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Mittwoch, 22. Dezember 2010

Macht hoch die Tür: wie aktuell ist die Adventsbotschaft?


Macht hoch die Tür, die Tor macht weit!
Es kommt der Herr der Herrlichkeit,
ein König aller Königreich,
ein Heiland aller Welt zugleich,
der Heil und Leben mit sich bringt;
derhalben jauchzt, mit Freuden singt:
Gelobet sei mein Gott,
mein Schöpfer reich von Rat!

So beginnt dieses Jahrhunderte alte Lied von der Erwartung der Menschen auf Weihnachten, von ihrer Hoffnung auf Erlösung von ihrem Elend und ihrer Bosheit. Ja: sogar Übeltäter hatten einmal diese Hoffnung. In unseren Tagen darf man vermuten, dass sie keinen Glauben und daher keine Hoffnung und keine Liebe mehr haben. Fremd stehen die Mächtigen und Reichen heute mehrheitlich der Sehnsucht gegenüber, die aus solchen Zeugnissen des christlichen Glaubens spricht. Sie akzeptieren keine Herren mehr. Wer soll Ihnen Heil und Leben bringen? Deshalb verstehen sie auch die Freude und das Singen nur als Anlass, mit Idioten Geld zu machen.

Die SWR2-Produktion "Wiegenlieder" deutet unbewusst an, worauf sich diese Hoffnungen und Sehnsüchte richten: Auf ein Kind. Auf eine kleine, arme, junge und daher im Zweifel auf Hartz IV reduzierte Familie. Ich habe das CD-Cover dafür fotografiert - der Künstler Frank Walka und der Carus Verlag mögen mir nicht böse darum sein. Schließlich habe ich für ihren Erfolg fleißig getrommelt. Aber es war keine Sammlung von Advants- oder Weihnachtsliedern. Deshalb zurück zu dem zitierten Adventslied. Das geht weiter:

Er ist gerecht, ein Helfer wert,
Sanftmütigkeit ist sein Gefährt,
sein Königskron ist Heiligkeit,
sein Zepter ist Barmherzigkeit;
all unsre Not zum End Er bringt,
derhalben jauchzt, mit Freuden singt:
Gelobet sei mein Gott,
mein Heiland groß von Tat!

Zum Fürchten wäre das: wenn diese heutigen Herren der Welt einen Herren hätten und einen gerechten Helfer! Denn sie haben Gerechtigkeit zu fürchten, wo immer sie auftritt. Deshalb tun sie ständig solche Dinge wie erst einen Niedriglohn-Sektor zu schaffen und dann mit dem Hinweis auf das Lohnabstrandsgebot die Sozialhilfe zu senken! Die so wenig verstehen, was sie tun, dass sie es sogar un mittelbar vor Weihnachten weiter in aller Öffentlichkeit tun: sinnlose Debatten führen über 5 EURO mehr für Hartz-IV-Empfänger.

Sie sind nicht sanftmütig, sondern gebieten über Sondereinheiten des Innenministeriums, Wasserwerfer und überhaupt die geballte Staatsmacht. Aber wie dem geisteskranken die Einsicht in seine Krankheit fehlt, fehlt den Mächtigen oft die Einsicht in ihre Menschlichkeit und Endlichkeit. Ein Herr wäre ein Herr, wenn er eine Aura der Unantastbarkeit und Würde ausstrahlt - das nannte man früher Heiligkeit. Ein Flammenschwert wäre das gegen den Klassenkampf von oben - und sei es nur ein verbales. Daher haben so viele Menschen heute ein Problem mit dem "Heiligen".

Sie sind nicht barmherzig und bringen keine Not zu Ende, das soll ein Gott richten, an den keiner mehr glaubt. Das wäre nämlich Macht auch für die Armen und Elenden heute: Macht, an ihrer Lage etwas zu ändern, ihre Würde wieder zu erlangen.
Aber ich schreibe nicht mehr für Kirchenfunkredakteure, mit denen ich schon vor Jahren wochen lang über einer kleine Sendereihe zum Thema "Armut und Würde" streiten  musste, weil sie den Zusammenhang nicht sahen und mir vorwarfen, realitätsferne Ansichten zu verbreiten. Inzwischen will sie keiner mehr hören, die Reihe wurde abgeschaltet. Ich dagegen kann auch hier schreiben, was ich denke:

Es wäre eine gute Kirche, die nicht nur solche Lieder singt, sondern auch die Tat nicht diffamiert, die sie an Gott lobt und bejubelt. Es gibt nichts Gutes - außer man tut es! Das gilt auch gerade in diesen dunklen Tagen wieder, und dazu macht mir dieses harmlose, schöne, altmodische Lied die rechte Freude.

Freitag, 17. Dezember 2010

Joseph P. Strelka: "Dichter als Boten der Menschlichkeit"

Literarische Leuchttürme in Zeiten des Chaos - eine Rezension von Karl Lubomirski und ausnahmsweise nicht von mir.

