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Freitag, 22. Oktober 2010

Mal ein Gedicht

Stuttgart 60


Ganz wie das Wasser immer nur nach unten rinnt,
so schwinden mir die Stunden und die Tage.
Ist das normal, das so viel ohne mich beginnt,
hab ich tatsächlich keinen Grund zur Klage?

Es ist der Größenwahn, der spaltet diese Stadt.
Sie reißen ab und bauen neu aus reiner Gier.
Es sind Gesetze, die das Recht verlassen hat.
Sie raffen, und sie schlagen Schädel ein dafür.

Wo ist der Glaube, den es hier einst gab?
Sie reden von Erfolg und meinen Geld.
Es ist nicht ihres. Es ist ein Milliardengrab.

Doch ohne Spuren geht ihr nicht aus dieser Welt.
Habt ihr gelebt, geliebt, gekämpft, gelitten? –
Dann müsst ihr auch nicht um Verzeihung bitten.


Donnerstag, 21. Oktober 2010

Wider hirnlose Jasager und Schönschwätzer

Barbara Ehrenreich: “Smile Or Die – Wie die 
Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt“. 
Antje Kunstmann Verlag, München, 254 Seiten, 19,90 €.

Es stimmt, dass subjektive Faktoren wie Entschlossenheit entscheidend fürs Überleben sind und der einzelne Mensch manchmal über alptraumartige Widerstände triumphiert. Doch dass der Geist über die Materie siegt, ist kein Automatismus, und wer die Bedeutung schwieriger Umstände ignoriert – oder, schlimmer noch, sie auf die eigenen Gedanken zurückführt -, läuft Gefahr, in eine obszöne Selbstgefälligkeit zu verfallen wie sie die australische Autorin Rhonda Byrne angesichts des Tsunami von 2006 zum Ausdruck brachte. Sie berief sich auf das Gesetz der Anziehung und behauptete, solche Katastrophen passierten nur Menschen, die „auf derselben Wellenlänge sind wie das Ereignis“.

Diese Bilanz zieht Barbara Ehrenreich am Ende ihres Buches „Smile Or Die – Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt“. Die erwähnte Rhonda Byrne ist übrigens ihre Lieblingsfeindin. Sie hat den quasi-religiösen Bestseller „The Secret“ – Das Geheimnis – über jenes angebliche Gesetz der Anziehung geschrieben, dem zufolge man sich etwas nur intensiv wünschen muss, um es zu bekommen.
Heerscharen von Motivationstrainern, Werbeagenturen und amerikanische Fernsehprediger arbeiten mit diesem süßen Gift und leben gut davon. Aber längst hat es auch die Chefetagen von Wirtschaft, Medizin und Politik erreicht. Positives Denken ist ja gut, doch wer hat nicht schon beobachtet, wie es in hirnlose Jasagerei, Schönreden und krankhaftes Verdrängen echter Probleme umschlägt?
Barbara Ehrenreich analysiert die Gründe dafür, beschreibt die Entstehung des Phänomens und liefert Argumente für die Verteidigung gegen eine gute Idee, die sich zur verlogenen Pest entwickelt hat. Die erfolgreiche amerikanische Journalistin ist gelernte Biologin, hat eine Krebserkrankung überwunden und weiß: Positive Gefühle waren wichtig dabei, aber geheilt wurde sie von Chirurgen. Schon bei der ersten Untersuchung fiel ihr auf, dass die Umkleidekabine mit Kitsch beklebt war:

Eine „Ode an die Mammographie“, eine Liste der zehn wichtigsten Dinge, die nur Frauen verstehen – zum Beispiel toller Klamotten und Wimpernzange, und direkt neben der Tür, unübersehbar, das Gedicht „Ich habe für dich gebetet“, umrankt von rosa Rosen.

Doch der Markt für solchen Unsinn ist riesig. Sektiererische Ideologie erlebte Ehrenreich auch in Selbsthilfegruppen und in Motivationsseminaren: Nicht genug damit, dass ihr von der aufgesetzten Fröhlichkeit Todgeweihter übel wurde, das positive Denken schuf Feindbilder.
Wer kritisch denkt und frustriert auf seine Entlassung oder ständige Misserfolge reagiert, wird ausgegrenzt, mundtot gemacht und gedemütigt. Dem sagt man, er sei negativ und selber schuld. Nur so ist zu erklären, dass die Geheimdienste vor dem 11. September 2001 kein Gehör fanden oder dass alle Warnungen vor der Finanzkrise 2008 ignoriert wurden:

Was war dieser Marktfundamentalismus anderes als aus dem Ruder gelaufenes positives Denken? Nach der unter Bush und in geringerem Maß ... auch unter Clinton vorherrschenden Ansicht bestand kein Grund zur Wachsamkeit oder Angst um die amerikanischen Finanzinstitute, denn der „Markt“ würde alles regeln.

