Seiten

Samstag, 13. Februar 2010

Die Neue - Mathilda, 8 Jahre

Und wer bist Du? - Mathilda scheint in ihrer am meisten typischen Pose diese Frage zu stellen. Und mit dieser natürlichen Frechheit, mit dieser unschuldigen Frechheit, hat sie unser eingespieltes Kleeblatt ganz schön aufgemischt: einer von mehreren Gründen dafür, dass sich hier in letzter Zeit nicht mehr getan hat.
Weitere Gründe sind unentgeltliche Wochenendarbeit fürs Finanzamt (ja, ja: alle Jahre wieder...), Sauwetter bei Zimmerwechsel bei der Arbeit in Baden-Baden und zusätzliche Schreibaufträge. So konnte ich über Heinz Hirscher schreiben. Der Stuttgarter Künstler hat eine sagenhafte Odysee als "Simplizissimus des Zweiten Weltkriegs" erlebt... Die Sendung läuft auf SWR2 Leben am 7. Mai um 10.05 Uhr - das ist am Tag vor dem 65. Jahrestag des Kriegsendes (gibt´s danach auch als Podcast).
Und "Das Tal der Stimmen" - mein Feature über 40 Jahre Rauriser Literaturtage - läuft am 23. März um 22.05 Uhr. Weil das unverschämt spät ist, kann man auf der SWR2-Homepage das große Feature den ganzen Tag über "voraushören". - Ja, das gibt es tatsächlich. Und ich bitte, davon regen Gebrauch zu machen. Da wollte ich mal vorführen, was Radio alles kann und was mich meistens keiner machen lässt und was so beschissen bezahlt wird, dass sich auch sonst fast niemand traut, so zu arbeiten.

Ein Erzähler von Rang - wieder aus Barcelona

Quim Monzó: „Tausend Trottel“. Erzählungen
Aus dem Katalanischen von Monika Lübcke. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a.M., 142 S., 17,90 €

Quim Monzó ist einer dieser Erzähler, die zu Hause in Barcelona längst jeder kennt. Sehr beliebt sind seine Ra-diosendungen und seine regelmäßige Kolumne in der Tageszeitung La Vanguardia. Bei uns erscheinen seine Bücher in der kleinen Frankfurter Verlagsanstalt, aus dem Katalanischen übersetzt von Monika Lübcke. Monzó, heute 57, hat als Kriegsreporter angefangen, und das mag auf seine Sicht der Welt, vielleicht auch seine Sprache abgefärbt haben. Die ist provozierend und melancholisch – mit einem ausgeprägten Sinn fürs Komische. Eine Kostprobe aus seinem neuen Prosaband „Tausend Trottel“ bietet die folgende Version der biblischen Verkündigungsgeschichte:

„Keine Angst, Maria. Du hast Gnade bei Gott gefunden und bekommst einen Sohn; ihm wirst du den Namen Jesus geben.“ Doch Maria sagt: „Wie, nein?“ Der Erzengel ist fassungslos. Maria bleibt hart. „Kommt gar nicht in Frage. Ich will nicht. Ich werde dieses Kind nicht bekommen.“

Das Buch versammelt 18 Kurz- und Kürzestgeschichten sowie die längere Erzählung „Der Frühling kommt“. Der seltsame Titel „Tausend Trottel“ ist ein Zitat aus diesem Text. Darin schmiedet ein altes Ehepaar im Heim Pläne für die sauberste Art des Selbstmordes. Ihr Sohn denkt in Tagträumen über Euthanasie nach, weil er das qualvolle Hinsiechen der „Tausend Trottel“ im Altenheim hilflos mit ansehen muss. Schmerzhaft klar ist die Sprache seiner Zwickmühle der Gefühle zwischen Liebe und Wut gegenüber der Mutter:

Sie stürzt im Bad, wenn sie vom Klo aufsteht – verliert dabei das Gleichgewicht und schafft es nicht, sich am Waschbecken festzuhalten, weil ihre Arme schon zu schwach sind – oder wenn sie ihren gerade gewaschenen BH auf einen Haken hängen will. Sie fällt hin, wenn sie das Bad verlässt, sie fällt hin, wenn sie sich auf einen Stuhl setzen will, und sie fällt, wenn sie vom Stuhl aufsteht. Sie fällt hin, weil ein Bein wegen einer Arthrose vollständig verbogen ist, die sie, als sich die ersten Symptome zeigten, nicht hat behandeln lassen, weil alle Ärzte Trottel sind.

