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Samstag, 12. März 2011

Die DAFÜR-BEWEGUNG wächst: Fortschritt jetzt!

Über diese Brücke bei meinem Wohnort Kirchheim rollen mehrmals im Jahr Castor-Transporte aus dem Kernkraftwerk Neckarwestheim hinter dem von idyllischen Weinbergen bedeckten Hügel. Heute begann hier eine Aktion gegen die einseitige Laufzeitverlängerung alter Kernkraftwerke durch die CDU-geführte Regierung. An einer Menschenkette vom Atomkraftwerk über 45 Kilometer bis zum Stuttgarter Schlossplatz nahmen nach ersten Schätzungen rund 60 000 Menschen teil.
Was gestern in Japan passiert ist, wo zwei Atomkraftwerke von einem Erdbeben der Stärke 8,9 so schwer beschädigt wurden, dass eine Kernschmelze droht, sollte eigentlich Millionen auf die Straße bringen: gegen eine Lobby-Politik zu Gunsten großer Energiekonzerne, denen wohl Menschenleben nichts bedeuten. Sonst hätten sie ja nicht auch die Laufzeit des völlig veralteten Reaktors Neckarwestheim 1 mal so eben um 12 Jahre verlängert.

Tanja Gönner (CDU), durch ihre rücksichtslose Propaganda als Verkehrsministerin von Baden-Württemberg für das problematische Projerkt Stuttgart 21 schon hinreichend desavouiert, hat hier eine zweite Todsünde begangen: Als Umweltministerin schon vor Mappus ließ sie Gutachten im Tresor verschwinden, die dem Reaktor schwere Sicherheitsmängel bescheinigen. Sie ignoriert bis heute selbst gerichtliche Anordnungen, die Unterlagen auf den Tisch zu legen, und beruft sich immner noch auf selbst definierte "Geheimhaltungspflichten". So macht´s ja auch Berlusconi, so hat er´s von der Mafia gelernt un d so machte es ja auch Helmut Kohl: Man sagt einfach, etwas sei geheim, wenn man die Leute bescheißen will. Nur geht das eben nicht in einer rechtsstaatlichen Demokratie.

Muss uns erst selber ein Kernkraftwerk um die Ohren fliegen, bis unsere Volksvertreter vernünftig werden und eine Energiepolitik machen, die Zukunft hat? Baden-Württemberg ist ein Land voller technischer Potenziale und Innovationen. Aber eine Koalition aus CDU und FDP blockiert dieses Potenzial seit Jahren. Ihre Vertreter versuchen, den wirkichen Fortschritt zu verhindern, um aus veralteter Technologie weiter Profite zu ziehen. Ich habe vor 20 Jahren bereits eine Probefahrt mit einem Pkw mit Brennstoffzelle auf dem Mercedes-Testgelände Untertürkheim mitgemacht. Aber wo bleiben die Tankstellen für Wasserstoff und die bezahlbaren Brennstoffzellen-Autos? Auch die Entwicklung von Elektromotoren und Batterien (Bosch ist groß!?) bleibt hinter den Möglichkeiten der Industrie zurück, weil man die nötigen Investitionen lieber der Allgemeinheit aufbürdet und weiter Gewinne aus einer veralteten Technologie abschöpft, die auf Öl basiert. Und diese Industrie lässt sich hemmungslos aus Staatsmitteln in der Krise die Gewinne mit "Abwrackprämien" sichern!
Gipfel dieser Unverfrorenheit: Die Allianz der Rückständigen nennt ihre Gegner "Dagegen-Partei" und versucht, sie (die ja längst mehr als nur eine Partei repräsentieren) als rückständig und fortschrittsfeindlich zu diffamieren. Jeder, den gegen den unsäglichen Filz aus FDP und CDU/CSU ist, der inzwischen seine eigenen Werte zu Grabe getragen hat wie im Fall des Doktor-Betrügers Guttenberg, ist DAFÜR: Für einen soliden Umgang mit Steuergeldern, für eine sinnvolle Verkehrspolitik, für eine sichere, zukunftsträchtige Energiepolitik, für eine nachhaltige Wirtschaft und für ein Gesundheits- und Sozialwesen, das den Menschen dient, statt Profiteuren, Spekulanten und Schmarotzern wie Investmentbankern die Taschen zu füllen.

