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Sonntag, 4. September 2011

Liechtenstein-Preis für Marica Bodrozic
















Am 26. März 2011 erhielt die Berliner Autorin Marica Bodrozic den Liechtenstein-Lyrikpreis des PEN-Clubs Liechtenstein. Stolz präsentiert sie hier im Schlösslekeller von Vaduz die Preisurkunde (immerhin dotiert mit 15 000 Franken), eingerahmt vom scheidenden Präsidenten des PEN-Clubs Liechtenstein, Manfred Schlapp, und seiner Nachfolgerin Antje Ellermann.

Ich durfte die Laudatio halten, die hier nachzulesen ist:

Verse, die zittern wie Gras im Wind
Liechtenstein-Lyrikpreis für Marica Bodrožić, 26.03.2011
Es gibt einen Teil in der klassischen Lobrede, den ich möglichst schnell hinter mich bringen möchte. Es ist der biografische. Denn erstens ist die Dichterin, um die es hier geht, noch jung. Und zweitens war ich mit ihr weder im Sandkasten noch in der Schule noch auf der Universität zusammen. Wir leben nicht einmal in derselben Stadt. Ich habe sie nur ein Mal persönlich gesehen: sehr kurz auf einem Literaturfestival, und da wurde sie krank. Kein Gespräch also. Wenn ich sagen soll, wer die Lyrikerin ist, die den Liechtenstein-Preis 2011 bekommt, muss ich daher zunächst auf Angelesenes verweisen:
Marica Bodrožić wurde 1973 in Svib geboren. Das ist ein Dorf in Kroatien, genauer in Split-Dalmatien – da, wo das Eis her kommt. Laut WIKIPEDIA lebten 2001 in Svib 641 Menschen. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr wuchs Marica Bodrožić bei ihrem Großvater in Dalmatien auf, lernte also noch ein bisschen den real existierenden Sozialismus kennen. Erst 1983 zog sie zu ihren Eltern, die bereits als Gastarbeiter in Deutschland lebten. Heute lebt auch sie in Berlin – als freie Schriftstellerin.
Ihre Erzählungen und Gedichte verarbeiten bisher zu einem großen Teil ihre Kindheitserinnerungen und ihre Sicht auf die Veränderungen in ihrer Heimat. Und das ist jetzt wirklich interessant: als ihre Wahlheimat bezeichnet sie die deutsche Sprache. So etwas kommt nur selten vor.
Marica Bodrožić wurde schon mehrfach für ihre Arbeiten ausgezeichnet, aber noch nie für ihr lyrisches Werk. Beim Salzburger Otto Müller Verlag sind aber inzwischen drei Gedichtbände von ihr erschienen - zuletzt im Februar 2011 "Quittenstunden". Quitten sind gelb, eine Farbe, die für die Dichterin schon ganz zu Anfang wichtig war. In ihrem Debütbändchen steht:

Ich will an die Seligmachung schreiben. An die Herzmitte der gelben aller Farben.“
 
