offene und moderne Gesellschaft“, ohne schon das Wort „Demokratie“ zu benutzen. Er ist gewiss ein ehrlicher Demokrat, aber zugleich geprägt von Befehl und Gehorsam, dem geistigen Erbe Francos im orthodox katholischen Teil der spanischen Gesellschaft. Vor allem seit er 1981 den Militärputsch been­dete, gilt er als Retter der Demokratie. In seiner Fernsehan­sprache am 23. Februar sagte er:


O-Ton Juan Carlos – 0´32 ...En las circunstancias...
Wenn ich mich unter den außergewöhnlichen Umständen, die wir im Augenblick erleben, an alle Spanier wende, so will ich mich kurz fassen. Die Krone, Symbol der Beständigkeit und Einheit des Vaterlandes, kann unter keinen Umständen zulassen, dass gewisse Personen durch ihre Handlungen mit Gewalt die den demokratischen Prozess unterbrechen, der in der Verfassung verankert ist und für den sich das spanische Volk in einem Referendum ausgesprochen hat.

Autor:
Als König ist Juan Carlos Oberbefehlshaber der Streitkräfte und rief erst mal ungehorsame Generäle zurück. Er war vielleicht mehr als Vorgesetzter empört und erst dann als Schutzherr der Verfasssung. Nicht umsonst hatten ihn die Verschwörer zunächst an die Spitze des Putsches setzen wollen. Ein König ist per se kein Demokrat, und dieser ist wirklich eine Figur des Übergangs: ein politischer, doch auch ein weltanschaulicher Erbe der Diktatur, ein Macho und Großwildjäger, der gern zu viel Geld ausgibt. Aber er ist auf seine Weise wenigstens ehrlich, ein Verfassungspatriot und kein Fanatiker. Noch einmal Rafael Chirbes:

O-Ton Rafael Chirbes 02 –0´23 (votamos ...se atienen)
Wir wählen alle vier Jahre und wissen, dass Sozialdemokra­ten wie Christdemokraten die gleiche Wirtschaftspolitik ma­chen werden. Bestenfalls kleiden die einen sie in verständli­chere Worte. Sozialdemokraten pflegen das alles auf eine Art zu sagen, die sich weniger schlimm anhört. Aber umso größer ist der Betrug. Bei den anderen weiß man wenigs­tens, woran man ist.

Sonntag, 30. September 2012

Alred Marquart ist tot - ein Nachruf


Das ist Alfred Marquart (geboren am 23.11. 1945 in Karlsruhe, gestorben am 3. 9. 2012 in Heidelberg): Autor und Redakteur für SDR, später SWF und nach der Fusion schließlich den SWR. Die meisten Menschen kennen ihn als den Erfinder der SDR-Sendung "Bücherbar" oder der ersten deutschen Radio-Soap, "Der Frauenarzt von Bischofsbrück". Damals nahm man solche Sachen ironisch, und das war genau seine Einstellung zum Leben, auch wenn er hier bei einer Betriebsfeier im Jahr 2004 eher nachdenklich aus der Wäsche schaut. Leider habe ich nur dieses eine Foto von ihm gemacht, weil ich dachte, wir hätten noch eine Menge Zeit. Wir hatten noch so viele Pläne: wir wollten z.B, noch radiophon auf der Hannibal-Route die Alpen überqueren oder auf den Spuren seines Großvaters Prag erkunden.
Alfred war "Die Stimme von SWR2", ein begnadeter Moderator, ein wacher Journalist, ein großer Kenner von Literatur und Musik. Man konnte mit ihm über Asterix und Obelix ebenso fachsimpeln wie über Dostoijewski, Goethe oder Rossini und Verdi. Er war aber auch der beste Freund, den man sich vorstellen kann. Und deshalb konnte man mit ihm auch so wunderbar diskutieren und lästern über Gott und die Welt und die Zeitläufte und den täglichen Irrsinn beim Sender.
Ich kann hier nicht unsere ganze gemeinsame Geschichte erzählen oder sein Lebenswerk unfassend würdigen. Aber ich will kurz erzählen, warum ich ihn niemals vergessen werde und schon jetzt schmerzlich vermisse. Alfred war vieles, aber sicher nicht geländegängig. Er war ein Stadtmensch, und so - mit dunklem Anzug, weißem Hemd und schwarzen Halbschuhen, begleitete er mich 2002 z.B. wegen meiner "spanischen Kulturfeatures" auf ein keltisches Musikfestival nach Ortigueira (nächster Flughafen: Santiago de Compostela): 20 000 junge Musikfans in einem 2000-Seelen-Städtchen.
Einmal wollte ich dem Gerücht nachgehen, im Zeltlager in den Dünen seien "urige keltische Rituale" zu beobachten - nix da. Wir kamen mit einem Pendelbus hin, aber nicht mehr zurück. Denn es war die Zeit des allgemeinen Aufbruchs zum Festplatz, etwa 4 Kilometer entfernt. Dreimal drängten uns die jungen Fans in ihrer Begeisterung ab, und der Bus fuhr ohne uns.
Da setzte sich Alfred auf einen Baumstamm am Straßenrand und erklärte: Ich gehe jetzt keinen Schritt mehr! Wir sind trotzdem wieder heim gekommen. Nicht zuletzt wahrscheinlich, weil ich ihm versprach, ihn bei der ersten Bar am Ortsrand zu lassen, damit er etwas trinken konnte, und ihn später mit dem Auto abholen würde - das stand nämlich kilometerweit weg am anderen Ortsende. Auch in seinen Schwächen war Alfred noch großartig. Mit kindlichem Vertrauen verließ er sich darauf, dass ich ihn als Dolmetscher und Fahrer (er hatte keinen Führerschein) nicht nur zurück in die Zivilisation bringen würde, sondern auch in tolle Restaurants, an spannende Plätze der Geschichte, zu interessanten Leuten und in Landschaften voller Schönheit.
Alfred hat mich als Kollege schon Anfang der achtziger Jahre ermuntert, in der Sendung "Circus culturelli" auf SDR3 live am Mikrofon zu sprechen. Er hat mich immer wieder zu Experimenten ermutigt, konnte sich für Ideen anderer begeistern und war niemals herablassend, auch nachdem er Karriere gemacht und es bis zum Feuilletonchef bei SWR2 gebracht hatte. Er sagte immer "Ich habe Glück gehabt" - und an diesem Glück wollte er andere teilhaben lassen. Ich weiß nicht, wie oft er mich zum Essen eingeladen hat, als ich ihn als Autor besuchte, um Ideen, Pläne und Projekte mit ihn zu besprechen. Und als ich einmal kein bezahlbares Zimmer iin Baden-Baden fand, obwohl ich schon jahrelang dort als Redakteur arbeitete, brachte er mich kurzerhand mehrere Wochen lang im Zimmer seines Sohnes unter und wollte kein Geld dafür.
Diesen Mann traf ein Schlaganfall nur wenige Monate, nach dem er in den Ruhestand gegangen war. Ausgerechnet die Stimme, die Fähigkeit zu sprechen, kehrte nie wieder zurück. Alfred war nur noch ein Schatten seiner selbst. Noch zwei Jahre hat er daruter gelitten. Sein Tod war eine Erlösung - und bedeutet zugleich einen schmerzlichen Verlust. Menschen wie Alfred Marquart werden immer seltener. Mit seiner umfassenden Bildung, seinem streitbaren Intellekt und seiner menschlichen Wärme hat er einen Sender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geprägt. Er hatte noch echte Wertschätzung für Autoren im Leib. Heute prägen uns Sparkommissare, die keinen Respekt vor ihrem Auftrag zur kulturellen Grundversorgung haben und gerade mal eben zwei Radio-Sinfonieorchester fusionieren wollen, als wären das Gemüseläden.