Als Ursache für die Entgleisungen des positiven Denkens macht die Autorin den Calwinismus aus – und typisch amerikanische Verzerrungen davon. Sie setzen Glück mit Erfolg gleich und ersetzen die totale Abhängigkeit von Gottes Gnade durch den Glauben, der Wille allein mache alles möglich und jede Armut sei selbstverschuldet. Pseudowissenschaftliche Unterstützung kam durch einseitige Studien über psychosomatische Medizin, diverse Magnetfeldtheorien und die „positive Psychologie“ der so genannten „Christian Science“.
Diese Leute beten zwar nicht mehr, gehen aber mit pseudoreligiöser Inbrunst gegen Alkohol, Tabak, Kaffee und Sex vor – ein pervertiertes Überbleibsel calwinistischer Genussfeindlichkeit.
Ein wichtiges und trotzdem unterhaltsames Buch: Es geht mit Witz und Wut an gegen die geisttötende Tyrannei kollektivier, fröhlicher, aber eben irrationaler Sorglosigkeit in Krisenzeiten. Wer etwas verändern will, muss anpacken und nicht im Chor jubeln: Alles wird gut!


Aufstand der Konservativen

Horacio Castellanos Moya: „Der schwarze Palast“. Roman: 
Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold. S. Fischer Verlag, 
Frankfurt a.M., 333 S., 19,95 €

Nach Mittelamerika im Jahr 1944 führt der Roman „Der schwarze Palast“ von Horacio Castellanos Moya. Der Autor stammt aus Honduras, jenem kleinen Land zwischen Guatemala, El Salvador und Nicaragua. Er beschreibt in El Salvador eine der typischen Militärdiktaturen, unter denen diese Länder im Wechsel mit Bürgerkriegen und Naturkatastrophen gelitten haben. Ihr Zentrum ist die Polizeizentrale der Hauptstadt, der „schwarze Palast“. Hier sitzt der Journalist Periclés wegen Kritik an der Politik des Diktators in Haft. Seine Frau Haydee führt Tagebuch.

Bei früheren Arresten durften einige Freunde, die die Genehmigung des Obersts bekamen, meinen Mann besuchen, und ich aß jeden Mittag und Abend mit ihm zusammen in diesem Zimmer das Essen, das ich mit Maria Elena zubereitet und mitgebracht hatte. Jetzt sitzt Periclés abgeschieden in dieser Zelle… Aber er schien so etwas erwartet zu haben. Sein einziger Kommentar war: „Wie man sieht, hat dieser Mensch große Angst.“ Mein Mann sagte nie General oder Präsident, auch nicht Nazihexer, wie ihn mein Vater und seine Freunde nennen, sondern immer nur „dieser Mensch“.

Periclés, Leutnant der Reserve, einst Botschafter in Brüssel und persönlicher Berater des Präsidenten, ist wegen sachlicher Kritik an der gewalttätigen Willkürherrschaft „dieses Menschen“ in Ungnade gefallen, genießt aber aber als politischer Häftling noch Privilegien. Sein Vater ist Oberst und Großgrundbesitzer, sein Schwiegervater Provinzgouverneur, seine Mutter die Tochter eines Plantagenbesitzers. Man denkt demokratisch und liberal. Haydee hat ein Hausmädchen, und der Chauffeur ihres Vatersbringt sie trotz der Ausgangssperre zu Verwandten und Freunden, wo sie ein Netzwerk zur Befreiung der politischen Gefangenen aufbaut.
Der Widerstand formiert sich bei Kaffee und Kuchen oder bei Totenwachen für die jungen Offiziere, die nach einem gescheiterten Putschversuch erschossen wurden. Haydees ältester Sohn ist zum Tode verurteilt und auf der Flucht, weil er im Radio vorschnell die Verhaftung des Diktators verkündet hat. Betito, ihr Jüngster, hilft, einen Generalstreik zu organisieren. Das Geld dafür sammelt Haydee bei den Eltern und befreundeten Unternehmern. Vor allem die Frauen demonstrieren vor dem Gefängnis.

Die Menschenmenge brodelte, immer mehr fielen in den Chor ein, das Rufen wurde immer lauter und kämpferischer: „Freiheit! Freiheit! Freiheit!“ Zuerst fürchtete ich mich, aber als ich mich zu Betito und meinen Freundinnen umdrehte, sah ich, dass auch sie in die Protestrufe eingestimmt hatten und die Fäuste in die Luft reckten. Ich machte mit. …Dann richteten die Gardisten die Gewehre auf uns. Ich hielt panisch nach Betito Ausschau, doch er rief wie die anderen immer weiter, ohne sich einschüchtern zu lassen.