Aber Halt: Ich bin zu schnell, zu ungeduldig. Vielleicht macht ja jemand Notizen, und ich habe etwas Wichtiges übersprungen. Es wäre unhöflich, bei so einem Anlass einfach über bisherige Buchveröffentlichungen hinwegzugehen. Das waren:
  • Tito ist tot“, Erzählungen, Frankfurt / Main 2002
  • Der Spieler der inneren Stunde“, Roman, Frankfurt / Main 2005
  • Meine Ankunft in Wörtern“. Frankfurt / Main 2007
  • Ein Kolibri kam unverwandelt“, Gedichte, Salzburg, 2007
  • Der Windsammler“. Erzählungen, Frankfurt / Main, 2007
  • Lichtorgeln“, Gedichte, Salzburg, 2008
  • Das Gedächtnis der Libellen“. Roman, München, 2010
  • Quittenstunden“, Gedichte, Salzburg 2011
Schon 2002 erhielt sie den Heimito-von-Doderer-Preis, und 2003 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis der Robert Bosch Stiftung, nur zum Beispiel. Ein Lyrikpreis ist noch nicht dabei. Ich finde aber, dass selbst ihre Prosa pure Poesie ist. Und damit komme ich zu meinem bescheidenen Versuch, zu begründen, warum Marica Bodrožić meiner Meinung nach den Liechtenstein-Preis mehr als verdient hat.
Dazu möchte ich eine kleine Geschichte erzählen. Auf Seite 367 seines ebenso unterhaltsamen wie klugen Journals „Zu früh – zu spät“ beschreibt der Salzburger Autor Karl-Markus Gauß mit seinem kenntnisreichen Engagement für die Minderheiten Europas die Jenischen, wie man in Tirol, in Süddeutschland und in der Schweiz ein fahrendes Volk nennt, das auch als Vagabunden oder „weiße Zigeuner“ bekannt ist – oder eben eher unbekannt. Gauß hat herausgefunden, dass die Sprache der Jenischen sich aus Elementen des Deutschen, Jiddischen, Rotwelsch und Romanes zusammensetzt und ständig neue Wörter bildet. Und dann fährt er fort:
Für „Telefonieren“ ist im Jenischen etwa ein Wort erfunden worden, das wörtlich im Deutschen soviel wie „Fernküssen“ bedeutet.
Marica Bodrožić kennt und schätzt Gauß. - Aaha!, dachte ich. Aber sie hat mir glaubwürdig versichert, dass sie davon keine Ahnung hatte, als sie schrieb:
Mit der Stimme küssen, das muss ein Anruf sein.
Ein Parlograph des Herzens, ganz nah und ganz Vogel
zugleich.
Sie ist von allein drauf gekommen, auf dieses poetische Bild vom Fernküssen; das ist ihr Job als Dichterin, aber das hätten ja auch schon andere vor ihr finden können. Sie hat also eine ungewöhnlich feine Antenne für solche Möglichkeiten und hat sich deren Umsetzung in die deutsche Sprache erworben und erarbeitet. „Da soll noch einmal jemand sagen, dass solches Können nichts mit Kunst zu tun hat!“, dachte ich und bekam Lust, diese Dichterin zu interviewen. Am Telefon – sie im SWR-Hauptstadtstudio Berlin, ich in einem Studio in Baden-Baden. Wir haben uns also doch schon etwas besser kennen gelernt: „Irgendwie“ durchaus zeitgemäß, virtuell, durch Lektüre, E-Mails und telefonisch. In dem erwähnten Telefoninterview sagte sie auch etwas davon, Poesie müsse rebellisch sein. Da bin ich ganz ihrer Meinung, mindestens.
Noch etwas war ihr wichtig: die Liebe zu Hölderlin, zur Romantik und zum Gefühl, das unserer Ansicht nach heute bei vielen Dichtern zu kurz kommt, weil es manche gern verbieten würden. Auch das hat mir sehr gefallen. Übrigens: Das Interview dauerte knapp 7 Minuten, und 7 mal kam darin das Wort „tief“ vor – 5 mal mit dem Attribut „ganz“ oder „so“. Anscheinend erinnert sich diese Autorin ein Mal pro Minute daran, dass sie nichts mehr verabscheut als Oberflächlichkeit.
2007, als beim Otto Müller Verlag in Salzburg ihr erster Gedichtband erschien, hatte ich spontan das schwer erklärbare Gefühl, da sei etwas Besonderes geschehen, etwas Großes, etwas das bleibt. Schon der Titel war seltsam und hatte etwas Flirrendes, Schwirrendes, Sirrendes und doch – nein, nicht Irrendes, aber durchaus Verwirrendes, Irritierendes: “Ein Kolibri kam unverwandelt“.
Wenn Marica Bodrožić über so etwas Alltägliches schreibt wie ein Telefongespräch, entsteht ein erotisches Gedicht mit philosophischen Fußnoten. Sie findet sinnliche Bilder für abstrakte, sogar technische Vorgänge, webt Leichtigkeit in Schwermut und umgekehrt, hebt das banal Persönliche durch Rhythmus und Tonfall ins Liedhaft-Allgemeingültige. Der Lyrikband „Ein Kolibri kam unverwandelt“ ist schmal: Gerade mal 87 Seiten, aber die haben es in sich. Sie können wirklich etwas auslösen im Leser. Zitat:

Das vielfache Küssen verlängern, die Masten sich selbst
Überlassen.... Das holt die Stimme
alles wieder zurück. Die Traumnachbarschaft seiner Stirn!
Und mit ihr die Vorstellung: die Bilder des geliebten
Menschen ruhten sich jetzt in unserer Schlafhand aus,
kämen endlich nach Hause und frühstückten mit uns,
an unserem Tisch, an dem auch die Krumen
Liebe fürs Fliegen sind.
Ein Migrantenschicksal schob diese Autorin quer durch die politischen und kulturellen Systeme, wie es zu Zeiten des real existierenden Sozialismus häufig vorkam. Ungewöhnlich höchstens die gute Schulbildung, die sie genoss. Und auch ihre Universitätsstudien: Nicht Germanistik (das hätte man ja meinen können, wenn jemand Schriftsteller werden will).
Nein: sie studiert Slawistik, da bilde ich mir ein, Selbstvergewisserung zu erkennen. Sie studiert vergleichende Kulturwissenschaften, Psychoanalyse. Sie sie will verstehen, was um sie herum vorgeht und was passiert in der Welt. Sie sucht die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft, aber sie will auch ganz im Hier und Jetzt ankommen, in der deutschen Sprache.

Nach ihrem ersten Erzählband „Tito ist tot“ erschien 2005 bei Suhrkamp auch ihr Roman „Der Spieler der inneren Stunde“. Dabei hat sie, wie so viele Autoren, mit Gedichten angefangen. Deren Veröffentlichung begann erst mit dem Erfolg der Prosa im Rücken. Auf die Frage nach dem Warum sagte sie 2007:

Weil sie einfach ganz tief zu mir gehören und weil ich immer Gedichte schreibe. Weil im Grunde genommen meine Art, die Welt zu erleben, eigentlich ständig in Rhythmen zu denken ist. Und da bleibt es nicht aus, Gedichte zu schreiben“.
Damit ging die mehrfach preisgekrönte Suhrkamp-Autorin zum Otto Müller Verlag in Salzburg. Dort hat man vermutlich mehr Sinn für ihre geistigen Wurzeln. Die verraten sich weniger im Migrantenschicksal, sondern mehr durch Widmungsgedichte, etwa für die Mystiker Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz. Über die sagt Bodrožić:

Diese beiden Menschen waren große Liebende, große Liebende des Wortes, große Menschen auch. Das muss einen Echoraum in jedem Menschen hinterlassen, der etwas mehr wissen will von der Welt. Und für mich ist Welt eben nie nur die äußere Welt“.
Liebe und Wissen sind ihre großen Themen, Freiheit, Einsamkeit, Erinnerung und Tod. Licht und Farben spielen eine große Rolle bei Marica Bodrožić, eigene Wortschöpfungen, erfrischend oft eine Portion Ironie. Ihre Bildmagie zeigt Nähe zu Else Lasker-Schüler, Rose Ausländer, Sarah Kirsch. Im Unterschied zu denen aber verbindet diese Autorin ihr Gefühl fast immer mit einem Element des Erzählens. Sie hat das auch schon früh definiert und analysiert, wie man das eben lernt, wenn man Psychoanalyse studiert. Zitat:

Ich kann nicht anders. Es treibt mich dazu, und es gibt so eine metaphysische Erfahrung: Dass das Geschichtenerzählen und das Gedicht, also der Gesang, ganz tief zueinander gehören, und dass das der Ursprung aller irdischen Sprache ist. Und deswegen gehört das Erzählen für mich auch immer in die Gedichte hinein“.
Ihre Kronzeugen sind die Ilias von Homer, das Rolandslied, das Nibelungenlied, Hölderlin, der Große Gesang eines Pablo Neruda: Große Dichtung, Kollektivbesitz, Weltkulturerbe, undenkbar ohne den hohen Ton, den Stefan George und Durs Grünbein so in Verruf gebracht haben. In guten Gedichten aber rechtfertigen Inhalte diesen Ton und nehmen oft eine unerwartete Wendung:

Jeder Zeh ein Kitzelgebiet
aus der Zeit vor der Zeit, bevor der Eiszeitmensch
sich in seine Zukunft als Somali, Kroate, Ägypter und
Astronaut aufmachte. Andernorts hinter den Milchstraßen,
Korrespondenzen. Und all dieser Verkehr von Wörtern
und Hufen und Stillehöfen und Liebesfäden. All dieses
eine Wir, an dem jeder ausgesprochene, jeder ausgedachte
Buchstabe mitwebt. Engel, Mensch, Tier, verwaist
in der Einöde der Zeit.

Für einen Augenblick sehe ich, wenn ich diese Zeilen lese, innerlich ein greises Kind mit weit aufgerissen Augen angesichts all der berechtigten Sehnsüchte, Menschheitsträume und gebrochenen Versprechen, der Hekatomben von Tierpopulationen und Menschenvölkern in dieser seltsamen, grausamen und wunderbaren Welt. Woher so viel Wissen in einem für Literaten noch zarten Alter? Diese junge Autorin besitzt ein Wissen des Herzens, das den Lebensjahren weit voraus eilt. Neben allerlei Formalitäten der deutschen Sprache und Poetik macht sie eben dieses Wissen zu einer wahren Dichterin.
Dadurch ist sie den vielen wortgewandten Winkeladvokaten der Medien-und Bühnenshow, der Comedy und der Poetry-Slams unendlich überlegen, finde ich. Wie kompromisslos poetisch Marica Bodrožić denkt und schreibt, zeigt auch ihre Prosa. Ein Beispiel dafür sind die Erzählungen in dem Band „Der Windsammler“ von 2008.
Was ist eine Lichtharfe, eine Luftorgel oder eine Brustlaterne? Ein Traumhüter oder ein Bildinspektor? Seltsame Wörter und Wesen bevölkern die elf Erzählungen dieses Buches. Vordergründig sind es elf Ausflüge auf Inseln vor der Küste von Dalmatien, in die mediterrane Welt ihrer Kindheit. Dieses Inselbuch der gebürtigen Kroatin, die körperlich in Berlin und geistig in der deutschen Sprache lebt, erzählt aber von mehreren Wirklichkeiten, die sich gegenseitig durchdringen: Sagen, Märchen, Erinnerungen, Träume, Begegnungen.
Oko der Windsammler, die Titelfigur der Titelgeschichte, ist ein Junge von der Insel Pag (sprich: Paag), der bei Nacht mit seinem Panamahut den Wind fängt und bei Tag einen schwarzen Lippizanerhengst sucht, den ihm der Erzengel Raphael gestohlen hat. Weshalb es auch heißt, er sei nicht bei Verstand. Zitat:

Er lebt in keinem Luftschloss, das nicht, sagte die vertraute Stimme, aber er lebt mit verknüpften Sinnen. Die Forscher betrachteten täglich ihre Tabellen. Man gab sich Zettel in die Hände, schaute zum Plafond, es wurden Entscheidungen getroffen. Verknüpfte Sinne, das kannten sie nicht. Heilanstalt war das Wort, das die Forscher erst leise und dann mit Nachdruck, wie zur Selbstversicherung aussprachen. Wie alle Wörter, die einmal ausgesprochen sind, entwickelte das Wort seine Wirkung und forderte, eingelöst zu werden. Wörter sind Zauberkundige. Wörter sind Stellvertreter des Menschen.“