Donnerstag, 13. September 2012

Wunderbare Gedichte

SWR2 Buchkritik
Wulf Kirsten: „fliehende Ansicht.“ Gedichte. S. Fischer Verlag., Frankfurt a.M., 78 S, 16,99 €

Als Wulf Kirsten 1987 den Peter-Huchel-Preis des Süd­westfunks und des Landes Baden-Württemberg bekam, lobte die Jury bereits die Genauigkeit seiner Naturlyrik in dem Band „Die Erde bei Meißen“. Sie ist bodenständig, ohne jemals auch nur ansatzweise zu „tümeln“. Auch sein neuer Gedichtband „fliehende ansicht“ ist erdverbunden, aber nie provinziell oder gar bloß höhere Heimatliteratur. Kirsten ist auf dem Dorf bei Meißen aufgewachsen. Er wurde erst Buchhalter und dann Verlagslektor in Weimar – Berufe für besonders genaue Leute. Das Titelgedicht „fliehende ansicht“ beschreibt vordergründig eine Zugfahrt durchs Tal der Saale. Zitat:

...o tempora, o mores,
jeder bahnhof, der vorbeifliegt, ist
längst abgeschrieben, triste
angelegenheiten langhin verzettelt,
eine ruinöser als die andre,
scherbenhaufen hinterlassen, schutt...

Das ist moderne Vanitas-Dichtung und zugleich politi­scher Protest gegen den Zeitgeist. Als Führer durch die Geschichte der Region erklärt er bissig, was vorüberzieht: der Sitz des Nazi-Rassetheoretikers und Kunstprofessors Paul Eduard Schultze-Naumburg, die Burg Saaleck mit ih­rer Historie, das Kösener Bahnhofslokal, wo sich Friedrich Nietzsche als Schüler der nahe gelegenen Landesschule Pforta einmal fürchterlich betrank.
Es ist schon fast unheimlich: Nur 78 Seiten dünn ist die­ses Bändchen; doch schriebe man alle Erklärungen aus, die als Kürzel oder Andeutung in Namen und Orten ste­cken, würde es doppelt so dick. Kirsten spielt mit Wörtern und Wortfeldern, Bedeutungsebenen und Assoziationen. Seine Alterslyrik setzt neben der Melancholie einer gewis­sen Todesnähe auch Humor und Ironie ins Bild, etwa im „nachruf“ auf einen Medizinalrat K., dessen Praxis nun Sperrmüll ist: „abgeschriebenes verdinglichtes leben, nun nur noch Gerümpel … kisten und kästen, lampen und lumpen“. Solche Wortspiele liebt Kirsten. Auch der Arzt kann sich am Ende selbst nicht helfen. Und dann heißt es:

...jählings gefällt der mann,
ein hühne, sportlich gestählt,
firm in so mancher olympischen disziplin,
inbegriff eiserner konstitution,
ein luftzug hat ihn unter die erde
geweht, auf dem entsorgten gestühl
singt eine amsel und schmettert
voller wohllaut ihren nachruf
in den taufrischen morgen.

So ein starkes Finale mit Pointe zum Schmunzeln ist eine von Kirstens Spezialitäten. Ansonsten ist er formal seiner konsequenten Kleinschreibung treu geblieben – mit Aus­nahme von Eigennamen. Er baut seine Gedichte in frei-rhythmischen Versen ohne Gliederung in Strophen oder Abschnitte. Punkte stehen fast nur am Ende. Diese Texte fordern Konzentration, manchmal auch mehrmaliges Le­sen.
Eigennamen, die einzig großgeschriebenen Wörter bei Kirsten, sind der Schlüssel zu einer weiteren Qualität sei­ner Texte: der Schluftergraben im thüringischen Herbsle­ben, der Ortsteil Röttelmisch in Gumperda, Saale-Holzlan­d-Kreis Thüringen oder die alte Jenaer Vorstadt Zweifel­bach sind Wüstungen – laut Lexikon Orte, die heute nicht mehr existieren außer in Namen. Oft sind es sprechende Namen, die eine ganze Geschichte erzählen.
Ob in Kindheitserinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, ob in Dichterporträts, Landschaften, Flora und Fauna: Kirsten ist ein Hüter klangvoller alter Wörter und Wendun­gen. So hält er sie lebendig wie die unterschiedlichen Na­men und Gebrauchsformen des fast vergessenen Lippen­blütlers Leonurus cardiaca, aus dem Kräuterkundige frü­her einen krampflösenden Tee gegen Herzbeschwerden gekocht haben. Solche Verse sollte man laut lesen:

Löwenschwanz, Herzheil, Falscher Andorn,
Berufskraut zudem mitunter auch noch
gerufen, zumeist jedoch, wenn überhaupt
noch einer imstande, dir namen zu geben:
Leonurus, Katzenschwanz oder ganz einfach
Gemeines Herzgespann.

Diese 60 Gedichte gehören zum Schönsten und gedanklich tiefsten, was deutsche Literatur derzeit zu bieten hat.

Freitag, 10. August 2012

Kampf gegen die Hydra Waffenlobby

SWR2 Buchkritik über Andrew Feinstein:
Waffenhandel. Das globale Geschäft mit dem Tod. Das globale Ge­schäft mit dem Tod“, Hoffmann und Campe, Hamburg, 847 Seiten, 29,99 €.

In diesem Jahr 2012 wird ein globales Waffenhandels­abkommen verhandelt. So weit die gute Nachricht. Im 20. Jahrhundert sind über 230 Millionen Menschen in Kriegen gestorben, die es ohne Waffenhandel nicht oder nicht in dieser Härte gegeben hätte. So weit die schlechte Nachricht in Andrew Feinsteins Buch „Waf­fenhandel. Das globale Geschäft mit dem Tod“. Und es könnte noch schlimmer werden. Feinsteins Bilanz ist realistisch: Vermutlich werden weder die USA, Russland und China noch der Iran, Israel oder Nord­korea das Abkommen gegen den Waffenhandel unter­zeichnen. Der erste Anlauf ist jedenfalls soeben gescheitert.
Denn es geht um politische Interessen und Arbeitsplätze, um Korruption und um Transparenz in einem Geschäft, das Staaten und Firmen mit dem Hinweis auf die nationale Sicherheit geheim halten. Hier messen alle mit zweierlei Maß, aber genau das muss aufhören, schreibt Feinstein:

"Ein grundsätzliches Bekenntnis zu Menschenrechten, zu Gleichheit und Gerechtigkeit sowie zu der Überzeu­gung, dass es besser ist, einen hungrigen Magen zu füllen als ein Leben durch die Produktion einer weite­ren tödlichen Waffe zu vernichten, setzt eines voraus: den Entschluss, dieses Gewerbe nicht weitermachen zu lassen wie bisher, in dieser weitgehend unregulier­ten, unkontrollierten Form."