Nicht linke Bauern und Arbeiter stürzen schließlich den Diktator, sondern das ganze Volk. Die Akteure gehören zur Ober- und Mittelschicht. Aber es ght dabei nicht um Ideologie, sondern um Menschlichkeit, das höchste Gut der Demokratie. Allein aus Abscheu vor der Arroganz der Mächtigen wird Periclés Kommunist. Einmal sagt er zu seinem Freund Chelón, einem Maler:

Dreck am Stecken haben alle, Chelón. Aber auf irgendeiner Seite muss man stehen.

Die scheinbar naive Perspektive im Tagebuch der höheren Tochter Haydee wirkt sehr glaubwürdig. Da spricht keine Linke, sondern eine, die in die Kirche geht. Zwischen fünf Kapiteln aus der Sicht dieser Ich-Erzählerin berichten vier Kapitel in der dritten Person von der Flucht des ältesten Sohnes. Ein Schlusskapitel beleuchtet die ganze Geschichte noch einmal aus einem gänzlich anderen Blickwinkel, und der ist besonders reizvoll: 30 Jahre und einige Aufenthalte im Exil später erzählt der Maler Chelón vom letzten Tag seines besten Freundes Periclés. Seit Haydees Tod kommt er regelmäßig zum Mittagessen bei Chelón, diesmal direkt aus dem Krankenhaus. Er hat Lungenkrebs und wird sich am Abend erschießen – nach einem letzten guten Gespräch und einer letzten guten Zigarre.

Es sind genau die, die auch Fidel Castro raucht, hat der Botschafter versichert“, merkte ich an. Der Alte bedachte mich mit einem gütigen Blick; ich wusste, dass mein Freund nach dem Sieg der Revolution ein Jahr als eine Art lokaler kommunistischer Botschafter auf Castros Insel gewesen war. Das war wenige Monate nach Haydees Tod gewesen. Die Ablenkung half ihm bestimmt über den Schmerz hinweg.

Ein wunderbares Buch: unsentimental, aber von tiefer Menschlichkeit macht es klar, warum Unmenschen Menschen so hassen, die sich nicht einschüchtern lassen.


Vergangenheitsbewältigung auf Kolumbianisch

Juan Gabriel Vásquez: „Die Informanten“. Roman.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Verlag 
Schöffling & Co, Frankfurt a.M., 379 S., 22,90 €

Vergangenheitsbewältigung ist in dem Maß Stoff für Literatur, wie sie juristisch nicht gelingen will. Stoff dafür ist das Unglück vieler Menschen in rechten und linken Diktaturen ebenso wie die Tatsache, dass die Schuldigen oft Jahrzehnte lang unerkannt oder aus politischen Gründen unbehelligt blieben. Für gewöhnlich ist klar zu unterscheiden zwischen Tätern und Opfern – einfach aufgrund ihrer Verhaltensweisen. Dass es so einfach nicht immer ist, zeigt der beunruhigende Roman-Erstling des 37 Jahre alten, in Barcelona lebenden Kolumbianers Juan Gabriel Vásquez, „Die Informanten“.


Der Roman handelt von einer schwierigen Vergangenheitsbewältigung. Ein Ich-Erzähler namens Gabriel Santoro, Kolumbianer und Journalist wie der Autor, schreibt ein Buch über das Schicksal deutscher Einwanderer während des Zweiten Weltkriegs. Dafür erzählt ihm Sara, eine deutsch-jüdische Jugendfreundin seines Vaters, von ihrem Leben im Exil und von den „schwarzen Listen“ potenzieller Nazi-Sympathisanten. Aus Loyalität gegenüber dem Vater verschweigt sie aber, dass der in die Sache verwickelt war.
Ab 1941 führten die CIA und die Regierung in Bogotá diese Listen. Schon der Verdacht oder eine anonyme Anzeige genügten, und der Betreffende verlor seine Arbeit und wurde interniert. Santoro senior, inzwischen ein angesehener Mann, hat damals einen Unschuldigen denunziert, der sich das Leben nahm. Und er reagiert mit der Panik des Schuldigen auf das Buch seines Sohnes.