2010 Narr Francke Attempto Verlag,Tübingen
396 Seiten, 49 €

Dank der Analyse der Hauptwerke von 21 maßgebenden Autoren, die zwischen dem Gelben Meer und dem Pazifik das literarische 20 Jahrhundert geprägt haben, findet der mittlerweile weltberühmte Germanist Strelka hinter dem Chaos zugleich den Keim für dessen  Überwindung oder den Keim des Keimes. Dies ist umso tröstlicher, als der Leser, der sich nicht selten in kritikloser Bewunderung der lebensverändernden Literatur verlor, auf ihre Schreiber und deren meist erschütternden Leidensweg hingewiesen wird.

In wenigen Seiten zum Beispiel umreißt Strelka das für große Teile Schwarzafrikas Symptomatische anhand des Romans eines Ibo (Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“). Hermann Brochs Massenwahntheorie mag man kennen oder nicht, aber entscheidend bleibt auch hier der Gesichtswinkel und das überzeugende Festhalten am eingangs angedeuteten Gemeinsamen, das konsequent aufgezeigt wird . ganz gleich ob bei Albert Camus, William Faulkner, Carlos Fuentes, Gao Xingjian, Joào Guimaràes Rosa, Hermann Hesse, James Joyce, Yasunari Kawabata, Nikos Kazantzakis, Selma Lagerlöf, Malcolm Lowry, Nagib Machfus, Czeslaw Milosz, V.S.Naipaul, Alexander Solschenizyn, Mario Vargas Llosa oder Patrick White.
Überblicke sind umso schätzenswerter je weiter und schärfer sie sind. Der betagte Autor hat seine Wahl nicht nur aus akademischen Gesichtspunkten treffen müssen, sondern er hat das XX. Jahrhundert erlebt, und in seine Auswahl fließen 60 Jahre Forschung. Ihm zu widersprechen wird nicht ganz leicht sein. Dass er mit diesem Buch zugleich das Konzept der Globalisierung wahrnimmt, dürfte und sollte das Interesse an seinem Überblick erhöhen. Der Band Strelkas erspart niemandem das Lesen der Hauptwerke, aber dass bereits Übersetzungen dieses soeben erschienenen Literatur-„Kompasses“ aus Tübingen in Arbeit sind, beweist das grenzüberschreitende Gewicht dieses Werkes.
In einer Welt der Zusammenbrüche, der universalen Unsicherheit (ob ethischer, wirtschaftlicher, kultureller Natur), in einer Welt scheinbarer Zukunftslosigkeit auf etwas Gemeinsames hingewiesen zu haben, das allen besprochenen Autoren eignet, die unabhängig voneinander schufen, aber zu ähnlichen Folgerungen kamen, hat etwas Besonderes, geradezu Mystisches. Ohne Hölderlins ...wo Gefahr ist“, zu bemühen , fällt auf, dass Strelka in jedem der angeführten Dichter (die meisten haben den Nobelpreis bekommen und Llosa bekam ihn, lange nachdem das Buch veröffentlicht wurde) die Anstrengung zur Aufhebung des drohenden Chaos nachweist. Es ist also etwas Gemeinsames, was die Weltteile verdunkelt. Dass Strelkas Spürsinn damit zugleich der altägyptischen Forderung nach "Maat" entspricht (dieser Begriffes deckt sich mit Weltgerechtigkeit und Daseinsharmonie), deren Garant einst der Pharao war, wird unübersehbar. Das Verdienst in diesem Zusammenhang zu stehen, verleiht dem Buch eine ungewöhnliche Bedeutung und rechtfertigt seinen Platz in jeder Bibliothek.
Schade nur, dass ein Werk, das so viel Mühe ersetzt, dem Lektorat nicht mehr Mühe wert war. So nistet der Zeit Dämon auf seine Weise auch in diesem Geschenk an den Leser.

Sonntag, 12. Dezember 2010

Internet-Gründer gegen Fehlentwicklungen

Jaron Lanier ist einer der Erfinder des Internet und prägte u.a. den Begriff "Virtuelle Realität". Wenn dieser Mann heute Fehlentwicklungen im Netz kritisiert, sollte man ganz Ohr sein.

Lanier kritisiert z.B. den verkommenen Begriff von Urheberschaft, den die Großen im Netz haben: Google, Microsoft, Facebook oder ebay spülen wegen einer rein technischen Vorstellung vom Urheberrecht viel Geld in die Kassen weniger Großer und berauben die vielen kleinen Urheber oder Anbieter von Inhalten. Künstler wie Musiker oder Autoren  werden existenziell bedroht durch die so genannte "Free Culture", eher eine Ideologie mit quasi-religiösen Zügen als eine Kultur. Was um sich greift, ist nämlich das Gegenteil von Kultur- eine zunehmende Verflachung inhaltlicher und formaler Ansprüche an Kunst und Kultur im Web.