Manche dieser Erzählungen haben eine Handlung, manche sind mehr Beschreibungen seelischer Zustände. Besonders liebt die Autorin archaische, surrealistische Parabeln – Geschichten „aus der Welt hinter der Welt der Welt“, wie sie sagt. Solche Wendungen sind typisch für Marica Bodrožić. Aus der scheinbar überflüssigen Wiederholung, die erst wie eine kleine sprachliche Unsicherheit wirkt, entsteht eine ungewöhnliche Betonung, die uns verzaubert.
In diesen Erzählungen kommen zwar Vater, Mutter, Schwestern, Freundinnen vor, aber sie sind nicht autobiografisch. Splitter der sozialen und historischen Realität vermengen sich mit träumerischen Erfindungen, Landschaftsbildern und Elementen der wissenschaftlichen Abhandlung zu etwas Neuem, Vielschichtigem. Das bleibt ganz gern auch einmal rätselhaft. Immer aber ist diese Sprache sinnlich und poetisch, auch da, wo in perspektivischer Brechung Zeitgeschichte darin vorkommt. Diktatur, Krieg und Emigration in Jugoslawien streift die Autorin nur, aber in eindringlichen Bildern. Zitat:

Als meine Schwester Ada und ich nach Jahren des Wegbleibens auf die Lange Insel zurückgekommen waren, hat uns der offenbar auf dem Schiff mitgereiste Bildinspektor verdächtigt, eine Lichtharfe und andere mehrdimensionale Gegenstände zu besitzen. Er sagte es uns gleich am Hafen, eine Lichtharfe dürfe es auf der Langen Insel nur geben, wenn man sie registrieren lasse… Wir nahmen unsere Koffer in die Hände, um nach Hause zu gehen. Der Bildinspektor sagte, ich weiß, dass Sie lange nicht auf der Langen Insel waren. Zehn Jahre, sagte ich. Er lächelte mich auf eine Art an, als hätte ich die Hälfte unterschlagen.“

Durchaus unbotmäßiges, sogar subversives Phantasiefutter liefern diese Erzählungen. Von einem Verbotstraum ist die Rede, der um sich greift und von dem Kinder noch nichts wissen, von nächtlichen Versammlungen der Träumer. Der jugoslawische Archipel GULAG wird in der Erinnerung eines Mannes lebendig, der auf der ehemaligen Gefängnisinsel die Spur seines Vaters sucht. Und eine politische Satire erzählt die Geschichte von der „Rache des Damhirsches“ aus Titos Jagdrevier. Weil es keine Zäune mag, erscheint das Tier dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht im Traum und verändert den Lauf der Geschichte.
Etwas Kafka, etwas Chagall, und gelegentlich zwei Tropfen politischer Satire nach Art eines Kurt Tucholsky: Irgendwo in den Geschichten dieser Autorin könnte immer ein Engel durch die Luft fliegen. Es sind Geschichten, die der Wirklichkeit gern ein Bein stellen und mit der Freude eines großen Kindes neue Wörter ausprobieren.

Anfang 2008, gleichzeitig mit den „Windsammler“-Erzählungen, erschien der zweite Lyrikband von Marica Bodrožić. Und einerseits waren die Texte in „Lichtorgeln“ eine Fortschreibung dessen, was bei mir jene fast pubertäre Entdeckerfreude ausgelöst hatte; andererseits aber trieb sie die Sprache hier schon dermaßen an die Grenzen ihrer selbst, ins Niemandsland zwischen lyrischen und prosaischen Regelwerken, dass ich schon fürchtete, wir würden eine Lyrikerin verlieren. Wo sollte das nur enden: In Schweigen? In amorpher Beliebigkeit oder in halluzinierenden Beschwörungsformeln? Im stromlinienförmigen Mainstream-Blabla von Facebook? Doch schon die erste Zeile hatte auch etwas Beruhigendes für mich:

DIE MELANCHOLISCHEN MÄDCHEN sind für immer ausverkauft.“

Gut. Es würde also weitergehen. Die Gedichte in „Lichtorgeln“ wirken wie lyrische Verdichtungen der Erzählungen im „Windsammler“, schon rein äußerlich, optisch wie poetologisch.
Den weitgehend fehlenden Zeilenbrüchen entspricht eine rhythmische Entgrenzung der sprachlichen Form. Hier wie dort spiegelt sich die gegenseitige Durchdringung von Träumen, Bobachtungen, Märchen und autobiographischen Alltagsbezügen in einer Vermischung unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen und Stilmittel. Mehr denn je zeigte sich auch hier: diese Autorin erzählt auch in Gedichten gern Geschichten, und ihre Prosa ist poetisch durch Bildhaftigkeit und Tonfall:

HINTER DEM KNORRIGN OLIVENBAUM, das Singen der Zeit. Die Sonne schreibt das Blatt. Das Meer reicht der Olive die Hand. Der Mediterran, mein Ursprung in die heitere Beständigkeit. Eine Lichtorgel aus gesiebten Stunden, ungefeierten Kindergeburtstagen und den nach Australien ausgewanderten Nachbarn: Der Kaffee serviert sich von selbst, ungeachtet der Nostalgie, der Verwirrungen und Tränen. Das Rätsel für das Kind: Wie haben sie alle zusammen das Meer erwandert? Über das Meer gehen, das kann doch nur EINER!“

Zum Bodrožić-Kosmos gehören mediterranes Licht, Heiterkeit, Traurigkeit, Kindheitserinnerungen, das Rätsel der Zeit und Dinge, die sich selbständig machen. Die „Lichtorgeln“ aus dem Titel sind keine Lichtmaschinen in Diskotheken, sondern eine mehrdimensionale Metapher, die sich der Eindeutigkeit entzieht. Und doch klingt der rhythmische Wechsel der Gemütsfarben mit. Auf ihren Lichtorgeln spielt die Autorin alle Tonleitern durch – zwischen Realismus und Märchen, Scherz und Ernst. Zitat:

VOR MEINEM FENSTER waren Lichtorgeln aufgestellt worden, das Baugerüst hatte man abgenommen. An den Orgeln hingen viele Menschen… Arme waren zu sehen, Ohren, Füße, mit und ohne Schuhe, ganz viele Augen, eine Augenwoge schaute in mein Zimmer. Was macht ihr da!, fragte ich, etwas unbeschwingt, das ist doch mein Fenster. Schließlich war durch den Betrieb an den Lichtorgeln der ganze Himmel verdeckt, ich sah nicht einmal mehr die Bäume von gegenüber, selbst die Wipfel schienen etwas von mir Erdachtes zu sein.“

Eltern, Geschwister, Marilyn Monroe, Katharina von Siena, Frida Kahlo, Virginia Woolf, Marina Swetajewa, Teresa von Avila und Ingrid Bergmann finden sich im Gespräch miteinander und mit dem lyrischen Ich – und daraus wird niemals nur oberflächliches Geplapper oder sinnloses Durcheinander. Das will die Abgründe zwischen Zeiten und Welten überspannen wie die Brücke von Mostar und bietet vieles, nur keine Sicherheit. Zitat:

Verlasse dich nicht auf das lyrische Ich. Es ist erfunden. Aber: natürlich, nur dort ist es zuhause. Quer zwischen meinen sechs Leben liegt eine hingedachte Brücke. Die Welt zeigt sich als Zwischenwelt.“

Wortschöpfungen leuchten auf: „Lichthandel“, „Angstmonarch“, „hängende Luftaltäre“, „Herzlücken“, „Hautnachbarschaft“, eine „gemandelte Trauer“.

Viele der Texte sind auf so klare Weise unverständlich, dass sie neue Deutungen und Bedeutungen geradezu erzwingen. Die Regeln von Interpunktion und Grammatik, sogar die Naturgesetze sind teilweise aufgehoben. Da zeigt sich etwas Rebellisches, vielleicht am schönsten in einem der ungewöhnlichen Liebesgedichte:

Er ist fast verrückt geworden, wenn ich die Wörter rückwärts sprach. Einmal hat er es mir verboten, ich sollte die Wörter nie mehr rückwärts sprechen. Dann habe ich ihn verlassen. Es ging nicht mehr. Ich kann nicht mit einem Menschen frühstücken, der mir Wörter von rechts verbietet, überhaupt, wenn jemand etwas verbietet, ich kann da nicht schlafen, die Träume verlassen mich.“