Erinnerung ist nicht öffentlich, Gabriel. Das haben weder du noch Sara begriffen. Ihr habt Dinge an die Öffentlichkeit gezerrt, die viele von uns gern im Vergessen belassen hätten… und jetzt sind diese Listen wieder in aller Munde, die Feigheit gewisser Denunzianten, die Angst der fälschlich Angezeigten.“

Der Leser braucht eine ganze Weile, bis er die komplexen Zusammenhänge erkennt. Aus Saras Erinnerungen erfährt man, wie der alte Santoro den Vater eines Freundes denunzierte, und wie der sich umbrachte, als Frau und Sohn sich von ihm lossagten. Der Leser weiß nie mehr als der recherchierende Junior, und der ist nicht auf eine simple Verurteilung seines Vaters aus. Er bezieht den Leser vielmehr ein in einen mühsamen Prozess der Aufklärung voller Überraschungen.
Eine Herzoperation des alten Santoro führt zur Versöhnung mit seinem Sohn. Der Senior verliebt sich sogar noch einmal und versucht, den Fehler seines Lebens in diesem neuen Leben wieder gut zu machen. Dass der Vater auch Enrique zu einer Aussprache traf, den Sohn seines Opfers, erfährt Gabriel Santoro erst, nachdem sein Vater bei einem Autounfall auf der Rückfahrt von diesem Besuch ums Leben gekommen ist. Auch Enrique, durchaus eine sympathische Figur, erscheint als Opfer und Täter zugleich.
Als Enriques Vater 1941 in Bogotá einem frisch zugezogenen, ihm unbekannten deutschen Landsmann, der sein Gast war und Nazi-Parolen von sich gab, nicht entschieden genug entgegen trat, wandte auch er sich von seinem Vater ab. Und als dieser auf der „schwarzen Liste auftauchte“, erklärte Enrique seiner Mutter, das hätten sie davon, sich mit Nazis einzulassen. Gabriels Vater sagte damals zu der gemeinsamen, deutsch-jüdischen Jugendfreundin Sara:

Niemand ist, was er zu sein scheint. Niemals, denn selbst die simpelste Seele hat ein zweites Gesicht.“ Ja, sagte Sara, als Philosophie mochte das taugen, aber an Enriques Wesen, seiner Haltung, seiner Ausdrucksweise hatte nichts, rein gar nichts auf derlei hingewiesen. Für sie war es ein Verrat… Ein starkes Wort. Aber den Vater verraten ist etwas, was nur in der Bibel vorkommt.

Juan Gabriel Vásquez stellt alle Quellen seiner Geschichte in Frage, selbst seine eigene Haltung als Autor. Ist die Veröffentlichung von Informationen über das Leben anderer nicht auch eine Form von Verrat? Und wie muss öffentliche Erinnerung aussehen, wenn sie nicht moralisch überheblich sein will? Dieser Zwickmühle kann der Autor nur durch den Prozess des Schreibens selbst entkommen – wenn er sich und den Leser zwingt, auch den Standpunkt der jeweils anderen Seite einzunehmen.

Bei diesem Schreibprozess würde mein Vater für mich nicht länger die trügerische Gestalt sein, die er selbst angenommen hatte, sondern sein wahres Gesicht beanspruchen, wie es alle unsere Toten tun: indem er mir als Erbe die Pflicht mitgab, ihn zu entdecken, ihn zu interpretieren, herauszufinden, wer er wirklich gewesen war.

Psychogramm für Baden-Württemberg: "Der Ministerpräsident" von Joachim Zelter

Joachim Zelter: "Der Ministerpräsident", Roman, Klöpfer & Meyer Verlag Tübingen, 188 Seiten.



Dieses Buch ist nicht nur eine scharfe Satire auf den Politikbetrieb in Baden-Württemberg, auf die Selbstbedienungsmentalität der Politikerkaste im CDU-County, es ist auch ein feines und sehr menschliches Psychogramm des dort verheizten Spitzenpersonals. Bei Zelter wird ein Ministerpräsident menschlich, weil er einen Unfall hat und danach "nicht mehr er selbst ist", d.h. eine Gefahr für die hohle Politik der Selbstdarstellung der Parteikader.


Hier kann man Günter Öttinger reden hören und Stefan Mappus denken sehen. Wie diese Leute ticken, die scheinbaren Dauerpächter des Patriotismus, das hat Zelter erspürt und beschrieben wie sonst höchstens noch Manfred Zach. Der aber kam selbst aus dem inneren Zirkel der Macht. Joachim Zelter aber ist über jeden auch nur theoretischen Verdacht erhaben, sich da mit einem Gehirnvirus infiziert zu haben, wie er bei den Betreibern von Stuttgart 21 in Erscheinung tritt. Besseren Impfstoff gibt´s nicht.