Es geht im Superwahljahr um FORTSCHRITT JETZT: Japan und Tschernobyl sind überall, wo man nicht bereit ist, die Lehren daraus zu ziehen.

Eine Pianistin? - Ein Medium! Alice Sara Ott

Hier hat sie beim Signieren nach dem Konzert gerade eine Freundin entdeckt und zeigt sich gerührt. Alice Sara Ott ist überhaupt eine Frau zum Knuddeln. Gestern Abend spielte sie in der Stuttgarter Liederhalle ein Konzert mit den Wiener Symphonikern, das wahrhaft umwerfend war. Umwerfender als meine Digitalkamera, deren Objektiv zu lichtschwach ist, um festzuhalten, wie sie auf der Bühne wirkte - und sei es auch nur beim Schlussapplaus. Auf dem Programm standen das Klavierkonzert Nr. 1 Es-Dur und der "Totentanz" von Franz Liszt, nach der Pause folgte zum Chillen noch die Sinfonie Nr. 1 c-Moll von Johannes Brahms sowie als Zugaben die "Tritsch-Tratsch-Polka" von Johann Strauss (ich weiß nie, ob vom Vater, vom Sohn oder vom Heiligen Geist) und einer der berühmten Slawischen Tänze. Das musste sein mit einem Adam Fischer am Dirigentenpult, der schließlich in Budapest geboren ist.
Zurück zu Alice Sara Ott: 22 Jahre alt ist dieses zarte Persönchen mit einer japanischen Mutter und einem deutschen Vater (beide Musiker). Wer sich ein wenig angelesen hat, war gewarnt: Sie spielt nicht erst seit kurzem Liszt. Was dann aber auf der Bühne zu sehen und zu hören war, ist unglaublich. Abgesehen davon, dass ich noch keinen Mann im Smoking (oder bin Jeans) barfuß am Klavier erlebt habe, stellt dieses junge Huhn an Virtuosität und Charme bereits eine Hélène Grimaud in den Schatten. Sie hat das Gefühl einer Geisha und kann doch in die Tasten hauen wie ein Kerl. Ihr lange rotes Kleid, ohne das der Barfuß-Auftritt leicht hätte peinlich werden können, verbarg nicht die Muskelarbeit, die hinter ihrem so leicht und anmutig, nicht im mindesten athletisch wirkenden Spiel steckt. Und für mich war das alles symbolisch für eine neue Freiheit der Performance, die derzeit viele junge Solistinnen in die Welt der klassischen Musik bringen.
Schon beim Klavierkonzert Nr. 1 von Liszt war aber noch etwas zu erkennen: Diese Frau ist nicht nur eine Pianistin, sie ist ein musikalisches Medium von unglaublicher Intensität. Die Musik - und jeder einzelne Musiker des großen Orchesters mit ihr, bis hin zum Dirigenten - scheint durch sie hindurch zu fließen. Sie nimmt alles auf und gibt es verändert, verzaubert weiter. Ihr Klavierspiel ist ein zweites Orchester, das im perfekt synchronisierten Gegenchor ein faszinierendes Frage- und Antwortspiel mit der Umgebung liefert. Wer dabei in ihr Gesicht schaut, sieht höchste Verzückung und schmerzhafte Hingabe, in jedem Fall aber völlige Versenkung und Konzentration bei gleichzeitig umfassender Präsenz. Anwesender, bestimmender, beglückender - weil dialogischer - habe ich in solcher befrackten Umgebung selten jemanden spielen gesehen. Das war eine Jam-Session! Fast zu schade für ein wie meistens eher steifes Stuttgarter Publikum, aus dem nur einzelne Bravos den allerdings mehr als höflichen, sehr starken und langen Applaus durchbrachen? - Nein, ich will nicht so sein. Stuttgart hat sich gefreut und hat´s bitter nötig.
Alica Sara Ott war auch nicht engherzig. Als Zugabe nach ihrem furiosen Liszt-Auftritt spielte sie das versonnene, poetische, manchmal melancholische Nocturne cis-Moll von Chopin.