Die so genannte "Schwarmintelligenz" ist die Intelligenz des kleinsten gemeinsamen Nenners und eher ziemlich doof. Lanier bringt in seinem Buch dafür die nötigen Beweise. Und er weiß, wovon er spricht, denn er ist nicht nur Mathematiker und Computerfreak, sondern auch Musiker. Niemand hat bisher so sehr von innen und daher so überzeugend die  (vor allem ökonomischen) Risiken der digitalen Revolution dargestellt. Menschen sindf wichtiger als Programme und Hardware. Sie sind unersetzlich, denn "künstliche Intelligenz" gibt es nicht in der realen Welt, sondern nur in Hirngespinsten der Science Fiction. Wir müsen bewerten, auswählen und beurteilen, sonst niemand. Alles andere ist SPAM.

Montag, 6. Dezember 2010

"Juristisch": ja - einwandfrei: nein

Die Landesregierung von Baden-Württemberg hat Angst  vor dem Volk. Vorsichtshalber wird der Landtag bewacht wie nicht einmal Fort Knox oder der der Berliner Reichstag bei Terrordrohungen.

Dass die "Schlichtung" bei Stuttgart 21 eine Beschwichtigung sein würde, war von vornherein klar. Ministerpräsident Mappus, seine Verkehrsministerin Gönner und Bahnchef Grube hatten ja ebenso wie Bundeskanzlerin Merkel und ihr Verkehrsminister Ramsauer stets betont, gebaut werde auf jeden Fall, egal was bei der Schlichtung herauskomme. Nur Träumer konnten daher anderes erwarten. "Juristisch" mag es ja sein, sich auf Abstimmungen und Verträge zurückzuziehen, die 1994 und 1995 ausgemauschelt wurden, aber juristisch einwandfrei ist das alles nicht - von Anstand, demokratisch guten Sitten und Moral ganz zu schweigen.

Meine Einwände bleiben bestehen. Und begründet hat sie Andreas Zielcke ausgezeichnet in der Süddeutschen Zeitung vom 3. Dezember ("Schlichtung und Wahrheit"). Dem kann ich nur hinzufügen: Diese Herrenmenschen-Attitüde unfairer Verfahrensdemokraten wird ihr Nachspiel haben. Erstens habe ich mir schon lange Unterhosen für heiße Demos bei tiefen Temperaturen gekauft. Zweitens nützt es den Befürwortern nichts, wenn sie bis Weihnachten im parlamentarischen Untersuchungsausschuss wegen der CDU-Hoheit über die Tagesordnung nur Polizisten anhören: Die Wahrheit über die Verantwortung für den Schwarzen Donnerstag wird so oder so ans Licht kommen - und zwar noch mehr im Wahlkampf als jetzt. Drittens schießlich wird das Land wählen und damit eben nicht nur ein Bahnprojekt, sondern auch seine Befürworter abservieren. Einen Polizeistaat hatten wir seit 1968 / 1969 nicht mehr, und den will auch jetzt nur eine Handvoll Irrer zurück haben. Und die provozieren schon wieder.

Zum Stichwort "Polizeistaat": Jetzt haben wir also schon eine Vorstufe davon und es gilt der Tatbestand der Majestätsbeleidigung wie 1848: Deutsche Beamte hatten am 04.12. nichts Besseres zu tun, als einen Demonstranten zu filmen, dann durch die halbe Innenstadt zu verfolgen und dann auf dem Schlossplatz mit einem Pfefferspray-Einsatzkommando mitten aus dem Demonstrationszug herauszuholen, weil er vor der CDU-Zentrale Beamte angepöbelt hatte. Gewalt also inzwischen schon als Mittel gegen Verbalinjurien? Wer das rechtfertigt, will Repression und Einschüchterung. Bekommen wird er eine Quittung vom mündigen Wahlbürger.

Mittwoch, 24. November 2010

Wutanfall

Seit Freitag, 18.11.2010 bekomme ich als Nutzer des E-Mail-Programms Thunderbird (Mozilla) zwar passiv meine Mails vom gmx-Server, aktiv kann ich aber mit meiner gmx-Adresse keine E-Mail mehr versenden und erhalte stattdessen folgende Fehlermeldung:

"Fehler beim Senden der Nachricht. Der Mail-Server antwortete:  5.2.3
 Sorry, you've been banned due to abuse. (abuse@1und1.com) {mp035}. Bitte
 überprüfen Sie, ob Ihre E-Mail-Adresse in den Konten-Einstellungen
 stimmt und wiederholen Sie den Vorgang."

