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Freitag, 1. Januar 2010

Erinnerung an die Chemiewerke Leuna

In einem SWR2 Zeitwort habe ich an den 27.04.1934 erinnert. Damals nahmen die Chemiewerke Leuna ihren Betrieb auf.
„Blühende Landschaften im Osten“, die ein ehemaliger Bundeskanzler auf dem Gebiet der ehemaligen DDR versprach, sind seit der Wiedervereinigung zwischen Halle und Merseburg entstanden. Denn mit dieser Gartenschau der besonderen Art ist viel vertuscht worden. 2009 veröffentlichte Monika Marion eine Reportage über die erneute Besichtigung des Schauplatzes für ihren ersten Roman "Flugasche", der 1981 auch der erste kritische Umweltroman der DDR war und daher nur im Westen erscheinen konnte.
Das „Chemie-Dreieck“ Schkopau mit der Buna-Kunststoffindustrie, den Chemiewerken von Leuna und AGFA in Bitterfeld-Wolfen, wurde in der Tat nach der Wende 1989 schleunigst saniert. Wie schon bei den traurigen Hinterlassenschaften stillgelegter Zechen und Stahlwerke im Ruhrgebiet kamen die Landschaftsgärtner. Unter Parks, freundlichen Badeseen und umweltfreundlichen High-Tech-Industrieansiedlungen liegt ein Alptraum begraben:

Im Ersten Weltkrieg wurde viel Ammoniak gebraucht – als Basis für Sprengstoff, Giftgas und Dünger. Die Kapazitäten der BASF, die das Monopol auf die Massenproduktion hatte, reichten nicht mehr. Außerdem wurde die Chemiefabrik in Ludwigshafen Ziel alliierter Luftangriffe. Leuna war weit weg und wegen des nahe gelegenen Braunkohle-Tagebaus der ideale Standort für ein neues Werk. Die Produktion von Ammoniak begann am 27. April 1917, also 92 Jahren.
1926 kam die Fabrik zur IG Farben und entwickelte die Herstellung von synthetischem Benzin aus Braunkohle. Im Zweiten Weltkrieg übernahm der Konzern damit die Treibstoffversorgung der gesamten Wehrmacht. Trotz schwerer Kriegsschäden und der Demontage vielen Anlagen durch die Sowjets im Zuge der Wiedergutmachung war Leuna danach das größte Chemiewerk der DDR.

Monika Maron schrieb darüber in dem Roman "Flugasche": "Bitte gehen Sie geradeaus bis zum Ammoniak, dann links bis zur Saalpetersäure. Wenn Sie einen stechenden Schmerz in der Brust verspüren, kehren Sie um und rufen den Arzt, das war dann Schwefeldioxyd."

Diesen olfaktorischen Wegweiser für das „Chemie-Dreieck“ Schkopau-Leuna-Bitterfeld haben viele Menschen noch gut in der Nase. Geschrieben hat ihn die DDR-Autorin Monika Maron, Stieftochter eines Generals und Politbüromiotgliedes. 1981 erschien "Flugasche", vordergründig die Geschichte einer Reportage über ein veraltetes Kraftwerk in Bitterfeld, einem Teil der Industrieregion um Leuna. Die Journalistin Josefa entschließt sich, die Wahrheit über die dreckigste Stadt Europas und vielleicht der ganzen Welt zu schreiben, ganz im Sinne des damals verordneten sozialistischen Realismus:

"Überall saubere Fenster bei diesem gottserbärmlichen Dreck. Sie tragen weiße Hemden, weiße Strümpfe die Kinder. Das musst du dir vorstellen, mit weißen Strümpfen durch schwarzes, schmieriges Regenwasser. Weiße Pullover werden hier am liebsten gekauft, hatte die Verkäuferin gesagt… Wenn du die Zwerge aus dem Kindergarten in Reih und Glied auf der Straße triffst, musst du daran denken, wie viele von ihnen wohl Bronchitis haben. Du wunderst dich über jeden Baum, der nicht eingegangen ist."

Die Leute in der Region um Merseburg, Leuna, Bitterfeld und Wolfen konnten ihre Wäsche nur im Haus trocknen, wenn sie nicht schon auf der Leine wieder schwarz werden sollte. Wer auf der Transitautobahn durch diese Gegend fuhr, konnte riechen: Das Paradies der Arbeiter und Bauern stank. Genau das beschreibt Monika Marons Romanheldin Josefa, das Scheitern des real existierenden Sozialismus.

Zitat: "Jede Woche steht etwas in der Zeitung …über ein neues Produkt, über eine Veranstaltung im Kulturpalast, über vorfristig erfüllte Pläne, über den Orden des Kollegen Sounso. Nichts über das Kraftwerk…"

Wer die Zustände kritisch kommentierte, wer die Rücksichtslosigkeit des Systems gegenüber Mensch und Natur brandmarkte, bekam Probleme. Vor allem wegen ihrer Darstellung der Arbeitswelt wollte die Zensur Änderungen von der Autorin. Das Büro für Urheberrechte fand die realistische Beschreibung der Arbeits- und Lebensbedingungen in der DDR unerträglich. Und damit nicht genug, erlebt die Romanheldin eben jene Zensur, die es angeblich nie gab. Der Roman „Flugasche“ erschien dann unverändert im Westen, eine Bankrotterklärung gleichsam von innen: Nicht nur weil Monika Maron die Stieftochter eines prominenten DDR-Politikers ist, wurde „Flugasche“ zu Recht als politischer Roman verstanden. Wenn diese Frau schrieb "Alles, was ich sein will, darf ich nicht sein", wusste man, wie das gemeint war: wach, kritisch und mitfühlend durfte sie nicht sein. Sie war es trotzdem. Ihr Buch galt als Insider-Kritik, die darum umso bitterer war und der Autorin den Vorwurf der Nestbeschmutzung einbrachte.
Auch nach der Veröffentlichung des Romans bestanden die Missstände weiter. Das Chemiekombinat Leuna beschäftigte 30.000 Menschen und exportierte in vierzig Länder. Doch die Anlagen verkamen, die Umweltschäden überstiegen jedes Maß. Nach der Wende musste das Chemiewerk schließen. Fast alle Arbeiter verloren ihre Jobs. Auf dem sanierten Gelände wurden zahlreiche neue Unternehmen angesiedelt.