Montag, 18. Oktober 2010

Stuttgart 21 - Interessenpolitik gegen Gemeinwohl

Der Ulmer OB Ivo Gönner (SPD) hat den Stuttgart-21-Vermittler Heiner Geißler kritisiert und dabei die gleichen geistlosen Wiederholungen schwacher "Argumente" benutzt wie sein zurückgetretener Parteifreund und Ex-Stuttgart-21-Sprecher Wolfgang Drexler. Es ist ganz einfach zu durchschauen: Gönner macht platte Interessenpolitik für die partikulare Gemeindschaft der Stadt Ulm und gegen Stuttgart - statt Politik für ein Gemeinwohl, das wirklich an einer größeren Gemeinschaft ausgerichtet ist, z.B. Baden-Württemberg. Ulm profitiert von einer besseren Verkehrsanbindung, hat aber dadurch weder Baustellen noch andere Risiken und Beeinträchtigungen zu befürchten wie Stuttgart.

Gönner hat also leicht reden und ist ein Regionalegoist erster Klasse. Eben diese Verwechslung von Interessenpolitik mit einer Politik fürs Gemeinwohl stellt ihn in eine Reihe mit Bauspekulanten, Unternehmern, die von dem Projekt Stuttgart 21 durch Großaufträge profitieren und Politikern von CDU und FDP, die in deren Aufsichtsräten sitzen oder bis vor kurzem saßen. Pfui Teufel! So sollte sich Baden-Württemberg nicht in verschiedene Intreressensgebiete auseinanderdividieren lassen - das würde nur denen nutzen, die ihre Nichtsnutzigkeit gerade deutlich beweisen. Wer das mit Demokreatie verwechselt, kann mir nur Leid tun.

Übrigens: Seit fast drei Wochen wartet die Öffentlichkeit vergebens auf Beweise für die angebliche Gewalt von Demonstranten, die am 30. September der brutalen Polizeieinsatz ausgelöst hat. Wie heuchlerisch sind Gesprächsangebote von Politikern, die diesen Einsatz und die dafür Verantwortlichen immer noch decken und sich dabei auf Recht und Gesetz berufen?

Statt Legalismus brauchen wir Gerechtigkeit. Das haben die Menschen begriffen - im Gegensatz zu FDP und CDU. Da helfen auch keine dümmlichen Statements von Justizministerin Leuthäuser-Schnarrenberger oder eines Verfassungsgerichtspräsidenten, eine Volksabstimmung zum jetzigen Zeitpunkt sei "verfassungsrechtlich problematisch". Erstens: Was soll das denn überhaupt heißen? Zweitens: Dann hätte man also schon lange vorher abstimmen können und sollen, aber OB Schuster hat das in Stuttgart schon 2007 persönlich verhindert. So beißen sich schwarze Katzen in den Schwanz. Und genau diese Spielchen haben die Leute satt.

Sonntag, 17. Oktober 2010

S 21 - Der Protest verändert sich

















Am Bauzaun Süd im arg verschandelten Schlosspark herrscht eine seltsame Stimmung. Ich bin kein Verehrer von Bäumen oder Anhänger von Naturreligionen. Aber an diesem Ort habe ich das Gefühl: Er ist heilig. Hier standen Jahrhunderte alte Bäume, die von gewalttätiger Entschlossenheit gefällt wurden. In früheren Blogs waren sie noch zu sehen. Jetzt ist der Boden zertrampelt wie ein Festplatz - man kann fast kein Gras mehr sehen. Und die Menschen gehen hier herum wie in einer Kirche: leise, in sich gekehrt, neugierig, aber respektvoll. Exakt das Gegenteil derer, die hier gewütet haben.

Hier fand am 30. September der "schwarze Donnerstag" stattt, als die Polizei mit Gummiknüppeln, Pfefferspray und Wasserwerfern, deren Inhalt man CS-Reizgas beigemischt hatte, Demonstranten aus den Böäumen schoss und auseinanderjagte, die sich den Baumfällarbeiten mit friedlicher Präsenz entgegenstellten. Es gab weit über 100 Verletzte, zwei liegen immer noch im Krankenhaus, einer wird wohl blind bleiben.

Ministerpräsident Mappus und OB Schuster haben seitdem Kreide gefressen. Aber Mappus stellt sich weiter hinter seinen Innenminister Heribert Rech, an dem die ganze Aktion vorbei gelaufen zu sein scheint. Es sieht so aus, als habe Mappus persönlich Einfluss auf den Einsatzbefehl genommen. Das wird aber wohl erst ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss klären, den die Grünen beantragt haben. Die SPD (Vorstand und Fraktion) wollten erst nicht mitziehen, weil zu viele führende SPD-Politiker in die Skandale um Stuttgarr 21 verwickelt sind. Aber gestern Abend forderte bzw. beschloss die große Mehrheit der Delegierten auf dem SPD-Parteitag in Ulm ebenfalls diesen Untersuchungsausschuss. Der wird jetzt also kommen. Damit wird es immer wahrscheinlicher, dass die CDU nach 60 Jahren die Macht in Baden-Württemberg verliert.
















