Seiten

Mittwoch, 26. Mai 2010

Zeitreise zu den "Mischmasch-Leuten"

Das muss das historische Vorbild für Heidelbergs berühmten Philosophenweg gewesen sein: Diese kleine Straße in Schlanders (Vinschgau), an der ich einfach nur Mittagspause im Hotel "Zur Linde" machen wollte.

Ich war wie angekündigt auf Zeitreise zu den Zimbern: einer deutschen Minderheit weit südlich der Salurner Klause in Oberitalien, die allgemein als Sprachgrenze zwischen Tirol und Italien gilt. Die Zimbern sind nicht übrig geblieben von den Cimbern und Teutonen, die um 100 vor Christus Rom in Angst und Schrecken versetzten. Es mag sein, dass sich ein paar Cimbern damals nach dem Ende ihres Kriegszuges zu den hübschen Mädels in den Bergen flüchteten. Sie hinterließen aber keine Dokumente, und sie sprachen noch kein Mittelhochdeutsch, wie man es 1000 Jahre später sprach. Damals herrschte in Bayern Hungersnot, und der Erzbischof von München-Freising vereinbarte mit seinem Kollegen von Venedig die Auswanderung von tüchtigen Bayern in diese Berge, die Venedig gehörten (Veneto) und von denen noch heute ein Teil der Gegend ihren Provinznamen hat.

Die bayerischen Bauern waren schwere Holzarbeit in steilen Bergwäldern gewöhnt und versorgten fortan die Flotte von Venedig mit dem Holz für ihre Schiffe. Außerdem verhütten sie Kupfer, das in den umliegenden Tälern gefördert wurde. Sie hatten das Brennholz und beherrschten die Technik. Das machte sie wohlhabend und unabhängig - seit dem Entstehen des Nationalstaates Italien aber auch zur Zielscheibe diverser Phasen von Unterdrückung und Benachteiligung. Die begabten Zimmerleute bzw. Zimbern sprechen bis heute ein ziemlich reines Mittelhochdeutsch aus Bayern. Sie sprechen es nicht mehr alle, und sie sprechen es unterschiedlich in verschiedenen Dörfern ihrer weit verstreuten Gemeinschaft auf den zerklüfteten Hochebenen im Dreieck zwischen den Städten Vicenza, Verona und Trient. Sie gerieten im Ersten Weltkrieg zwischen die Fronten und im Zweiten Weltkrieg wieder. Und als Tiroler Widerstandskämpfer gegen die italienische Besatzung schon längst aufgehört hatten, Bomben zu legen, war die Region Trient von den finanziellen und politischen Segnungen eines Autonomiestatus noch weit entfernt.
 
Straßen, die Lebensadern für den Kontakt mit dem Rest der Welt, waren im Land der Zimbern noch lange in einem miserablen Zustand. Wer eine höhere Schule besuchen oder studieren und gar etwas werden wollte, musste auswandern. Das änderte sich erst in den letzten 20 Jahren. Die Brücke von Roana ist typisch für die spät Erschließung dieser einst sterk isolierten Dörfer. Deren Einwohner leben heute vom Tourismus (vor allem im Winter ist die Gegend ein beliebes Skigebiet), aber auch von Landwirtschaft. Weithin berühmt ist der Käse von Asiago.