Im April wurde der russische Waffenhändler Viktor But in den USA zu 25 Jahren Haft verurteilt. Er hatte unter anderem Charles Taylor beliefert, den der internatio­nale Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag kürzlich wegen seiner Massaker im Bürgerkrieg von Sierra Leone verurteilt hat. Buts Spezialität: im Kongo wie in Afghanistan Waffen für beide Bürgerkriegspart­eien zu besorgen. Erst die CIA konnte diesen Mann verhaften. Und die Regierung Putin kritisierte das Ur­teil als politisch und verlogen.
Tatsächlich flog But mehrfach auch für die US-Army Waffen, zuletzt nach Bagdad, als der Flughafen noch nicht sicher war und niemand dort landen wollte. Die Armeeführung bat sogar um Aufschub, als Buts Kon­ten bereits gesperrt waren. Insofern ist der Fall typisch für viele andere. Feinstein dokumentiert sorgfältig, warum Waffenhändler und ihre korrupten Partner bei Rüstungskonzernen und Regierungen bisher fast im­mer straflos blieben. Der politische Wille fehlt. Zitat:

"Weil sie sich mit Geheimdiensten oder anderen halb­amtlichen Stellen verbündet haben. Im schlimmsten Fall sind Waffenschieber integraler Bestandteil des or­ganisierten Verbrechens, das auch politisch Handeln­de mit einbezieht. Andere wiederum haben mächtigen Politikern oder Beamten einen Gefallen getan, die im Gegenzug nicht mehr so genau hinsehen und na­türlich auch kein Interesse an der Festnahme und Strafverfolgung haben, denn dies würde ja auch sie in Schwierigkeiten bringen."

Auch in Deutschland stellt zum Beispiel das Kriegs­waffenkontrollgesetz den Export von Waffen in Krisen­gebiete unter Strafe. Aber es kann relativ leicht um­gangen werden, weil es im Widerspruch zu internatio­nalen Abkommen steht und wegen der erwähnten Ge­heimhaltung schwer zu kontrollieren ist. Wenn Angela Merkel sich für den Verkauf von 200 Leopard-Panzern an Saudiarabien einsetzt oder ein atomwaffenfähiges U-Boot an Israel freigibt, ist sie dann eine Waffenhänd­lerin? Und verstößt sie gegen das gesetzliche Verbot des Waffenexports in Krisengebiete? Der Kosovo-Krieg in Serbien 1998, der Luftkrieg gegen das Ghad­dafi-Regime im Jahr 2011 und die Bewaffnung syri­scher Rebellen gegen Assad zeigen, wie heikel das Thema ist.
Feinstein hat ein hervorragend recherchiertes Buch geschrieben, das bisher vollständigste über den globa­len Waffenhandel. Es enthält sogar Steckbriefe der wichtigsten Drahtzieher, denen das Geschäft mit dem Tod zum Teil Milliarden eingebracht hat. Deren Netz­werk ist zu groß und Feinsteins Buch zu dick, um alle wichtigen Fäden hier auch nur zu erwähnen.
Andrew Feinstein war bis 2001 ANC-Abgeordneter in Südafrika und trat zurück, weil er nicht ertragen konn­te, wie korrupte Parteifreunde Hunderte von Millionen für eine untaugliche Luftwaffe ausgaben, während gleichzeitig Geld fehlte, um AIDS zu bekämpfen. Er wurde Journalist und kritisiert auch Israel als Welt­marktführer für militärische Drohnen und Überwa­chungstechnik.


Samstag, 21. Juli 2012

Rossini in Wildbad - wieder mit Neuheiten

"Adina oder Der Kalif von Bagdad": mit dieser einaktigen Farsa, einer Auftragsarbeit für eine Dame, die Buffo-Opern liebte, hat das Festival mit Regisseur und Bühnenbildner Antonio Petris einen tollenStart hingelegt. Das Werk von 1826 ist eine kleine Oper und bietet nicht ganz die Höhepunkt der großen Rossini-Werke, aber "Adina" ist ideal zum Warmlaufen. Außerdem, so Intendant Jochen Schönleber, erfüllt das Festival damit auch seine "enzyklopädische Aufgabe". Die Geschichte von der Sklavin, die das Begehren ihres Herrn weckt und dann Verwicklungen schafft, weil ihr tot geglaubter Ehemann plötzlich verkleidet auftaucht, löst sich in der schönsten Verständnisinnigkeit auf. Der Orient-Mode der Entstehungszeit ist mancher Blödsinn zu verdanken, aber die Musik entschädugt dafür. Mit Antonio Fogliani stand einer der besten Rossini-Dirigenten am Pult, die Virtuosi Brunenses spielten wie gewohnt temperamentvoll und stilsicher.
Der hervorragende Camerata Bach Chor Posen hat gleich in der ersten Szene einen Auftritt, der das Besondere des Stücks hervorhebt: Sonst sind bei Farsas keine Chöre zu hören, die Aufführungen waren eher kammermusikalisch konzipiert, die Inszenierungen eher dem engeren Rahmen von Privaträumen angepasst. Sehr gut und sehr finster bis patriarchalisch der Kalif Raffaele Facciolà, stabil auch in den tiefen Lagen, klar akzentuiert und ohne das bei Bässen verbreitete Herumrutschen auf den Melodiebögen. Rosita Fiocco empfahl sich als Adina mit einem glockenreinen Sopran, der nie den Eindruck machte, gefordert zu sein. Besonders hervogehoben durch eine im Libretto gar nicht vorgesehene Extra-Arie: Bruno Praticò als Diener Mustafa. Der Parade-Buffo hat in Wildbad schon so oft geglänzt, dass so etwas eigentlich längst mal fällig war. Insgesamt war die Aufführung leicht und süffig wie ein guter Sommerwein, ein großes Vergnügen in einer knappen Stunde netto. Da wäre die Pause eigentlich nicht nötig gewesen - aber es war heiß, und da konnten die Leute noch ein Glas trinken.

Maxim Mironov (Foto: Rossini in Wildbad)

Schade, dass ich persönlich die Aufführung der "Räuber" (I briganti) von Saverio Mercadante nach Schiller nicht erleben konnte. Die Oper wurde seit der Uraufführung nie wieder gespielt, weil sie einfach in der Tenorrolle zu schwer ist. Kaum findet sich ein Tenor mit solchen Höhen, und bisher gar niemand, der vier Stunden in diesen Tonlagen permanente Präsenz zeigt. Jochen Schönleber entdeckte einen, der sich nicht nur traute, sondern auch noch richtig gut war. Maxim Mironow (Hamburg) wird sich künftig vor Angeboten wohl kaum retten können, wenn man der ungewohnt leidenschaftlichen Lobeshymne in der "Stuttgarter Zeitung" glauben darf.

Gespannt war ich auf die konzertante Aufführung "Semiramide" Rossinis größte Oper und zugleich sein Abschied von der italienischen Belcanto-Oper: noch einmal vier Stunden "Schöngesang". Die Platzverhältnisse in Wildbad und auch das Budget geben keine szenische Aufführung her, aber ich freue mich schon jetzt einfach nur auf die Musik. Die bekommt auf diese Weise alle Konzentration und Aufmerksamkeit, die sie verdient. Die Premiere am vorigen Donnerstag erhielt ausgezeichnete Kritiken, und der Regen hatte sich tatsächlich auch verzogen.
Abgesehen von einzelnen Längen (vor allem im zweiten Akt) war das wieder mal richtig schön". Vor allem die Duette und Terzette und Ensembles. Ich liebe halt hemmungslos das Mehrstimmige. Und Bass-Arien sollte man bis auf wenige Ausnahmen auch bei Rossini streichen. Das geht fast nie gut, auch die guten Sänger rutschen meistens auf den tiefen Tönen unkontrolliert rum wie Kinder im Go-Cart. Oder wie ein Hobby-Santa-Claus: Ho-Hoooo!