Zwar erscheint der Vater als arbeitsscheuer Hypochonder und die einst starke Mutter als sparsames Arbeitstier mit manischen Zügen. Doch kein Wort stellt ihre Würde oder die Liebe des Sohnes in Frage. Monzó formuliert die Licht- und Schattenseiten der Existenz stets voller Mitgefühl – auch für wirklich schräge Typen.
Da verhilft ein renommierter Schriftsteller einem jungen Autor zu Ruhm, und der wird sein schlimmster Gegner. Da bemüht sich ein Prinz vergeblich, Dornröschen wach zu küssen, und schläft so erschöpft wie unbeachtet neben ihm ein. Da heiratet ein überzeugter Junggeselle seine todkranke Freundin, und sie blüht in der Ehe auf. Monzó stellt auch groteske Situationen ganz unangemessen sachlich dar, und gerade das erzeugt eine schmerzhaft übersteigerte Wirkung. Don Quijote lässt grüßen. Exemplarisch dafür ist der Dialog zwischen Schüler und Lehrer in der Kurzgeschichte
„Ein Schnitt“:

„Ich wurde mit einer zerbrochenen Flasche angegriffen.“
Das Blut tropft aus seinem Hals und macht Flecken auf das weiße Hemd seiner Uniform. Auch der Kragen seiner Jacke ist voller Blut.
„Aber Toni, so betritt man doch nicht das Klassenzimmer. Kannst du dich nicht richtig benehmen?“
„Herr Lehrer, Ferrán und Roger haben eine zerbrochene Flasche neben dem Getränkeautomaten gegriffen und mir in den Hals gestoßen und…“
„Toni, wie betritt man das Klassenzimmer?

Man kann Kälte und Kleinlichkeit kaum eindringlicher auf den Punkt bringen. Solche sprachlichen Grotesken be-deuten eine große Herausforderung, der sich die Übersetzerin Monika Lübcke souverän stellt. Ähnlich ist es ihr mit dem bizarren Humor des Autors gelungen. Ob es um hohle Rituale bei Familientreffen geht oder das Reden über Bücher, die man nicht gelesen hat: Jeder Satz kratzt an der Fassade einer höchst oberflächlichen Bussi-Bussi-Gesellschaft, die nicht halb so zivilisiert ist, wie sie nach außen hin gern tut.

Dieses Buch ist eine Sammlung kleiner literarischer Kostbarkeiten, sorgfältig lektoriert und auch handwerklich ein Schmuckstück – vom Druck bis hin zum künstlerisch wertvollen Umschlagbild von Neo Rauch.

Samstag, 6. Februar 2010

Untertöne und Obertöne

"nördliches Fenster": Gedichte und kleine Prosa von Marcus Neuert, Edition Octopus im Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG Münster 82 S., 7.30 €)

"Tage wie kalte Watte
die Sonne ist ein Mond im Nebel
jeder Schritt geht ins Leere
und sucht seinesgleichen
rufst du ruft keiner zurück
bleibst du stehn
setzt die Zeit aus
für einen Zeilen
sprung"

Solche Texte sind nicht nur aufmerksamer Naturbeobachtung, sie spiegeln auch die seelische Verfassung des Beobachters - etwas, dass an manchen Tagen bei bestimmten Wetterlagen allgemein um sich greift: Stimmungen. Präzise, ohne Umwege, innen und außen ganz ohne Schnickschnack. Am Schluss gibt es sogar eine Pointe, auch das ist nicht selbstverständlich, auch nicht bei guter Lyrik. Und ich zögere nicht, hier von guter Lyrik zu sprechen, obwohl dem kritischen Zerpflücker solcher Bände schon ungewöhnlich positiv auffällt, wenn ein Drittel der Texte darin onne Wenn und Aber makellos gelungen sind. Ein weiteres Drittel käme in den Papierkorb, wenn denn ein Lektor den Mut hätte, so zu entscheiden, und das letzte Drittel enthält immerhin vielversprechende Ansätze. Nur sind Dinge auszumerzen, die mal eine Marotte aus Anfängertagen sein können, mal eine tonale Unsicherheit, oder auch Abgegucktes (etwa manchmal ein kleines Kokettieren mit verbrauchtem Bildungsbürgererbe) von falschen Lehrern und ein wenig fehlender Mut für die ganze Konsequenz eines Gedankens, einer Formulierung: nichts, was nicht auch ein Versprechen wäre für den Fall, dass dieser Autor seine Arbeit nicht aufgibt.