Die Demonstration war auch am Samstag, dem 16. Oktober auf dem Stuttgart Schlossplatz wieder stark besucht - ca. 25 000 Menschen, aber das Zählen ist schwer bei so vielen Schirmen. Es regnete den ganzen Tag und die Leute froren bei Temperaturen unter 10 Grad. Und der Humor ist den Demonstranten immer noich nicht vergangen. Jeses Mal sehe ich neue, teils ausgesprochen witzuge Plakate und Transparente.

Das Volk ist eine Wand - und wer mit dem Kopf da gegen anrennt, muss wissen, was er tut.

Böse Geschichten, die das Leben schreibt

Quim Monzó: "Tausend Trottel", Erzählungen. Aus dem Katalanischen von Monika Lübcke. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a.M., 142 S., 17,90 €

Quim Monzó ist einer dieser Erzähler, die zu Hause in Barcelona längst jeder kennt. Sehr beliebt sind seine Radiosendungen und seine regelmäßige Kolumne in der Tageszeitung La Vanguardia. Bei uns erscheinen seine Bücher in der kleinen Frankfurter Verlagsanstalt, aus dem Katalanischen übersetzt von Monika Lübcke. Monzó, heute 57, hat als Kriegsreporter angefangen, und das mag auf seine Sicht der Welt, vielleicht auch seine Sprache abgefärbt haben. Die ist provozierend und melancholisch – mit einem ausgeprägten Sinn fürs Komische. Eine Kostprobe aus seinem neuen Prosaband „Tausend Trottel“ bietet die folgende Version der biblischen Verkündigungsgeschichte:

„Keine Angst, Maria. Du hast Gnade bei Gott gefunden und bekommst einen Sohn; ihm wirst du den Namen Jesus geben.“ Doch Maria sagt: „Wie, nein?“ Der Erzengel ist fassungslos. Maria bleibt hart. „Kommt gar nicht in Frage. Ich will nicht. Ich werde dieses Kind nicht bekommen.“

Das Buch versammelt 18 Kurz- und Kürzestgeschichten sowie die längere Erzählung „Der Frühling kommt“. Der seltsame Titel „Tausend Trottel“ ist ein Zitat aus diesem Text. Darin schmiedet ein altes Ehepaar im Heim Pläne für die sauberste Art des Selbstmordes. Ihr Sohn denkt in Tagträumen über Euthanasie nach, weil er das qualvolle Hinsiechen der „Tausend Trottel“ im Altenheim hilflos mit ansehen muss. Schmerzhaft klar ist die Sprache seiner  Zwickmühle der Gefühle zwischen Liebe und Wut gegenüber der Mutter:

"Sie stürzt im Bad, wenn sie vom Klo aufsteht – verliert dabei das Gleichgewicht und schafft es nicht, sich am Waschbecken festzuhalten, weil ihre Arme schon zu schwach sind – oder wenn sie ihren gerade gewaschenen BH auf einen Haken hängen will. Sie fällt hin, wenn sie das Bad verlässt, sie fällt hin, wenn sie sich auf einen Stuhl setzen will, und sie fällt, wenn sie vom Stuhl aufsteht. Sie fällt hin, weil ein Bein wegen einer Arthrose vollständig verbogen ist, die sie, als sich die ersten Symptome zeigten, nicht hat behandeln lassen, weil alle Ärzte Trottel sind."

Zwar erscheint der Vater als arbeitsscheuer Hypochonder und die einst starke Mutter als sparsames Arbeitstier mit manischen Zügen. Doch kein Wort stellt ihre Würde oder die Liebe des Sohnes in Frage. Monzó formuliert die Licht- und Schattenseiten der Existenz stets voller Mitgefühl – auch für wirklich schräge Typen.  Da verhilft ein renommierter Schriftsteller einem jungen Autor zu Ruhm, und der wird sein schlimmster Gegner. Da bemüht sich ein Prinz vergeblich, Dornröschen wach zu küssen, und schläft so erschöpft wie unbeachtet neben ihm ein. Da heiratet ein überzeugter Junggeselle seine todkranke Freundin, und sie blüht in der Ehe auf. Monzó stellt auch groteske Situationen ganz unangemessen sachlich dar, und gerade das erzeugt eine schmerzhaft übersteigerte Wirkung. Don Quijote lässt grüßen. Exemplarisch dafür ist der Dialog zwischen Schüler und Lehrer in der Kurzgeschichte „Ein Schnitt“:

„Ich wurde mit einer zerbrochenen Flasche angegriffen.“ Das Blut tropft aus seinem Hals und macht Flecken auf das weiße Hemd seiner Uniform. Auch der Kragen seiner Jacke ist voller Blut. „Aber Toni, so betritt man doch nicht das Klassenzimmer. Kannst du dich nicht richtig benehmen?“ „Herr Lehrer, Ferrán und Roger haben eine zerbrochene Flasche neben dem Getränkeautomaten gegriffen und mir in den Hals gestoßen und…“ „Toni, wie betritt man das Klassenzimmer?"

Man kann Kälte und Kleinlichkeit kaum eindringlicher auf den Punkt bringen. Solche sprachlichen Grotesken bedeuten eine große Herausforderung, der sich die Übersetzerin Monika Lübcke souverän stellt. Ähnlich ist es ihr mit dem bizarren Humor des Autors gelungen. Ob es um hohle Rituale bei Familientreffen geht oder das Reden über Bücher, die man nicht gelesen hat: Jeder Satz kratzt an der Fassade einer höchst oberflächlichen Bussi-Bussi-Gesellschaft, die nicht halb so zivilisiert ist, wie sie nach außen hin gern tut. Dieses Buch ist eine Sammlung kleiner literarischer Kostbarkeiten, sorgfältig lektoriert und auch handwerklich ein Schmuckstück – vom Druck bis hin zum künstlerisch wertvollen Umschlagbild von Neo Rauch.

Sonntag, 10. Oktober 2010

Bei Marion Poschmann sitzt jedes Wort

Marion Poschmann ist als Lyrikerin handwerklich außerordentlich versiert und formbewusst, gehört z.B. zu der Handvoll Autoren & Autorinnen deutscher Zunge, die heute noch wirklich überzeugende Sonette schreiben können, in originellen Endreimen, aber auch experimentell mit anderen Versformen und in freien Rhythmen. 

Rhythmen sind bei ihr aber stets mehr als bloß gebrochene Zeilen, sondern wiederholbare und erkennbare musikalisch-mathematische Einheiten (nur diese erkenne ich als Rhythmen an. Was ein Musiker nicht spielen oder singen kann, hat eben keinen Rhythmus).

Ein solches Sonett ist hier exemplarisch zitiert.


  
vage Aussichten

du hast mir Quallen, hast mir Bullaugen gegeben,
zwei runde Fenster in das unscheinbare Meer.
zu nah, daher zu fern. zu dicht. zu viel. zu sehr.
zu transparent. ich nahm nicht wahr, wie direkt neben

mir dieses Meer begann. ich sah die Quallen schweben,
sah ihren Körper kaum, ein blasser Sack, nicht mehr
erkennbar als ein Ding des Wassers. gläsern,leer
der blanke Hintergrund, an dem Gedanken kleben,

als käme Klarheit auf. als öffneten sich Fenster
auf das, was war, auf nichts. Erinnerungsgespenster,
zu ungreifbar, zu zart. die Blicke scheitern hier.

ein heller Wellenschlag wie ohne Oberfläche
verdeckt, was nichts ist als eine Gedächtnisschwäche,
ein schwimmendes Gesicht, schon innerhalb von mir.


Da gibt es perfekte und originelle Endreime, aber auch spannende Zeilen- und Strophenübergänge sowie großartige Bilder: Die Qualle als genaue Naturbeobachtung und zugleich Projektionsfläche für philosphische Reflexionen, die Augen als Bullauge zuzr Welt, ein „heller Wellenschlag“ etc.: Das ist wunderschön, tief und vielschichtig. 

 
Sie kann´s. Dass ich ein ganzes Kapitel Wort für Wort lesen kann, ohne etwas zum Kritisieren zu finden, ist für mich als Lyriker und Kritiker doch eine extreme Seltenheit.