Donnerstag, 28. Juni 2012

Meine Wien-Reise V: Jugendstil-Impressionen

Das Heizkraftwerk "Fernwärme Wien" (rechts vom roten Ampelmännchen) mit dem vergoldet wirkenden Schornstein links ist ein Werk von Friedensreich Hundertwasser. Kunst in dieser Form an den Stadtwerken ist spektakulärer als das Hundertwasser-Wohnhaus, das in jedem Wien-Reiseführer steht - und außerdem auf ganz andere Weise öffentlich, steht aber nicht im Baedeker

Stimmt schon: Hundertwasser ist nicht eigentlich Jugendstil. Aber was er beim Fernwärme-Heizkraftwerk von Heiligenstadt gemacht hat, steckt doch voller Anleihen an Jugendstil und Art deco, finde ich. Deshalb soll er mir als Einstieg für meine Wiener Jugendstil-Impressionen dienen. Denn Wien ist ohne Jugendstil nicht erfahrbar, nicht einmal in den Außenbezirken. Das zeigt diese "Nutz-Skulptur" besonders ein drucksvoll. Und keiner kennt es!

Wie gut der Jugendstil ins Stadtbild passt, zeigt sich besonders am Karlsplatz mit den beiden Stadtbahnpavillons aus dem Jahr 1901 von Otto Wagner links von der Karlskirche

Das ist nun wirklich Jugendstil und wesentlich mehr als ein Detail: Die U-Bahn ist schließlich zentraler Bestandteil des öffentlichen Nahverkehrs. Hunderttausende werden da täglich durchgeschleust, und die Menschen nehmen den Geschmack solcher Kunst osmotisch auf.
Das Jugendstil-Mekka schlechthin ist die Wiener Secession: Das Ausstellungsgebäude dieser Künstlergruppe, die der Kunst wieder eine neue Freiheit geben wollte und sich vom traditionellen Künstlerverband abspaltete (daher der Name) stammt von dem Architekten Joseph Maria Olbrich, der es 1897 aus weißen Kuben zusammensetzte. Ihr Markenzeichen und Hauptmotiv ist eine Metallkuppel, die aus 3000 vergoldeten Lorbeerblättern besteht.

Secession mit Mark-Anton-Gruppe
Die Mark-Anton (Marcus Antonius) von Arthur Strasser (1899) ist eine monumentale naturalistische Bronzeplastik des Historismus, den der Jugendstil ablösen wollte. Passt irgendwie trotzdem, oder?

Solche stilistischen oder formalen Kombinationen findet man auch in Lampenfüßen, Säulen, Kapitellen oder anderen Elementen der Gestaltung. Architektur und Kunst am Bau verschmelzen miteinander.
Manche finden´s kitschig, ich einfach nur schön.
Schildkröten-Vasen am Haupteingang der Secession
Riesige Vasen mit Mosaiken und Onamenten, die Schildkröten "tragen", flankieren den Haupteingang der Secession: ein schönes Detail und ein weiteres Beispiel für die verspielte Symbiose aus Naturmotiven und Ornamentik im Jugendstil. Der wohl bekannteste Künstler des Wiener Jugendstils war Gustav Klimt. Der Großmeister der erotischen Bilder gestaltete für die große Ausstellung der Secession im Jahr 1902 das berühmte "Beehovenfries".








Es ist der beherrschende Teil der (im übrigen kleinen) Dauerausstellung im Innern der Secession. Es illustriert Richard Wagners Interpretation der 9. Sinfonie Ludwig van Beethovens mit einer symbolischen Darstellung der Suche der Menschheit nach dem Glück.


Die Kunsthalle und ihre Umgebung werden auch heute noch geprägt von modernem Fassadenschmuck, dem man ansieht, wie sehr er vom Jugendstil insipriert ist.




Ein besonders schöner Fall der Integration von Alt und Neu sind die Arkaden im Ferstel-Palais: ein riesiger Bau mit dem Café Central, Läden, Büros und Wohnungen, die sicher nicht billig sind.

Die Anlage unweit der Hofburg gilt zu Recht als Glanzstück im Städtebau. Man fragt sich, wie die Wiener das alles nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs wieder aufgebaut haben - und schöner denn je.

Am Baumaterial wurde nicht gespart: echter Marmor, Stahl, Glas, Messing, edle Hölzer, Kunst am Bau und eine Ausstattung, die bis hin zu den Lampen viel Jugendstil und Art deco zeigt. Das alles fordert allein in der Pflege und Erhaltung einen enormen Aufwand. Als einziger Vergleich fällt mir die U-Bahn von Moskau ein - nur ist es hier entschieden wohnlicher und weniger voll. Das alltägliche Leben zu verschönern: das zentrale Anliegen des Jugendstils und seiner Zeit. Das gilt sogar für den Tod.
Einen ganz besonderen Eindruck bekommt man vom Gewicht dieser Stilepoche bei einem Besuch auf dem Wiener Zentralfriedhof. Um es gleich zu sagen: Wir waren hin und weg. Ok, es war der erste wirklich warme Frühlingstag, die Bäume schlugen aus und ich holte mir den ersten Sonnenbrand des Jahres, weil ich keine Kopfbedeckung dabei hatte und das zarte erste Blättergrün noch nicht den Hauch eines Schattens spendete. Aber trotzdem: Ich bin noch heute beeindruckt von so viel Schönheit, Traditionbsbewusstein und Sinn fürs Praktische in einem.
Ich bin in Salzburg aufgewachsen, habe 8 Mal Rom besucht, das Herz der Christenheit. Ich habe Istanbul und Madrid erwandert - also das alte Konstantinopel und die Stadt von Cervantes und Lope de Vega, habe die Alhambra von Granada, die Kathedrale von Córdoba, die Sagrada Familia von Antonio Gaudí in Barcelona, den Kölner Dom, die Meerjungfrau in Kopenhagen, den Hamburger Michel, die Grachten von Amsterdam, den Hradschin von Prag, die Fischerbastei in Budapest besucht. Ich habe die verbotene Stadt in Peking gesehen, London, Mailand und Paris. Wir haben mit Freunden und einer Flsche Sekt eine literarisch-musikalische Feier auf der Friedhofsinsel San Michele von Venedig gehalten. Trotzdem: Der Wiener Zentralfriedhof ist eimalig.

