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Donnerstag, 9. Juni 2011

Jorge Semprún ist tot - Nachruf auf einen großen Zeitzeugen

Gestern kam die Nachricht vom Tod des spanischen Schriftstellers Jorge Semprún. "Die große Reise" machte ihn bekannt - ein Roman, dem noch viele anderen folgen sollten (z.B. "Unsere allzu kurzen Sommer", "Zwanzig Jahre und ein Tag", "Der Tote mit meinem Namen", alle bei Suhrkamp). Eigentlich hatte Semprún nur ein Thema oder schrieb ein großes Buch immer wieder neu, und das machte die Lektüre schwierig: stets ging es um seinen Kampf gegen die Diktaturen von Franco und Hitler, um seinen Kampf für die Freiheit in Europa, sein manchmal problematisches Engagement für die Kommunistische Partei - mal Spaniens, mal Frankreichs, aber nie Russlands oder der DDR.

Eigentlich, so schrieb Jürgen Verdofsky in der "Stuttgarter Zeitung", dauerte die "große Reise" Semprúns ins KZ Buchenwald fünf Tage und vier Nächte, die Rückkehr aber ein ganzes Leben. Semprun wurde 1923 als Sohn eines Intellektuellen in Madrid geboren, engagierte sich für die demokratische Republik. Deshalb musste er in den Untergrund und floh schließlich nach Frankreich, als die Demokratie in Spanien 1939 vom Putschgeneral und Bürgerkriegs-Sieger Francisco Franco beendet wurde. Dort kam er vom Regen in  die Traufe: 1943 verhaftete ihn die GESTAPO und deportierte ihn im Januar 1944 ins KZ Buchenwald. Damals gab es noch keine Therapien auf Krankenkasse gegen posttraumatische Belastungsstörungen. Semprún hat diese Erlebnisse vor allem schreibend bewältigt.

Er hat das KZ überlebt, konnte aber bis zu Francos Tod 1975 nicht in seine Heimat Spanien zurück. Und so wurde er zu einem unermüdlichen Ankläger und Zeitzeugen. Wahrscheinlich hat er viele literarische Preise und Ehrungen im Grunde für dieses glaubwürdige Engagenment erhalten. Seine Literatur ist meines Erachtens sehr überschätzt worden. Aber Semprún war ein eindrucksvoller Redner. Er beherrschte neben seiner Muttersprache Spanisch und Französisch auch Deutsch, das er im KZ gelernt hat. Und seine Auftritte hatten Wirkung.

Das war ähnlich wie bei seinem Zeitgenissen und Bruder im Geiste, dem russischen Lyriker Jewgeni Jewtuschenko. Der überlebte Hitler und Stalin, erst den Zweiten Weltkrieg und dann die Verbannung nach Sibirien, später die Umwälzungen der Sowjetunion unter Chruschtschow und noch einmal unter Gorbatschows "Perestroyka"-Bewegung. Jewtuschenko und Semprún: Zwei Davongekommene. Zähe Burschen, die hinreißend von Gemeinsamkeiten unmenschlicher Systeme erzählen konnten. So habe ich auch Jewtuschenko erlebt bei ungewöhnlichen Dichterlesungen wie im Stuttgarter Rathaus, zu denen 1000 Leute kamen. Semprún war auch so einer: ein literarischer Monomane, aber auch ein großer Politiker (zuletzt spanischer Kulturminister) Zeitzeuge, der allen Demokraten in Europa schmerzlich fehlen wird.

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