Frage: Was soll der Blödsinn?! Ein "abuse" oder Missbrauch liegt nicht vor! Und die Firma gmx, der ich seit vielen Jahren ein treuer Kunde bin, tut nichts dagegen, beantwortet meine E-Mails nicht und bleibt telefonisch unerreichbar. Wenn ich rauskriege, wer diesen Mist zu verantworten hat, bekommt mein Zorn ein Ziel, und das wird gerantiert getroffen!

Feindbild Bürger

Ein besonders schöner Krawattenträger zeigte mir am 20.November, wie sehr Proteste gegen Stuttgart 21 im Herzen der bürgerlichen Mitte angekommen sind - oder sind sie sogar dort her gekommen?

Dass Senioren heutzutage besser daran tun, ihre kritischen Köpfe mit Fahrrad-Helmen zu schützen, hat der 30. September auf traurige Weise bewiesen. Der kluge Mann beugt vor.

Im Übrigen finde ich jedes Mal bestätigt: Der Protest ist weder alt noch jung, er ist jung und alt! Was auch immer für Klischees Mappus und seine Parteigänger im Kopf haben, sie sind allesamt falsch. So falsch wie das Grinsen der Kreisefresser aus den Ministerien oder von der Bahn beu den Schlichtungsrunden im Stuttgareter Rathaus oder bei Presseterminen. Einem Frieden, der jederzeit kündbar zu sein scheint, kann ich so wenig trauen wie Volksvertretern, die das Volk nicht vertreten. Damit bin ich kein Feind der Demokratie geworden, sondern Teil einer großen Familie, die aufsteht gegen den Mißbrauch der repräsentativen Demokratie!

Donnerstag, 18. November 2010

Schlappe für Grube bei Stuttgart 21

Das Eisenbahn-Bundesamt hat die Baugenehmigung für die Schnellbahntrasse Wendlingen-Ulm wegen ungesicherter Finanzierung verweigert. Damit ist ein wesentlicher Teil  des Großprojekts Stuttgart 21 für die Deutsche Bahn erst einmal blockiert. "Pacta servanda sunt" - Verträge sind einzuhalten: Diesen römischen Rechtsgrundsatz zitieren die Befürworter von Stuttgart 21 gern im Zusammenhang mit der Diskussion über einen Ausstieg. Aber inzwischen stellt sich zunehmend heraus, dass viele der bereits abgeschlossenen Verträge voreilig oder sogar unrechtmäßig abgeschlossen wurden, weil die Voraussetzungen dafür nicht erfüllt waren, weil die Geschäftsgrunslage inzwischen entfallen ist oder weil sie auf Täuschung beruhten.

Solche Verträge sind sowohl nach römischem als auch nach deutschem Recht sittenwidrig und damit nichtig. Wer also künftig die alten Römer zitiert, sollte es vollständig und richtig tun, sonst beweist er nur die Denkweise eines Wirtschaftskriminellen. Bei denen ist so etwas nämlich gang und gäbe. Bahn-Chef Rüdiger Grube wird sich jetzt schwertun, weiter zu behaupten, es werde auf jeden Fall gebaut. Wenn nicht einmal die Beamten des Eisenbahn-Bundesamtes verstehen, wie die Finanzierung des Bauvorhabens funktionieren soll, kann der Chef der Deutschen Bahn es kaum besser wissen.

Dienstag, 16. November 2010

Grube und das Großprojekt Babylon

"Pfeift denn niemand diesen Irren zurück?" fragt sich mancher, der in diesen Tagen Rüdiger Grube tönen hört, Stuttgart 21 werde auch dann gebaut, wenn eine neue Landesregierung in Baden-Württemberg aus dem Großprojekt aussteigen sollte. Das klingt zunächst, als sei der Chef der Deutschen Bahn in seinem Größenwahn bereit, sich über jede Entscheidung der Politik hinwegzusetzen. Aber genau dafür wird er bezahlt. Rüdiger Grube ist nicht irre; er redet so, weil das sein politisch gewollter Job ist - und Teil einer babylonischen Sprachverwirrung.

In Wirklichkeit aber werden hier neue Rückzugslinien gezogen: Grube rechnet längst damit, dass sein Projekt scheitert, und will einen neuen Schuldigen dafür aufbauen. Die Bahn  gehört zu 100 Prozent dem Bund, und nach dem Verfassungsrecht müsste der auch allein bauen, was da ansteht. Damit er´s bloß tut, haben die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg in fragwürdiger Auslegung des Verfassungsarechts erhebliche finanzielle Beteiligungen, ja Vorleistungen erbracht in Zeiten, als der Bundesverkehrsminister einer rot-grünen Regierung Stuttgart 21 nicht wollte. Jetzt hat Bundesverkehrsminister Ramsauer zwar gesagt, Stuttgart 21 werde so oder so gebaut, aber er ist bei seinen Kostenberechnungen der Lüge überführt. Der Bundesrechnungshof hat ihn öffentlich dafür gerügt, dass seine Leute die Kosten schöngerechnet und Aktivposten auf die Habenseite geschlagen haben, die es nie geben wird. Schon die nächste Lüge kann auch Ramsauer den Job kosten, und dann? Dann ist Grube dran, und er weiß das.