"Karl-Lueger-Kirche", Zentralfriedhof
Gleich hinter dem Haupteingang sahen wir die Kuppel der Friedhofskirche St. Borromäus, die Bürgermeister Karl Lueger 1910 hat bauen lassen und die deshalb in vielen Reiseführern "Karl-Lueger-Kirche" genannt wird. Aber das muss ein Irrtum sein. Dieser Mann war zu eitel für einen Heiligen und wollte sich hier ein Denkmal als Bauherr setzen. Was ihm gelungen ist - in all der Zwiespältigkeit, zu der nur ein Wiener imstande ist. Das hat meiner Bewunderung für das, was er hinterlassen hat, übrigens keinen Abbruch getan. Aber dazu gleich noch. Erst der allgemeine Teil der Erklärung:

Georg Kreisler (natürlich waren wir an seinem Grab, aber es gehört nicht in den Jugendstil) hat geschrieben: "Der Tod, das muss ein Wiener sein...". Und Helmut Qualtinger (natürlich liegt auch der geniale dicke Grantler hier) hat gemeint: "In Wien musst´ erst sterben, damit sie dich hochleben lassen. Aber dann lebst lang". An keinem Ort der Welt habe ich bisher intensiver Zwiesprache mit jenem Teil der Geschichte gehalten, der mir lieber ist als Schlachten und Herrscherhäuser: den Unsterblichen aus Literatur und Musik, Theater und Kunst.
Grit und ich standen vor vielen Gräbern von Menschen, die uns nicht kannten und die wir doch lieben. - Ein Widerspruch? Ich finde nicht, und wenn ja, bin ich stzolz darauf. Gut, es liegen ein paar große Künstler auch woanders begraben. Aber hier bekommt man das Gefühl: viele können´s nicht sein, trotz Scheremetjewo, trotz Montmartre. Irgendwie seltsam und anrührend, auf so viele Bekannte und Freunde zu treffen. Bevor ich aber morbid werde, wieder zu Karl Lueger und seiner Friedhofskirche.
Ein kluger Mensch hat mir einmal gesagt (oder zitiert?): Wenn man ein Volk verstehen möchte, sollte man seine Friedhöfe besuchen. Auch wenn ich für mich persönlich die Liste der Pflicht-Sehenswürdigkeiten mindestens um Toiletten, Müllkippen und Bibliotheken ergänze, da ist was dran. Die Ehrengräber entlang der Mittelallee im Wiener Zentralfriedhof sind schon eine Aussage darüber - ach was, ein Buch. Aber dann fing ich an, in Luegers Friedhofskirche zu fotografieren. Dort arbeitete ein Profi, und der sagte zu mir: "Gehen Sie in die Krypta. Wer dort nicht war, der war nicht in Wien".

Karl-Lueger-Gruft und "Grabbeigaben"
Die Lueger-Gruft kann man leider als Normalsterblicher nicht betreten. Ich habe mich trotzdem bemüht, Fotos zu machen, auf denen man möglichst viel sieht - daher diese Auswahl, obwohl sich das Blitzlicht in der Glasfront spiegelt. Andere Aufnahmen ohne Spiegelungen sind technisch besser, sagen aber weniger: Es geht um die Kranzschleifen rechts und links des Sarkophags aus weißem und rotem Marmor. Die verfaulen nicht und halten für alle Ewigkeit die Schmeicheleien und Lobhudeleien fest, die ihm die Trauergemeinde angedeihen hat lassen. Es (nicht er) muss eine "schöne Leich" gewesen sein, die seiner Eitelkeit entsprach. Fachleute werden interpretieren können, was sie bedeuten. Und sicher ist das Ergebnis schon irgendwo schriftlich festgehalten für Archäologen aus dem fernen All, die einst eine erkaltete Erde besuchen und auch die ägyptischen Königsgräber finden werden.

"Karl-Lueger-Kirche"
Die Friedhofskirche lässt aus der Nähe schon außen die dekorativen Elemente des Jugendstils erkennen. Sie sitzt aber wie ein Pfropfen auf dem Schatzkästlein in der Krypta. Innen ist sie liebevoll mit bunten Glasfenstern, Mosaiken und Fresken ausgestattet. Vieles davon ist inzwischen historisch und originell, manches auch schön.
"Karl-Lueger-Kirche", Kuppel
Selten habe ich beispielsweise ein derart leuchtendes Blau gesehen wie in der zentralen Kuppeldecke. Nur hat meine billige Idiotenkamera leider keinen dafür ausreichenden Weitwinkel-Zoom. Grit kann´s besser, aber das Urheberrecht soll ihr bleiben. Mein unvollkommenes Bild zeigt schon, was ich meine.

"Karl-Lueger-Kirche" innen
Hier kann man sich wirklich eine pompöse Beerdigung vorstellen: mit getragener Blasmusik zum Beispiel, mit Verdis Requiem, der Arie "Casta Diva" aus Bellini´s "Norma", gesungen z.B. von der Netrebko, die ja in Wien eh eine Wohnung hat, mit einem schönen Männerchor oder ganz schlicht mit einem gregorianischen Choral. Aber wer kann die heute noch?
Aber ich werde schon wieder morbid - dabei möchte ich nur sagen, was für Gedanken mir bei solchen Bildern durch den Kopf gehen.
Der Zentralfriedhof inspiriert, und das ist ja nicht selbstverständlch. Ob die Elfriede Jelinek auch einmal hier liegen wird? Das Schimpf-Weib könnte mir den Aufenthalt vermiesen, ich kann Erynnien nicht leiden, auch keine modernen. Aber ich will ja hier auch nicht einziehen. Nur mich ein wenig erinnern an eine wunderbare Reise und den Wienern in Erinnerung rufen, was für Schönheiten sie vor der Haustür haben.
Ein Architektur- und Kunstführer hätte jetzt sicher ganz andere Prioritäten gesetzt und viel vollständiger, systematischer und endgültiger über den Wiener Jugendstil geschrieben. Aber ich liebe es, meine Eindrücke selbst zu formulieren und meine Fehler selber zu machen. Es sind meine Impressionen, und die mache ich meinem Wiener Freund Georg Bruckner zum Geschenk, weil er 60 Jahre alt wird.
Übrigens: Schöne und preiswerte Mitbringsel im Wiener Jugendstil konnten wir in den "Österreichischen Werkstätten" erwerben (Kärntnerstraße 6).







Samstag, 23. Juni 2012

Weltliteratur aus Baden-Württemberg

Neuerscheinungen der "Kleinen Landesbibliothek" bei Klöpfer & Meyer

Beim Tübinger Verlag Klöpfer & Meyer sind die Bände 21 bis 23 der "Kleinen Landesbibliothek" erschienen, die Baden-Württemberg als Heimat großer Literatur von bleibendem Wert gut ansteht, ja eigentlich als "Land der Dichter und Denker" auf zeitgemäße Weise neu ausweist. Band 21 hat als Herausgeber der Tagebücher, Aufzeichnungen und Briefe Hölderlins den editorisch versierten Volker Michels. Der ehemalige Suhrkamp-Lektor hat unter anderem die zwanzigbändige Gesamtausgabe von Hermann Hesse besorgt und mit über 100 Themenbänden aus dem Hesse-Nachlass Literaturgeschichte geschrieben. Seine kompetente Auswahl bringt den Dichter vom Neckar auch der Generation Facebook nahe.
Band 22, herausgegeben von Monique Cantré, ist eine wunderbare und klug kommentierte Ausgabe der Meersburger Gedichte der Annette von Droste-Hülshoff. Der Südwesten ist (bei Schwaben wie Badenern!) reich an solchen Schätzen, und in diesem Rahmen kann man eine Auswahl erblicken, die jenseits von germanistischem Fachinteresse wirklich jeden Leser bereichert. Die Droste ist eine der frühen großen Frauen der deutschen Literatur. Das spürt man auf jeder Seite von Neuem.
Wolfgang Alber aus Heilbronn, Journalist und Kulturwissenschaftler aus Leidenschaft sowie Autor mehrerer Veröffentlichungen zur Kulturgeschichte und Landeskunde, ist genau der richtige Herausgeber für Gustav Schwab. Lange bevor es einen Baedeker gab, schuf der mit seinen literarischen "Landschaftsbildern" ein bedeutendes Vorbild für alle spätere Reiseliteratur. Bekannt wurde Schwab mit seinen "Sagen des klassischen Altertums", Balladen und Gedichten. Doch zog es ihn auch immer wieder hinaus in die Natur, die er aber nicht bloß schwärmerisch durchwanderte, sondern mit offenen Augen und teilnehmendem Herzen beschrieb. Der Blick dieses frühen "Grünen" für Geschichte und Geschichten rechts und links des Weges verindet sich mit einem zeitlos schönen Stil und kulturhistorischer Gelehrsamkeit. Auch dieses Buch muss man unbedingt haben!