Mit der Isolation verloren die Dörfer der Zimbern aber auch Teile ihrer Kultur, die eher in Museen, Büchern und Chören lebt und bei denen viele der zugezogenen Italiener sich mit den integrierten Zimbern gemeinsam engagieren. Die Mischehe ist längst die Regel und nicht mehr die Ausnahme. Viele Kinder sprechen flüssig Italienisch, etwas Zimbrisch und ein wenig Deutsch.
"Mischm(o)asch-Leute" lautet der zimbrische Ausdruck dafür, und sie sind stolze Europäer. Ein wenig wie die Schweizer: mehrsprachig, in den Bergen zu Hause, naturfromm und nur scheinbar schroff, geschäftstüchtig und fleißig. Das Klima, in dem mich vorne die Sonne verbrennt und mir hinten im Schatten der Arsch abfriert, hat sie abgehärtet.
Sie sind etwas eigenwillig und stolz: auf ihre Leistungen, auf ihr kulturelles Erbe, auf ihren guten Wein und ihr süffiges "Forst"-Bier (auch wenn´s in Meran gebraut wird, also in Südtirol). Sie essen mehr Polenta als Pasta, aber das kann ich als Deutscher mit einer großen Dichte italienischer Restaurants in meinem Land gut verkraften. Ihr Schinken, ihr Speck und ihr Schnaps sind ausgezeichnet, ihr Kaffe und ihr Brot italienisch, ihre Spätzle "wia dahaoim".

Das alles genießt man nicht gern allein. Und im "Albergo All´Amicizia" muss man das auch nicht. Inigo Rebeschini, sein Sohn Francesco und ihre Frauen sind nicht nur gute Gastgeber, sondern auch so ziemlich die letzten "reinen" Zimbern von Roana. Aber was heißt hier schon rein? Schon wie sich ihre Namen sprechen, ist Mischmasch. Auch ihre Mentalität und ihre Sprache, ihre Küche und ihre Vorlieben sind beides: Italienisch und Deutsch. Wörter wie "Bär" und "Essen" und "Berg" und Tal" sind Mittelhochdeutsch, amtliche Begriffe oder technische (wie Wahlzettel, Auto, Waschmaschine) sind Neuformungen oder italische Importe. Igino, den Kurt Kaindl so schön fotografiert hat, dass ich nun ausdrücklich darauf verzichte, ist jetzt 87 Jahre alt und nicht mehr der Gesündeteste. Er war ein beliebter Lehrer, und deshalb schauen bis heute fast täglich irgend welche Ex-Schüler in der Gaststube vorbei und fragen wie es ihm geht. Ab und zu singt er noch die alten Lieder der Zimbern, mit zittriger Stimme inzwischen und mit einem Hang zu Weihnachts- und Kirchenliedern, während es früher mehr die Trinklieder waren, die es ihm angetan hatten. Aber er kennt sie noch alle, auch die alten Sagen und Fabeln der Zimbern. Viele davon hat er ins Italienische oder Deutsche übersetzt.

Das volkreichste noch existierende Dorf der Zimbern ist Lusern. Es ist auch das isolierteste und mit einer Höhenlage von über 1300 m über dem Meer das höchstgelegene. Schon zwei Dörfer weiter konnten mir, als ich hinfuhr und wegen einer Umleitung nicht weiter wusste, Jugendliche auf der Straße nicht sagen, wie ich weiter fahren musste. Lusern hat 300 Einwohner (fast alle Zimbern und fast alle heißen mit dem einen oder anderen Zusatz Nicolussi), einen Reiterhof, zwei Hotels und sieben weitere gastronomische Betriebe (von der Bar über das Restaurant am Hauptplatz bis zur Berghütte), ein Zimbern-Museum, eine Galerie, ein Kulturinstitut und ein historisches Dokumentationszentrum. Denn Lusern war im Ersten Weltkrieg Front - nicht nur wegen einer zerschossenen Festungsanlage auf der Bergkuppe über Lusern. Die Italiener saßen direkt gegenüber auf der anderen Seite des Tales, und die Granaten trafen nicht nur das Fort auf dem Berg über Lusern. Auch das Dorf selbst wurde dem Erdboden gleich gemacht, seine Bewohner während des Krieges weit weg ins heutige Teschechien zwangsweise umgesiedelt (man sagte "evakuiert").