Wie gesagt, die Bahn gehört dem Bund, also den Steuerzahlern. Und wenn  die beschließen, dass die Bahn nicht privatisiert wird und dass Stuttgart 21 ein größenwahnsinniges Prestigeprojekt ist, kann dieser (völlig überbezahlte) Angestellte des Steuerzahlers nur noch gehen oder gehorchen. Er ist dann sowieso überflüssig, so weit es um die autoritäre Überheblichkeit eines Privatunternehmers geht. Die Bahn ist nicht privat und sollte es aus guten Gründen niemals sein. Auch darüber versucht Grube die Öffentlichkeit zu täuschen.

Hochmut stand immer vor dem Fall. Und der kann sehr tief sein. Der Stuttgarter OB  Wolfgang Schuster ist nur noch ein Schatten, seit herauskam, dass er Stuttgart 21 durch Wortbruch und heimliche Unterschriften ermöglicht hat. Ministerpräsident Mappus wird darüber stürzen, dass er mit Gewalt den friedlichen Protest gegen den Missbrauch demokratischer und gerichtlicher Verfahren niederzuschlagen versuchte. Jetzt versucht Grube nur, Berlin noch enger auf seine Linie einzuschwören, denn der Volksmund hat Recht: Mit gefangen, mit gehangen.

In Stuttgart läuft es schlecht für das Projekt: Die Schlichtung von Heiner Geißler fördert jede Woche neue Rechtsbrüche und Schwächen bei Stuttgart 21 zu Tage. Dazu kommt inzwischen ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zur Klärung des gewalttätigen Polizeieinsatzes vom 30. September gegen Stuttgart-21-Gegner. Er wird zahlreiche Beweise dafür zu Tage fördern, was hier schon  jeder weiß: Fast das ganze Kabinett von Ministerpräsident Mappus hat sich bei Stuttgart 21 zu Rechtsbrüchen verleiten lassen. Die CDU-FDP-Landesregierung steht mit dem Rücken zur Wand und schlägt verzweifelt um sich. Aber Beamte haben ihren Eid nicht darauf geleistet, für eine Regierung zu lügen. Und wenn die Landtagswahl am 27. März 2011 diese Zustände beendet, schlägt auch die Stunde für deren Unterstützer in Berlin - Grube inbegriffen.

Großprojekte, das weiß man seit Babylon, haben oft nicht den Segen höherer Mächte, auch nicht den des Volkes. Die Strafe Gottes im Fall der Turmbauer im Zweistromland war die Verwirrung der Sprache. Das krankhafte Lügen ist ein Teil dieser Verwirrung und schon jetzt ein Markenzeichen der Stuttgart-21-Befürworter. Leute wie Rüdiger Grube können gar nicht mehr denken, also auch nicht reden, was wahr ist. Sie leben eingesponnen in einer Welt der Irrtümer und Missverständnisse. Ihre Wahrnehmung der Realität ist gestört. Sie verstehen nicht und können sich nicht verständlich machen. Sie sind geschlagen mit Blindheit und Taubheit.

Montag, 8. November 2010

Klassenkampf von oben

Bin ich paranoid, oder geht in den letzten Jahren einfach zu viel ab, was auf einen systematischen Klassenkampf "von oben" hinweist? Eine Anregung zu kritischem Denken ist immer die Frage: Wer profitiert von den aufgezeigten Mißständen? Zur sachlichen Überprüfung, ohne Chronologie und Anspruch auf wissenschaftliche Vollständigkeit, hier ein paar nackte Fakten, die nachdenklich machen sollten:

1. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich ständig weiter, die Entsolidarisierung wird vor allem "oben" betrieben: Die krassesten Beispiele sind die horrenden Provisionen und Boni für Anlageberater, Bankiers oder Insolvenzberater, aber auch andere Unternehmensberater. Auf breiter Front halten etwa Ärzte oder Juristen Stundensätze von mehreren 100 EURO für angemessen, während das, was als unantastbares Mindesteinkommen oder Existenzminimum gilt, ständig nach unten korrigiert wird (auch keine Anpassung an die Inflation ist ein Schrumpfen). Das Gleiche gilt für Renten, Harz-4-Sätze etc.

2.Die CDU-FDP-Regierung weigert sich beharrlich wie schon vorher Rot-Grün, die steuerliche Ungerechtigkeit der "schleichenden Progression" abzuschaffen. Auch der Hinweis, eine Vermögenssteuer bringe nichts, ist fraglich im internationalen Vergleich. Warum nimmt der Staat sein Geld nicht von denen, die es mehr als reichlich haben?