Solidaritätslesung für Samar Yazbek und Syrien im Kunstverein Stuttgart

Von links nach rechts: Peter Grohmann, Manfred Zach, Widmar Puhl, Carmen Kotarski und Tina Stroheker

Am 21. Juni hatte ich eine Lesung zugunsten von Samar Yazbek aus ihrem Buch "Schrei nach Freiheit - Bericht aus dem Inneren der syrischen Revolution" im Kunstverfein Stuttgart iorganisiert. Datu gibt es eigentlich nicht mehr viel zu sagen, ich schrieb hier schon darüber. Interessangt ist aber eine Effahrung mit dem "Buchhandel" bei Benefizveranstaltungen dieser Art in dieser Stadt:
9 Bücher für 161,10 € haben wir verkauft bei 26 Zuhörern, die trotz Fußball und Gewitterhitze kamen - ich finde die Quote erfreulich. Selbst die Buchhandlung Wittwer war erstaunt, die uns die Bücher gegen Rechnung bestellt und die übrig gebliebenen nach Abrechnung tags darauf zurückgenommen hat. So kommt wenigstens der Umsatz Frau Yazbek zugute.
Wermutstropfen: Dass sich ehrenamtlich aktive Autoren hinsetzen müssen und für Wittwer die Arbeit machen, der einfach das Geld einsteckt, das geht eigentlich gar nicht. 
Ich persönlich habe die Bücher bei Wittwer abgeholt und in den Kunstverein geschleppt und die restlichen am nächsten Tag retour, bei der Bank Wechselgeld besorgt und die Bücher am Büchertisch verkauft. Silke Albrecht, die Geschäftsführerin des Kunstvereins, stand persönlich hinter der Bar, damit die Leute nicht verdursten. Und Wittwer behauptete, aus wirtschaftlichen Gründen nicht mal einen Lehrling abstellen zu können. Wir im VS arbeiten ja öfters mit Buchhandlungen zusammen - aber nicht so einseitig, sondern so, dass jeder seinen Teil macht: Autoren lesen und Buchhändler verkaufen. 
Positiv hervorheben möchte ich die Zusammenarbeit mit Silke Albrecht. Grundsätzlich nimmt der Kuznstverein als Gastgeber 40 € pro Stunde, um den Haustechniker zu bezahlen, der die Beleuchtung einstellt, die Beschallungsanlage auf- und abbaut, Stühle und Tische aufstellt und am Ende aufräumt und abschließt. Aber als ich die Überstunden bezahlen wollte, hat sie darauf verzichtet - "weil Sie alle so unkompliziert waren" (d.h.: sie zahlen dem Haustechniker die Überstunden selbst!). Da habe ich mich dann im Namen des VS artig bedankt. So eine Form der Zusammenarbeit würde ich gern ausbauen.

Unsere neuen Mitbewohner

Szene einer Fütterung: Was hat Papa da bloß im Schnabel?

Unsere neuen Mitbewohner: daas Amselpärchen Hermine (rechts) und Heinrich haben auf unserem Balkon trotz zweier Siamkatzen ein Nest gebaut und fünf Junge ausgebrütet. Am Montag sind die Babies geschlüpft. Jetzt sind die Eltern mit der Fütterung von Sonndenaufgang bis Sonnenuntergang im Stress. Sie haben schon Gewitter überstanden, Angriffe von Elstern abgewehrt und sich an neugierige Menschen gewöhnt, die offensichtlich schon vorher da waren. Inzwischen kommen wir gut miteinander aus. Die meisten Fotos machen wir aber durchs Fenster vom Wohnzimmer aus - wachsam beäugt, aber geduldet.
Heute haben die Jungen die Augen geöffnet und fangen an zu schreien, wenn sich Hermine oder Heinrich nähern: Futterfutterfutter!!! Das macht natürlich die Katzen irre, und so haben wir den "Vogel-Teil" des Balkons mit einem Paravent abgesperrt und betreten die "Voliere" nur noch zum Blumengießen. Das alles hält uns ordentlich auf Trab. Die Kulturarbeit und anderes findet da nur noch nebenbei statt.

Sonntag, 17. Juni 2012

Solo für Faust: Bach pur

Foto: Felix Broede
Isabelle Faust hat am 16.06. in Ludwigsburg die "Sei Soli à Violino" von Johann Sebastian Bach gespielt. Es war ein langer. intensiver und beglückender Abend mit einer Geigenvirtuosin, die den Begriff Kammermusik ganz neu buchstabiert. Im Ordenssaal des Residenzschlosses mit seiner großartigen Akustik rang sie ihrer "Dornröschen"-Stradivari aus dem Jahr 1704 Klänge ab, die ebenso gut von zwei oder drei Instrumenten hätten kommen können.
Bach schrieb seine Solowerke für Violine in seiner Zeit als Kapellmeister und Direktor der "Cammer-Musiquen" am Hof des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen (1717 - 1723), in der auch seine "Brandenburgischen Konzerte" und das "wohltemperierte Klavier" entstanden sind. Seine solistischen Violinsonaten 1-3 und die Partiten 1-3 setzen bis heute Maßstäbe.
Isabelle Faust spielte sie an einem einzigen Abend - eine Herausfordserung und ein Kraftakt für Künstlerin und Publikum. Aber die Leute saßen wie gebannt und scheinbar ohne Ermüdungserscheinungen im Saal und lauschten einer unglaublichen Steigerung.
Von der Sonate g-Moll bis zur großen Partita Nr. 2 d-Moll mit der berühmten Ciaccona wurde das Publikum Zeuge eines Zwiegesprächs zwischen Künstlerin und Instrument, das die leisen Töne, das dramatische Adagio, das Tempospiel in den Finalsätzen, die ambitionierte technische Finesse der Fugen und poetische Phasen im Andante oder Largo ausdrucksvoll und in unüberbiertbarer Perfektion interpretierte. Unnachahmlich die Heiterkeit und Spielfreude, mit der sie in der Partita Nr. 3 e-Dur auch Elemente alter Volkstänze hervorhob, an denen schon Bach beim Komponieren seine Freude gehabt haben muss.

Foto: Widmar Puhl

Über die Ciaccona am Ende der Partita Nr. 2, die sie mit sicherem Gespür für Dramaturgie als Finale spielte, ist kaum mehr zu sagen als das: So mag überirdische Musik klingen. Dass so viel Gefühl, eine solche  Präsenz und Konzentration nach fast drei Stunden noch möglich sind, riss das Publikum förmlich von den Stühlen: als Isabelle Faust nach dem letzten Ton den Bogen wie in Zeitlupe sinken ließ, verharrte es in andächtigem Schweigen. Nach vielleicht 20 Sekunden tobte dann ein Sturm von Applaus und Bravorufen los, den sie mit einem feinen Lächeln entgegen nahm - wie überrascht, dass alles schon zu Ende war.
Das Publikum der Stuttgarter Bachakademie war im Saal ebenso vertreten wie Kinder und ganze Familien, Musiker und ganz gewöhnliche Musikfreunde. Die "Kleiderordnung" reichte von teuerer Abendgarderobe, die angesichts von fast 30 Grad Außentemperatur snobistisch wirkte, über alle Skalen bis hin zu Jeans, Polohemd und Badeschlappen, wo ich meinen würde, der Respekt vor dem Werk und der Künstlerin würde etwas mehr Aufwand erwarten lassen. Wer sich schön kleidet, signalisiert Aufmerksamkeit für den besonderen Anlass. Und dies war einer: Momente reiner Musik, die sich einen besonderen Platz in der Erinnerung verdient haben.