Sonntag, 6. März 2011

Buchtipp des Monats: "Herznovelle" von Julya Rabinovich

"Das Herz ist das Zentrum von allem, sagt er
ich fragte mich, was mein Zentrum ist
ich habe keines
er ist stellvertretend mein Zentrum
ich sage es ihm
er nimmt das Herz aus meiner Brust
und zeigt es mir und sagt:
Das gehört Ihnen,
Und ich sage:
Das Mängelexemplar können Sie gratis zur
   Ansicht behalten.

Das ist ein Traum. Und es ist Lebenswirklichkeit für die Ich-Erzählerin in der "Herznovelle" von Julya Rabinovich. Die handelt - ganz im Sinne der gattungsspezifischen "unherhörten Begebenheit" von einer Frau, die zu einer Herzoperation ins Krankenhaus kommt und sich in den Chirurgen verliebt. Das wäre noch nicht so arg unerhört, aber tragische Dimensionen erhält die Erzählung durch die nachhaltige Distanz des Angehimmelten. Dadurch "verspinnt" sich die Protagonistin mehr und mehr in eine innere Traumwelt, in der sie aktiver und lebendiger ist als draußen in der realen Wirklichkeit ihres behüteten Ehelebens. Sie lebt in geordneten Verhältnissen, und gerade die erscheinen ihr nach dem Klinikaufenthalt plötzlich wie der Tod, dem sie doch von der Schippe gesprungen ist. Voller Sarkasmus schildert sie ihre alte Welt:

"Bernhard ist bereit, meine Macken zu dulden, solange ich insgesamt funktioniere und der reibungslose Ablauf seines Alltags gewährleistet ist. Ich bin eine Maschine, der man - aufgrund ihrer Komplexität und des hohen Wertes - kleine Ausfälle einräumt. Das ist charmant und macht mich unverwechselbar. Solange das Frühstück, das Mittagessen und das Abendessen gesichert sind, versteht sich. Dann die Geschäftsessen mit Freunden und Kollegen. Die Pflichttermine und die Bälle. Dazwischen darf ich verhaltensoriginell sein."

Das liest sich witzig, ist aber abgründig. Über diesem Zwiespalt wird sie zur Stalkerin, die den Gegenstand ihrer irrationalen Hingabebereitschaft ebenso betrügt wie ihren Mann, nur um diesem Arzt nahe zu sein: Sie täuscht einen Notfall vor und kommt wieder ins Krankenhaus, sie nimmt ihre Tabletten erst gar nicht und dann zu viele, sie lauert ihm auf und sucht die ersehnte Begegnung im Krankenzimmer, im Arztbüro und im OP. Doch das Objekt ihrer Begierde entzieht sich ebenso hartnäckig, also bleibt alles Fiktion, Wunschtraum und Tagebuch einer entstehenden Schizophrenie: "Mein Begehren ist ein Gewehr, das auf jemanden gerichtet werden will", heißt es einmal im Ton analytischer Schärfe. Und dann wieder klingt es bedingungslos sentimental und romantisch, aber auch sarkastisch: "Wenn Sie mich loslassen sterbe ich, sage ich". "Lassen Sie mich los", antwortet er.
Julya Rabinovich ist da ein großartiges Stück Literatur gelungen: Scharf beobachtet, mit Humor geschrieben, erotisch aufgeladen, in jeder Hinsicht souverän. Im Kern hat diese Frau, die ein Kugelblitz von Temperament und Simulanübersetzerin ist (russisch-deutsch), eine tief traurige Geschichte über die große "Sehnsucht nach einem Leben vor dem Tod" erzählt. Aber sie tut das ohne abgedroschene Klischees in ihrer Sprache oder beim Plot. Sie beherrscht perfekt jene überraschenden Untertöne und Zwischentöne (bzw. Farben und Fehlfarben), die sogar Banales spannend machen.
Diese Autorin ist ungewöhnlich und vielseitig: sie malt, sie hat zahlreiche Theaterstücke verfasst und erhielt 2010 für ihren Debütroman "Spaltkopf" den Rauriser Literaturpreis. Man darf gespannt sein, was als Nächstes kommt.