SWR2 Buchkritik:
„Findelgesichter“ heißt der neue Gedichtband von Christine Langer, und da vertieft die Ulmerin ihre sensiblen Erkundungen der Natur und ihrer Wahrnehmung. Im Titelgedicht ihres Buches geschieht dies besonders vollkommen und konzentriert in haikuhafter Kürze:
Findelgesichter Kalk- und Kieselgestein:
Blinkende Muschelphantasie fürs Kinderauge
Schweben als ob und Wolkenrot Schweben Schalenkleid
Mehr Glut Meerhimmel
Am Abend Jahre
im Blick der Möwe in einem Blick
Violinen meerblaues Licht die Gischt die Wasserfarbe
die Wellenregung
Der Gang durch wärmenden Klang Gesang Wind
Schweben als Korn ins Gras fallend schweben ein Katzenhaar
Luft
Die Lust solange sie hält schwebt fällt wiederkommt schon naht
Die Nacht sie steigt auf hüllt den Blick der Möwe
Ihr Gesuch den weiten Ruf das Schreien und Schweben
Leise nimmt das Dunkel stimmt die Kühle ein
Es singen noch Stimmen erklingen
Ertönen Etüden Erdtöne sinken vertiefen
verschwimmendes Gold
Da wird ein Rhythmus aufgenommen: „Schweben als ob“ - und gleich wieder fallen gelassen zu Gunsten spontaner Stab und Binnenreime, die leicht erregbar und flüchtig die Wasserscheide zwischen realer Beobachtung und fiktionalen Traumelementen kräuseln: „Gang, Klang, Gesang.“
Da entstehen klingende Bilder und sprachlich sehr bewegliche Experimente. Die Autorin hat hier keine Liebeslyrik vorgelegt, aber sie lässt die Natur auf eine Art und Weise sprechen, die man nur sinnlich nennen kann: „Die Lust solange sie hält schwebt fällt wiederkommt“. Ganz zufällig steht Lust im unauffälligen Klammerreim mit Luft.
Ganze zwölf Mal spricht ein lyrisches Ich, ein Du gibt es nur sieben Mal. Lediglich ein einziges Mal Gelehrsamkeit, mit dem Zitat, das im Titel eines Gedichts auf Marcel Proust hinweist: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Aber das ist auch schon wieder ironisch relativiert mit dem drastischen Einbruch der Landwirtschaft in die ach so poetischen Landschaftsbilder:
„ein Geruch von Dung mischt sich ins Lautlose, das sich in jeder Sekunde erneuert und den Augenblick auffrischt“.
Unruhe im Unterholz
Ein Tummeln und Tollen
In dunklen Gängen wie duftet
Das Gestrüpp
Bei diesem Gezwitscher
Gekreische bis in die Wipfel die
Blaue Fetzen auf den Boden werfen
Diese Gedichte kommen nicht laut, sonder leise daher, vermeiden die großen Gesten und sind gerade darum so nah am Leser. Christine Langer schreibt von einer Wirklichkeit, die jeder kennt, aber noch lange nicht jeder wahrnimmt. Es gibt keine künstlichen Wortschöpfungen, keine laute Zeitgenossenschaft, sondern nur raffinierte Schlichtheit darin.