Samstag, 9. Juni 2012

C(H)OEURS: Chöre, Herzen - niederschmetternd, erhebend


Probenfoto: Chris van der Burght

Bei den Ludwigs­burger Schlossfestspielen hatte gestern (08.06.) ein ungewöhnliches Musik- und Tanztheaterprojekt Deutschland-Premiere: C(H)OEURS. In dieser lautmalerischen Zusammenfüh­rung der Wörter „Chöre“ und „Herzen“ lässt der belgi­sche Choreograph Alain Platel zum ersten Mal über­haupt Opernchöre von Verdi und Wagner gleichzeitig singen und tanzen. Um es gleich zu sagen: Es war ein Experiment, und es ist großartig gelungen. Wir leben in Zeiten des Umbruchs und Aufbruchs, und kaum ein Komponist hat die Gefühle der Massen, ihre destruktive und konstruktive Kraft sowie das zwiespältige Ausgesetzsein des Individuums in solchen Verhältnissen dramatischer, wirkungsvcoller umgesetzt als Verdi und Wagner. Beide waren politisch eengagiert, und beide komponierten viele große Opernchöre im Revolutionsjahr 1848.

Mit der Wucht des "Dies irae" (Tag des Zorns) aus Verdis "Messa da Requiem" singt der Chor des Teatro Real in Madrid zum Auftakt im Dunkeln, fulminant begleitet von dessen Orchester unter der Leitung von Marc Piollet. Eine kopflose Gestalt steht reglos im Spot eines Scheinwerfers, nur Finger tentakeln tastend im Raum. Die Körpersprache des Tänzers im weißen Sterbehemd vermittelt Angst, Ausgeliefertsein, Hilf- und Machtlosigkeit im Angesicht des Todes. Die Choreographie erzählt eine Geschichte der großen Gefühle in Zeiten der Finanzkrise, der arabischen Revolution, der Occupy-Bewegung: Kampf, Revolte, Auflehnung, unglaubliche Brutalität auf der einen Seite, Menschlichkeit, Solidarität, ja Liebe auf der anderen. Dazwischen Opfermut und unschuldiges Leid. Die Revolution frisst ihre Kinder: Anrührend, wie der Chor zwei Kinder in einem zur arabischen Beerdigung umgedeuteten Crowd-Diving von der Bühne trägt. Aber ein durchdrehender Kalpitalismus frisst uns alle.
Wagners "Wacht auf" aus den Meistersingern wirkt hier ebenfalls hoch politisch und bleibt keineswegs in der Naturidylle des Librettos stecken: "Der Tag geht auf im Orient". Immer schin war die Morgenröte auch ein politisch besetztes und vereinnahmtes Bild von großer Kraft.

Probenfoto: Chris van der Burght
Zweifellos inspiriert von Stéphane Hessels Kampfschrift "Empört Euch!", lässt Platel die Solisten zunächst stumm agieren. Wie Knebel tragen sie ein Stück Wäsche im Mund. Wie in Trance winden sie sich zeitweilig auch ohne Musik zu eingespielten Herztönen oder kargen Sätzen auf Französisch und Englisch, z.B. "Das Problem ist nicht Russeau oder der Marxismus, das Problem ist, was wir daraus gemacht haben." Aber das ist kein Libretto, das ist eher ein Impulsreferat en miniature.
Die Hauptrollen spielen Musik und Tanz, die emotionalsten der menschlichen Künste. Und der Chor, die Masse - in kreativer Spannung mit den Solisten. Ohne Zweifel auch, man merkte das spätestens am Schluss bei den endlosen Bravos und den stehenden Ovationen des Publikums, war hier das das Cranko-geschulte Stuttgarter Publikum. Im Saal schien ein Konzentrat der "Wutbürger" unter sich zu sein, die eine Regierung abgewählt, die Energiewende erzwungen und dann doch eine Volksabstimmung über "Stuttgart 21" verloren haben.

Der Funke sprang über, weil die Sprache von Musik und Tanz bei CHOEURS nicht nur Aufruhr und Triumph, sondern auch die Verlorenheit der Opfer, die Katatonie der Gefolterten, die Trauer der Überlebenden vermittelt. Wie oft muss ein Deja-vu durchs Publikum gelaufen sein wie eine Welle, eine Erinnerung und ein Verstehen auch entfernter Zusammenhänge. Wagners Vorspiel zum 1. Akt des Lohengrin und ähnliche Stücke "untermalten" die stilleren Sequenzen, die von Hoffnungen und Illusionen künden und doch genug Leerstellen lassen, um beim Betrachter eigenes zuzulassen. "Patria opreessa" aus Verdis "Macbeth" oder der Gefangenenchor aus "Nabucco" erfuhren so eine Intensität und Aktualität, die anrührt.

Liebe am Ende - auch über den Opfern der Gewalt, überwindet auch in dieser Nicht-Erzählung die Grenzen von Tradition, Wahrnehmung, Geschichte und Kunstgattungen. 
Dass die Chormitglieder sogar einen Haka tanzen, jenen Imponiertanz der Maori in Neuseeland, ist eine von vielen solcher Grenzüberwindungen. Dass im Paartanz auch die Rollen wechseln wie die Kleidung, auch diese Botschaft kam an. Platel ist es gelungen, eine Einheit zu schmieden aus Chor und Solisten, aus Musik und Tanz, aus Alt und Neu: wirkmächtig, niederschmetternd, erhebend, anrührend. Ein großartiger Abend von überragender Präsenz.
Gerard Mortier, Intendant des Teatro Real in Madrid, sagte voraus: "Es wird eine Revolution werden in Deutschland, zu sehen, was ein Chor in der Lage ist zu tun". -  Z.B. sich auch mal auszuziehen. Das ist hier aber niemals Selbstzweck oder billiger Lockstoff für Voyeure, sondern Mittel äußerster Hingabe und Verletzlichkeit, etwa im gewaltfreien Protest gegen staatlich gelenkte Brutalität wie derzeit in Syrien. Der Mensch zwischen Einsamkeit, Rudelpsychose und echter Gemeinschaft: ein anspruchsvolles Thema, dem sich Chor und Orchester, Sänger und Tänzer mit letztem Einsatz stellen. Mortider behielt Recht: Es war eine Revolution auf der Bühne, aber kein Stuem im Wasserglas. Dem Beifallssturm nach zu urteilen, den sie auslöste, wird sie hachhaltig fortwirken.