Daher mag es kommen, dass die Luserner bis heute besonders friedliche Leute sind. Sie kamen aus der Gefangenschaft zurück, bauten ihre Häuser wieder auf und fingen von vorne an.
Die Schützengräben auf den Passhöhen sind inzwischen zugewachsen, aber noch erkennbar - wie die Narben alter Verletzungen. Die US-Army musste im Kalten Krieg ihre Cruise Missiles auf der anderen Talseite "bei den Italienern" stationieren. Hier wollte sie niemand haben.
Sie sind lieber ausgewandert als einen Job bei der Army anzunehmen. Heute fließt Geld aus der autonomen Region Trient in ihre Kulturhäuser, Konzerte und Verlagsproduktionen. In der Grundschule werden derzeit 9 Kinder unterrichtet. Damit der Bau neben der Kirche besser genutzt wird, dient er auch als Kindergarten ("Scuola Maternale").

Außer kleinen Läden, Handwerksbetrieben und Nebenerwerbs-Landwirtschaft gibt es eine Kooperative für Büroarbeiten, Bankwesen und Postdienstleistungen, die sechs Frauen beschäftigt, und eine etwas dubiose Kleintierzucht. Vielleicht kommt noch ein Autor (bzw. eine Autorin) und gründet eine Schreib-, Druck- und Radiowerkstatt mit Filmstudio, die Kurse von kreative Leute von draußen anbietet und die eigene Kulturproduktion fördert. So ein Mischmasch-Betrieb würde ganz gut hierher passen. Dann fehlen nur noch Musiker und Maler, die dem Ort etwas abgewinnen können. Sie wären sehr wahrscheinlich willkommen.
Von den Menschen, die hier leben, diesmal noch keine Bilder. Ich will erst die Tonaufnahmen bearbeiten, und das kann dauern (bei meinem Mischmasch-Job...).

Donnerstag, 6. Mai 2010

Warum Schwarm-Intelligenz Blödsinn ist

Ich schätze die Bücher von Frank Schätzing sehr, aber Schwamintelligenz ist Blödsinn. Es sei denn, wir möchten uns kulturell auf dem Niveau von Amöben etablieren. James Lovelock hat schon 1991 in seinem Buch "Gaia - The practical science of planetary medicine" nachgewiesen, dass Bakterien die Menschheit als Art in der Kunst des Überlebens, d.h. in praktischer Vernunft, um Längen schlagen. Wer also heute meint, mit Twitter oder der Verwechslung von Massengaudi und qualitativ hochwertiger, intelligenter Medienarbeit die Leute verblöden zu müssen, ist auf einem sehr holzigen Holzweg.
Menschen, die sich scharenweise vom verschnarchten öffentlich-rechtlichen Rundfunk abwenden und keine Gebühren mehr zahlen wollen, sind nicht einfach "Digital Natives", also irgend so etwas wie nackte Wilde des neuen Analphabetentums im Internet-Zeitalter. Sie sind Verführte. Sie schwimmen in Schwärmen, die sich abzocken, verarschen und manipulieren lassen. Sie merken gar nicht, wie sie damit auf medialer Ebene den Steuerzahlern gleichen, die sich von Hedgefonds, Ratingagenturen und anderen wild gewordenen Spekulanten bis aufs letzte Hemd ausziehen lassen, ohne es auch nur zu merken. Sonst würden sie ja zu einer Regulierung der momentan vergötterten Märkte ja und nicht nein sagen.

Muss ich eigens betonen, dass ich wenig Lust habe, ein derart reduziertes Amöbenleben zu führen? Zu Zeiten des "Big Deal" waren wir schon mal weiter. Kein Zufall, dass es damals auch noch nicht diese allgemeine Verwechslung von Demokratie und nackten Zahlen gab, die heute versucht, uns ihrer Medien-Diktatur zu unterwerfen. Merken wuir eigentlich nicht, dass wir damit nur die BLÖD-Zeitung, die Murdochs, Holzbrinks und andere Haie füttern - mit unseren eigenen Kindern? Merke: Wer Schwarm-Intelligenz als Modell für eine gute, gerechte und kulturell hoch stehende Gesellschaft propagiert, wird immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner bekommen. Und der nützt nicht vielen, sondern nur wenigen.