3. Das Gleiche passiert seit noch längerer Zeit immer dann, wenn jemand es wagt, die heilige Kuh der Bemessungsgrenzen bei Sozialbeiträgen anzutasten. So bleibt die faktische Belastung der Armen und Durchschnittsverdiener überproportional hoch im Vergleich zu Einkommensmillionären.

4. Leute wie Unternehmerverbandssprecher Dieter Hundt, IHK-Vorsitzende oder andere Lobbyisten der oberen Zehntausend fordern ständig Korrekturen der Sozialstandards nach unten - der Rückschritt in die Zeit vor 1970 ist offenes Ziel der Debatte über "Konkurrenzfähigkeit auf den globalen Märkten". Sie bedienen eine Lobby, die sicherlich auch konkrete Ziele hat, die aber nie genannt werden. Tatsache ist auch, das beweisen längst etliche wissenschaftliche Studien, dass die Arbeitsbedingungen für viele Menschen in Deutschland durch anhaltende Arbeitsverdichtung und "interne Optimierungen der Arbeitsorganisation" in vielen Unternehmen längst schlechter ist als 1970: also haben wir bereits 40 Jahre sozialen Rückschritt.

5. Gleichzeitig wird permanent Volkseigentum privatisiert durch Bahn, Post, Telekom, Infranstrukturbetriebe wie Busse, Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser etc. Die Kosten dafür werden sozialisiert, Verluste bei Fehlspekulationen wie bei der Finanzkrise 2008/9 ebenfalls. Die gleichen Leute, die immer davon reden, man müsse endlich "Verantwortung übernehmen" und solle "nicht immer nach dem Staat rufen", haben bei der Finanzkrise Hunderte von Milliarden zur Rettung von Banken ausgegeben, die sich auf kriminelle Weise verspekuliert hatten. Angemessene Kontrollgesetze gibt es immer noch nicht.
Die gleichen Industriesprecher und Politiker, die chronisch fordern, gegen den "Sumpf der Subventionen vorzugehen", missbrauchen den Begriff "Subvention": Die Autoindustrie hat eine "Verschrottungsprämie" als Milliardensubvention durchgesetzt und über ein Jahr lang den Staat durch Kurzarbeit zur Kasse gebeten. Sie weigert sich aber, endlich sinnvoll in eine Elektrifizieruzng des Pkw-Verkehrs und ein Netz von Wasserstoff-Tankstellen für längst entwickelte Brennstoffzellen-Pkw zu investieren.

6. Forschung und Bildung werden durch Kürzungen geschädigt - aber Boni für Banker, die nachweislich Landesbanken an die Wand gefahren haben, findet der Finanzminister "nicht zu beanstanden". Und die Politik bzw. der Parteienstaat, der die Republik schon längst mit einem Selbstbedienungsladen verwechselt, legt einseitig fest, wo man echte Kosten zur Erlangung des Lebensunterhaltes oder der Altersvorsorge, wie sie das Verfassungsrecht verlangt, willkürlich deckeln darf (Arbeitszimmer, Fahrtkostenpauschale, Spesenabrechnungen, tatsächliche Aufwendungen für Versicherungen und Altersvorsorge etc.).

7. Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" enthält neben rassistischen und fremdenfeindlichen Dummheiten auf Stammtischniveau genau die gleichen Hasstiraden und Verächtlichkeiten gegen sozial Schwache, chronisch Kranke etc: Da schimpft ein Multimillionär gegen einen Sozialstaat, der es Seinesgleichen in Zukunft schwer machen könnte, so weiter zu raffen wie bisher.
Politiker wie CSU-Chef Seehofer oder CDU-Regierungschefin Angela Merkel setzen mit plakativen Sätzen "Multikulti ist tot! Multikulti ist vollkommen gescheitert!" zeitnah und unmissverständlich noch eins drauf. Sie hätten am liebsten, das jeder Andersdenkende mundtot gemacht oder bestraft würde.

8. Der Ausstieg aus dem Atomausstieg wurde von der CDU-FDP-Mehrheit im Bundestag gegen die höchst wahrscheinliche Mehrheit der Wähler und der übrigen Parteien beschlossen. Dabei umgeht die Regierung dreist und bewusst das demokratische Verfahren der Beteiligung der betroffenen Länder durch eine Anstimmung im Bundesrat, was sogar Bundestagsprädisent Lammert (CDU) bedenklich findet. Gleichzeitig zu dieser Atompolitik wird die Förderung für Solarenergie durch den Staat reduziert; die Kosten dafür schlägt man auf die normale Stromrechnung für die Verbraucher auf. Heizen muss in diesem Land jeder, aber die Heizkosten für Normalos steigen voraussichtlich 2011 um 10 % im Schnitt, und Beziehern von für Hartz IV wird der Heizkostenersatz gestrichen.