Zäune im Land - Mauern im Kopf

Wir Deutschen haben Erfahrungen mit Mauern und Zäunen. Daher interessieren sich inzwischen auch die Medien unserer Nachbarländer dafür, was in Stuttgart passiert.
Dass mit solchen Machtdemonstrationen ein Bauprojekt wie "Stuttgart 21" durchgesetzt werden soll, das keine Mehrheit in der Stadt und vermutlich (so, wenn sich nichts ändert) im ganzen Land finden wird, macht nicht nur mich nachdenklich.
Organisierte Leserbriefkampagnen in der Presse sollen den Eindruck entstehen lassen, als stünden sich Gegner und Befürworter des Projekts inzwischen unversöhnlich und gewaltbereit gegenüber, als würden die Demonstrationen gegen das Projekt die Bevölkerung spalten. Das Gegenteil ist der Fall: Ich selbst habe jetzt vier Mal an Demonstrationen gegen S 21 teilgenonmmen und jedes Mal erfahren, wie der bürgerliche Widerstand ganz unterschiedliche Menschen zusammenbringt.
Hier, an diesem Tatort, treffen sich Befürworter und Gegner. Sie diskutieren, sie reden friedlich miteinander - sie tun genau das, was die Deutsche Bahn und die politische Führung bestreiten und verweigern. Weil sie Fakten schaffen wollen, eine behauptete "Unumkehrbarkeit" tatsächlich herbeiführen wollen, während angeblich offene Gespräche ohne Bedingungen stattfinden sollen.
Diese Tricksereien von Winkeladvokaten über die Frage, was ein Baustopp sei, was ein vorläufiger Baustopp und was ein "Innehalten" - genau das verdirbt die Atmosphäre, führt zu Misstrauen und zerstört die politsche Kultur in diesem Land. Ich bin gespannt, ob Heuiner Geissler das in die Köpfe von Leuten hinein bekommt, die sich selbst durch unhaltbare Positionen und falsche Nibelungentreue unter einen enorme Druck gesetzt haben.

Donnerstag, 7. Oktober 2010

Stuttgart 21: Offener Brief an Stefan Mappus

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Stefan Mappus, 
Sehr geehrter Herr Innenminister Heribert Rech!

Ich bin entsetzt über den brutalen Einsatz der Polizei gegen 
tausende Bürgerinnen und Bürger, die friedlich gegen "Stuttgart 
21" demonstrierten. Dass dies auf die Falschmeldung hin geschah,
die Einsatzkräfte würden mit Steinen beworfen, ist inzwischen 
erwiesen. Ich forde Sie dringend auf: Wenden Sie weiteren 
Schaden von unserer repräsentativen Demokratie ab, indem Sie 
umgehend Methoden abstellen, die wir bisher nur aus dem 
Repertoire so "lupenreiner Demokraten" wie Silvio Berlusconi, 
Hugo Chavez oder Wladimir Putin kennen! 
 
Es ist eine Schande und sehr wohl eine Gefahr für unsere 
repräsentative Demokratie, wenn ihre Repräsentanten 
fortwährend die Gegner des Projekts Stuttgart 21 
diffamieren, wie orientalische Potentaten penetrant jedes 
Mal die nach Klickzählung ermittelte Zahl der Demonstranten 
halbieren lassen oder Gerüchte streuen lassen, um 
Projektgegner einzuschüchtern.

Niemals haben z.B. Lehrer Schüler instrumentalisiert; niemals 
haben "Parkwächter" Jugendliche dazu verführt, die genehmigte 
Route ihrees Demonstrationszuges zu verlassen; niemals sind 
Demonstranten gegen Polizisten gewalttätig geworden. 
Anscheinend muss ich Sie daran erinnern, das laut Aischylos und 
Gandhi ziviler Ungehorsam gegenüber Anweisungen staatlicher 
Autorität sittlich geboten und eine BÜRGERPFLICHT ist, wenn 
diese Anweisungen den Boden der Gesetze oder unserer 
moralischen Grundwerte verlassen. 
 
Nicht jeder Befehl eines Uniformierten ist zu befolgen: Ich 
weiß das als jemand, der Philosophie und Theologie studiert 
und seinen Wehrdienst bei der Bundeswehr geleistet hat. Ich 
habe gelernt, wann ein Befehl verweigert werden darf. Und hören 
Sie endlich auf, zu glauben, die Bürger wüssten das nicht. 
Ich halte es für den Gipfel der Scheinheiligkeit, wenn Sie 
"alle Beteiligten" auffordern friedlich zu sein, und genau 
wissen, dass die Gewalt bisher ausschließlich von Ihnen oder 
Ihren Untergebenen ausgegangen ist. 
 
Herr Rech, tragen Sie die politische Verantwortung für den 
brutalen Polizeieinsatz und treten Sie umgehend zurück!

Herr Mappus, es ist besser, Sie verlieren Ihr Gesicht als 
jedes Maß und die einzige Chance, Ihre politische 
Glaubwürdigkeit wieder zu erlangen: erlassen Sie sofort 
einen vorläufigen Baustopp für "Stuttgart 21" und ebnen 
Sie den Weg zu einem Volksentscheid über das Projekt! 
Nur so kann der Graben quer durch Baden-Württemberg 
überbrückt werden.

Mit freundlichen Grüßen,

Widmar Puhl