Freitag, 8. Juni 2012

Meine Wien-Reise IV: Caféhaus-Marathon

Kaffee mus immer und überall sein in Wien: Am Zentralfriedhof wird nicht nur getrauert. Auch viele Touristen kommen her und suchen Gräber berühmter und beliebter Menschen auf, um eine Andacht zu halten, die auch recht weltlich sein kann. Aber egal, ob Tränen fließen oder kulturelle Ehre erwiesen wird, der Feiedhof ist riesig. Es fahren zwar Busse, die jenen nützen, die wissen, wo sie hin möchten. Neugierige Besucher flanieren oder wandern eher durch die Kilometer langen Gräberreihen. Das macht hungrig. Und dagegen muss etwas geschehen. Gegen Trauer wie Müdigkeit gibt es alles Erdenkliche im Kaffeehaus am Zentralfriedhof, das durch eine Jugendstilarchitektur aus Holz auffällt.


Mein Lieblings-Kaffeehaus ist das Café Central im Palais Ferstel. Das hat nicht nur einen Hauspoeten (Peter Altenburg),sondern auch eine umwerfende Jugendstil-Ausstattung und die schönste Stmosphäre. Wie überall in Wien gibt es kostenlos ein Glas Wasser zum "Kleinen Braunen" und alle wichtigen Tageszeitungen. Hier ist es so schön, dass sich viele Touristen gegenseitig fotografieren wie auf der Zugspitze. Aber was tun, wenn man gleichzeitig Tourist undf Autor ist? - Genießen. Ins Central kamen wir immer wieder zurück, nicht zuletzt wegen der erträglichen Preise bei enormer Qualität und Vielfalt der Speisen nd Getränke (nicht nur der süßen Mehlspeisen). Waren wir um die Mittagszeit hier, gab  es auch Wiener Würstel mit Kren und einem himmlischen Senf.
















Der siebte Kaffeehaushimmel aber ist auch im Central die Kuchentheke. Hier gibt es z.B. jenen berühmten Apfelstrudel, dessen Teig so dünn ist, dass man nach dem Ausrollen und vor dem Backen die Zeitung hindurchlesen kann. Mit einer Füllung, die nach Zimt und Nelken, Rosinen - und natürlich Äpfeln schmeckt, das Ganze evtl. noch warm (riecht nach Bratäpfeln, ein Kick vor allem im Winter) und übergossen mit heißen Vanillesoße, mit Puderzucker und einem Klacks Schlagobers ober drauf: Kann denn so eine Gabe Gottes Sünde sein? Auch wenn ich inzwischen mit einer Laktoseintoleranz geschlagen bin, die mir gewisse Rücksichten abverlangt, so etwas bleibt ein Kindertraum. Aber Gottlob kann man ja ausweichehn auf ebenso himmlische Kreationen mit Marzipan, Linzer Torte oder einfach einen Gugelhupf.

Im Café Demel müssen anscheinend strenge weibliche Cerberusse die Kuchentheke vor Dieben schützen. Man gibt sich hier extravagant und zugeknöpft, die Kuchenportionen sind z.T. mickrig, die Preise exorbitant. Das Demel hat jahrelang mit dem Hotel Sacher darum prozessiert, wer das Originalrezept hat und die bessere Torte backt.

Ganz reizvoll: im 1. Stock des Demel kann man den Bäckern bei ihrer Akkordarbeit zuschauen. Es kommt also nicht alles aus der Maschine: fein.


Heute darf der eine "echte Sachertorte" verkaufen, der andere "original Sachertorte". Ist mir schnutzpiepegal oder wurscht, wie die Wiener lieber sagen, aber natürlich wollten wir kosten. Die Torte fiel dann so klein aus, dass wir spontan Lust auf einen einfachen Vergleichstest bekamen:

Welche Sachertorte schmeckt den besser, die vom Demel oder die beim Sacher? Wir hielten im Notizbuch fest: Bei Demel war sie sehr, sehr süß und sonst nur etwas hart. Die Konfitüre drin schmeckte man kaum.

Also auf zu dem berühmten Hotel an der Oper, das der berühmtesten Schokoladentorte der Welt ihren Namen gab. Für die Lauferei waren wir ja hinreichend gestärkt, Grits neue Schuhe bewährten sich, und für einen zweiten Kaffee war der Nachmittag noch gut.

















Im Sacher war die Sachertorte eindeutig besser: nicht so übermäßig und nicht nur süß, sondern auch fruchtig, locker und mit einem Schokoladeüberzug, der nicht auf der Gabel abplatzte, sondern im Mund schmolz. Eine Freude war das, auch für den Ober, der uns gut gelaunt fotografierte, um das Ergebnis festzuhalten.
Ehrlich: Die Kellner in solchen Etablissements müssen einiges aushalten. Und nicht jeder gibt zum Ausgleich ein Trinkgeld wie wir. Das Sacher als Ganzes hat auf uns eher dunkel gewirkt, altbacken, ziemlich plüschig, aber mit einem Stich ins Scheinmoderne mit Teppichboden von der Stange etc. Das Besondere an diesem Haus ist außer der unmittelbaren Nachbarschgaft zur Oper das Personal: Eindeutig Service-Spezialisten mit oder ohne Wiener Schmäh, grundsolide, ehrlich, freundlich bis zum Abwinken und zurückhaltend obendrein.

Eine ganz andere Welt betritt man im Hawelka. Eingeklemmt in eine enge Seitengasse, die auch beim Fotografieren keine Totale erlaubt, ist dieses Cafe ein Haus fürs Spezielle für jedermann - eine Art Quadratur des Kreises.

Der alte Leopold Hawelka hatte einen biederen Sinn für Geschichte. Der Maler Adolf Frankel, der dieses Haus in der Dorotheengasse ebenfalls bewohnte, war ein Überlebender von Auschwitz-Birkenau und gewiss kein Rechter.

Überhaupt wirkt das Hawelka weniger wie ein Kaffeehaus und mehr wie eine Studentenkneipe. Maler, Filmleute, Literaten und Schauspieler haben sich an den Wänden verewigt bzw. stehen und hängen dort als Staffage eines Lebensgefühls zwischen Plakaten und Programmen. Bohéme (Böhmen) eben.

















Nur dass die "Studenten" auch nicht mehr so ganz taufrisch sind wie einst im Mai. Die älteren Semester überwiegen eindeutig (nicht nur auf diesem Bildausschnitt). Die schummerige Beleuchtung erfüllt die Bedingungen für die klassische Definition des Begriffs "deutsche Gemütlichkeit": Mangel an Platz, Licht und Luft. So fällt auch nicht weiter auf, wenn die Söhne des alten Hawelka (leider lebt er nicht mehr) weniger Geld für die Putzfrau ausgeben als ihr Vater. Es wirkt alles ein wenig schmuddelig und abgegriffen, aber die Preise sind fair und Speisen wie Getränke gut - daran ist nichts zu bemängeln. Nur eben ein ganz anderer Stil die "edlen" Häuser.

In Wien gibt es aber darüber hinaus auch noble Adressen im kalten Glanz von Glas und Stahl, wo man den Cappucchino auf Designermöbeln schlürft. Schlürft? Eher leise vor sich hin schluckt, schweigsam und eingeschüchtert. Es gibt bodenständige durchaus gastliche Durchschnittscafés wie das Diglas, das Sperl, das Schwarzenberg im gleichnamigen Palas am Ring, das hübsch restaurierte Sperl, oder das gemütliche Museumscafé bei der Secession. Ganz Wien ist voll davon, und sie machen einen großen Teil eines Charms aus. Aber ich wollte ja keinen Wiener Kaffeehausführer schreiben, sondern Eindrücke von meinen Lieblingscafés wiedergeben.