9. Großprojekte erweisen sich immer öfter als Netzwerk von Spekulanten, Großindustrie und Politikern, die in den Aufsichtsräten der beteiligten Firmen sitzen. Spricht man ihre Parteigänger darauf an, dass deswegen in Deutschland immer mehr Dinge immer schlechter finktionieren, kommt immer nur der Hinweis darauf, dass es doch anderswo noch viel schlimmer sei. Warum wird nicht endlich gesetzlich verboten, dass Politiker nebenbei in Aufsichtsräten sitzen und dafür auch Geld annehmen?

10. Regt sich bürgerlicher Ungehorsam und gehen die Menschen auf die Straße, weil sie nicht damit einverstanden sind, wie Politiker z.B. in der Atomfrage oder bei Stuttgart 21 "demokratische Verfahren" durch Volksvertreter eher unterlaufen als ernst nehmen, werden Gegner diffamiert und kriminalisiert. Dabei scheut man nicht vor falschen Behauptungen zurück: Innenminister de Maiziere und die Baden-Württembergische Kultusministerin Schick nach dem extrem Polizeieinsatz gegen eine Schülerdemonstration im Stuttgarter Schlosspark am 30. 9.2010: "Wenn Schüler massenhaft Entschuldigungen bringen, um demonstieren zu gehen, wird das Demonstrationsrecht missbraucht". Oder: "Lehrer, die ihre Scüler gegen Stuttgart 21 instrumentalisieren, müssen mit einem Disziplinarverfahren rechnen". Tatsächlich ergaben die Ermittlungen nach Wochen, dass kein einziger Lehrer seine Pflichten missachtet hatte und keine elterlichen Entschudigungen für demonstrierende Schüler vorlagen.

11. Vor allem CDU-Politiker neigen wieder zunehmend zu einer Gewaltbereitschaft, die seit 1969 überwunden schien. In Stuttgart wurden am 30. September 2010 gegen friedliche Stuttgart-21-Gegner Schlagstöcke, Tränengas und Wasserwerfer mit CS-Reizgas eingesetzt, um eine Sitzblockade aufzulösen. Angemessen wäre aber eine Reaktion wie beim Protest gegen Castortransporte vor Gorleben, wo die Polizei Blockierer wegtrug. Da zeigen sich zusammen mit der Gewaltbereitschaft führender Politiker wie Stefan Mappus Denkweisen, die wir lange Zeit im Falle von Wladimir Putin, Silvio Berlusconi oder China als undemokratisch gebrandmarkt haben - übrigens auch und gerade die CDU.
Das hat auch mit einer wachsenden Privatisierung des staatlichen Gewaltmonopols zu tun: "Sparzwänge" am falschen Platz sorgen sogar dafür, dass Zehntausende von Stellen bei der Polizei gestrichen werden, während das organisierte Verbrechen triumphiert oder Polizisten für Geschwindigkeitskontrollen missbraucht werden, die nur zur Geldbeschaffung dienen und mit Sicherheit nichts zu tun haben. Paranoider Sicherheitsaufwand bei G-7-Treffen oder Besuchen des US-Präsidenten oder Polizeieinsätze gegen Demonstranten im eigenen Land müssen auch dann noch finanziert werden. Fazit: Die Sicherheit in der Fläche nimmt dramatisch ab. Stattdessen machen sich private Sichereheitsdienste dort breit, wo eigentlich ein staatliches Gewaltmonpopol gelten  müsste (bis hin zu der skandalösen Beteiligung der Priatfirma "Blackwater" am Irak-Krieg, über die es schon ein ganzes Buch gibt). Man glaube nicht, das gebe es in kleinerem Maßstab nicht auch längst bei uns!

12. Die Gesundheitspolitik zeigt besonders krass, wie auf Kosten derer gespart wird, die medizinische Leistungen am nötigsten brauchen; Alte, chronisch Kranke und sozial Schwache. Ich will als Beispiel dafür nur die Tatsache nennen, dass in der ganzen Welt nur in Deutschland die Pharmaindustrie die Preise für ihre Medikamente selbst festsetzen darf. Immer unverhohlener heißt es: "Medizinischer Fortschritt kostet eben Geld". Und unausgesprochen wird der Satz ergänzt durch die Aussage: "aber nur für die Gering- oder Durchschnittsverdiener". Gerade im Gesundheitswesen wird enorm viel Geld verdient - in vielen Fällen reine Lobbypolitik und nicht zu rechtfertigen.

Freitag, 22. Oktober 2010

Mal ein Gedicht

Stuttgart 60


Ganz wie das Wasser immer nur nach unten rinnt,
so schwinden mir die Stunden und die Tage.
Ist das normal, das so viel ohne mich beginnt,
hab ich tatsächlich keinen Grund zur Klage?

Es ist der Größenwahn, der spaltet diese Stadt.
Sie reißen ab und bauen neu aus reiner Gier.
Es sind Gesetze, die das Recht verlassen hat.
Sie raffen, und sie schlagen Schädel ein dafür.