Wo scheinbar die formale Strenge rhythmisch gebrochener Zeilen fehlt, entsteht vieldeutige Verdichtung auf der Suche nach Transzendenz: etwas Kompaktes, manchmal Schwieriges, aber nie Schweres, das in der Phantasie des Lesers nachhaltig weiter arbeitet. Ein schmales Buch, komprimiert und voll gepackt wie eine ZIP-Datei: Diese Gedichte führen bis an die Grenzen der Sprache. Zitat:

So verloren war ich/ dass ich immer nur Fragen stellte. Keine Antworten mehr/ die Fragen, unbedürftig. Niemand harrt da aus/ niemand/ wenn das Nicht nur nicht ein Nicht wäre, dann wäre es vielleicht eine Blume/ habe ich damals gedacht/ die uns erlöst und über das Ganze stellt. Das Reden: aufgehoben. Es gäbe gar nichts zu sagen.“

Anfang 2011 brachte dann der Gedichtband „Quittenstunden“ die Gewissheit, dass diese Lyrikerin nicht jenseits der ausgetesteten sprachlichen Grenzen verschollen gehen würde. Sie schlug mit Langgedichten nur ein neues Kapitel auf. Nicht unbedingt formal, obwohl es auch formal eine Leistung ist, eine Spannung in Bildern und Rhythmen dramaturgisch über längere Strecken durchzuhalten. Doch vor allem stellt sich hier die Autorin eindeutiger und mutiger denn je den Verletzungen ihrer Biographie. Es sind keine autobiographischen Gedichte, aber doch Epitaphe, lyrische Dokumente einer Befreiung aus der Angstkirche des 20. Jahrhunderts. Hier zeigt sich erstmals mit einer schmerzhaften Intensität die Erfahrung von Kummer und Leid. Etwa in dem Gedicht ZEITTEPPICHE WENDE ICH:

Mutters Gesicht ist aus mir entfernt
: es war eine Operation am Nabel
alles verblichen alles verheilt
in all den Jahren liebte ich sie sehr
vor allem ihre weißen Schläfen
vor allem ihre böse Erinnerung
vor allem ihre im Wegsehen geübten Augen
ich tat‘s genau andersherum
ich brachte sie fast um
meine im Hinsehen geübten
Augen so genau so genau
verzieh sie mir nicht
die Iris nie und nimmer und immer sagte sie
zu bunt zu bunt bist du
sie verzieh mir keinen Tag lang
sie nahm sie mir krumm
die Augen
die Iris
die Liebe
die Erinnerung
die Geburt vor allem
meine Geburt war das Übel

Trotz ihrer Wucht erschlagen uns diese Verse nicht mit ihrer eigenen Bedeutung, sondern federn sanft und elastisch ab in Selbstironie und Ironie, wie sprachliche Judo-Rollen. Diese Technik kann sie brauchen als Jobnomadin mit Laptop und Handy, gerade angekommen aus Berlin, über Zürich unterwegs in die USA. Wie in dem Gedicht „Vielfache Welt in Dir“:

wo du bist ist immer etwas
manchmal ist das Etwas
auch nur ein bunt angemaltes Nichts
das Denken ist deine Transsibirische Eisenbahn
sie führt direkt nach New York
dort denkst du
war ich noch nie
bevor die Welt für immer ganz anders wurde
überall wolltest du überall sein
jetzt nur mit diesem Rehblick aufhören

Die Bücher von Marica Bodrožić sind der Atem einer kulturellen Symbiose, und der Leser darf, wenn er möchte, ein Teil davon werden. Die Dichterin kommt aus einem fremden Land mit geheimnisvollen Küsten und sonnigen Inseln. Sie ist eingewandert in die deutsche Sprache, hat sie sich anverwandelt und gibt sie uns verzaubert zurück. Das ist eine große Bereicherung. Es sind auch sensible, klare Analysen der eigenen Herkunft – in Versen, die zittern wie Gras im Wind, biegsam, zart und doch von einer unverwüstlichen Schönheit.





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