Zum Beispiel oben: Nur der Titel stört mich bei dem zitierten Gedicht; das heißt eigentlich nicht einmal der, sondern nur die schwächliche Tatsache, dass er so unentschlossen in Klammern gesetzt ist: [weiß]. Eine solche Klammer leistet bei näherem Hinsehen nichts, was nicht auch anders geht. Man muss das, was ist, nie verstecken: Es gibt ja wirklich diese weißen Tage in Schneesturm oder Nebel. Das stimmt einfach, und dazu kann man auch stehen ohne zu wackeln. Und oft in diesem Büchlein liest man Texte, die wie kleine Partituren eine oberflächliche Hauptstimme haben, zu der spielerische Obertöne kommen und eine Reihe ernsthafter stimmungstragender Untertöne. Marcus Neuert macht Kammermusik mit Wörtern. Ein hohes Ziel, eine schwierige Sache, die nicht immer gut geht.

"Alle schon abgereist und mit unbekanntem Ziel" heißt es über historische Familienbildnisse in einem norddeutschen Schloss - na ja, das wurde fast wortgleich schon zu oft gedruckt, um noch originell zu sein. Da hängt das eine oder andere handwerklich in bisschen schief. Z.B. auch die Straße, auf der "nur Sand ist und seit Jahren - " na was wohl? - "niemandmehr erwartet wird". Schade, aber meist nicht irreparabel. Man muss nur hart am Wind bleiben und Rilke-Wendungen meiden wie "ins halb geschlossne Aug" oder so; man möchte sich reiben und denkt an Mücken. Auch kunstvolle umarmende Reime versucht Neuert, spielt sehr locker und ziemlich souverän mit dem formalen Schatz bisheriger Lyrik. Aber nur wer nicht schießt, schießt auch nie übers Ziel hinaus. Wer spielerisch kreativ sein will, muss ausprobieren und patzen dürfen.
Neuert nimmt Posen ein, gefällige oder weniger glatte, auch ironische, ohne darin zu erstarren. Er tanzt, er spielt mit den Wörtern, und darum ist er so oft ganz Mensch und wirklich Künstler in diesem Buch.

Ich traf Neuert gestern, am Freitag, vor der Vernissage eines gemeinsamen Freundes in der Stuttgarter Galerie INTER Art, einem Treff für Künstler aller Fakultäten: Günter Guben, Autor und Maler, ehemaliger Regisseur beim SDR/SWR, hat dort bis März eine große Werkschau. So spielerisch Marcus Neuert in seinen Gedichten, so spielerisch handhabt Guben Pinsel, Buntstifte und Farbe. Abstrakt meist, aber niemals ohne Aussage: Humorvolle Gedankenlyrik mit witzigen Titeln, die das Ganze doch recht konkret in der Phantasie verankern. Und die funktioniert ja bekanntlich ohne die Wahrnehmung von Außenwelt in der "Realität" nicht - was jeder Hirnforscher inzwischen weiß.
Klaus Bushoff hielt eine fachkundige Einführung, Günter eine launigen Rede, die Räume waren rappelvoll: ein Fall für den Fotoapparat. Nur bekam ich zum ersten Mal lange keines der Bilder in diesen Blog - verrückt, nicht? Außerdem schickt mir Günter seit Jahren so wunderbare Zeichen-Briefe, dass die hier unbedingt exemplarisch zu zeigen wären. Aber mit Geduld und Spucke...



Hier steht Günter Guben (Mitte) zusammen mit Marcus Neuert (rechts) und der Lektorin Gerlinde Reinl.