Wo ist der Glaube, den es hier einst gab?
Sie reden von Erfolg und meinen Geld.
Es ist nicht ihres. Es ist ein Milliardengrab.

Doch ohne Spuren geht ihr nicht aus dieser Welt.
Habt ihr gelebt, geliebt, gekämpft, gelitten? –
Dann müsst ihr auch nicht um Verzeihung bitten.


Donnerstag, 21. Oktober 2010

Wider hirnlose Jasager und Schönschwätzer

Barbara Ehrenreich: “Smile Or Die – Wie die 
Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt“. 
Antje Kunstmann Verlag, München, 254 Seiten, 19,90 €.

Es stimmt, dass subjektive Faktoren wie Entschlossenheit entscheidend fürs Überleben sind und der einzelne Mensch manchmal über alptraumartige Widerstände triumphiert. Doch dass der Geist über die Materie siegt, ist kein Automatismus, und wer die Bedeutung schwieriger Umstände ignoriert – oder, schlimmer noch, sie auf die eigenen Gedanken zurückführt -, läuft Gefahr, in eine obszöne Selbstgefälligkeit zu verfallen wie sie die australische Autorin Rhonda Byrne angesichts des Tsunami von 2006 zum Ausdruck brachte. Sie berief sich auf das Gesetz der Anziehung und behauptete, solche Katastrophen passierten nur Menschen, die „auf derselben Wellenlänge sind wie das Ereignis“.

Diese Bilanz zieht Barbara Ehrenreich am Ende ihres Buches „Smile Or Die – Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt“. Die erwähnte Rhonda Byrne ist übrigens ihre Lieblingsfeindin. Sie hat den quasi-religiösen Bestseller „The Secret“ – Das Geheimnis – über jenes angebliche Gesetz der Anziehung geschrieben, dem zufolge man sich etwas nur intensiv wünschen muss, um es zu bekommen.
Heerscharen von Motivationstrainern, Werbeagenturen und amerikanische Fernsehprediger arbeiten mit diesem süßen Gift und leben gut davon. Aber längst hat es auch die Chefetagen von Wirtschaft, Medizin und Politik erreicht. Positives Denken ist ja gut, doch wer hat nicht schon beobachtet, wie es in hirnlose Jasagerei, Schönreden und krankhaftes Verdrängen echter Probleme umschlägt?
Barbara Ehrenreich analysiert die Gründe dafür, beschreibt die Entstehung des Phänomens und liefert Argumente für die Verteidigung gegen eine gute Idee, die sich zur verlogenen Pest entwickelt hat. Die erfolgreiche amerikanische Journalistin ist gelernte Biologin, hat eine Krebserkrankung überwunden und weiß: Positive Gefühle waren wichtig dabei, aber geheilt wurde sie von Chirurgen. Schon bei der ersten Untersuchung fiel ihr auf, dass die Umkleidekabine mit Kitsch beklebt war:

Eine „Ode an die Mammographie“, eine Liste der zehn wichtigsten Dinge, die nur Frauen verstehen – zum Beispiel toller Klamotten und Wimpernzange, und direkt neben der Tür, unübersehbar, das Gedicht „Ich habe für dich gebetet“, umrankt von rosa Rosen.

Doch der Markt für solchen Unsinn ist riesig. Sektiererische Ideologie erlebte Ehrenreich auch in Selbsthilfegruppen und in Motivationsseminaren: Nicht genug damit, dass ihr von der aufgesetzten Fröhlichkeit Todgeweihter übel wurde, das positive Denken schuf Feindbilder.
Wer kritisch denkt und frustriert auf seine Entlassung oder ständige Misserfolge reagiert, wird ausgegrenzt, mundtot gemacht und gedemütigt. Dem sagt man, er sei negativ und selber schuld. Nur so ist zu erklären, dass die Geheimdienste vor dem 11. September 2001 kein Gehör fanden oder dass alle Warnungen vor der Finanzkrise 2008 ignoriert wurden:

Was war dieser Marktfundamentalismus anderes als aus dem Ruder gelaufenes positives Denken? Nach der unter Bush und in geringerem Maß ... auch unter Clinton vorherrschenden Ansicht bestand kein Grund zur Wachsamkeit oder Angst um die amerikanischen Finanzinstitute, denn der „Markt“ würde alles regeln.

Als Ursache für die Entgleisungen des positiven Denkens macht die Autorin den Calwinismus aus – und typisch amerikanische Verzerrungen davon. Sie setzen Glück mit Erfolg gleich und ersetzen die totale Abhängigkeit von Gottes Gnade durch den Glauben, der Wille allein mache alles möglich und jede Armut sei selbstverschuldet. Pseudowissenschaftliche Unterstützung kam durch einseitige Studien über psychosomatische Medizin, diverse Magnetfeldtheorien und die „positive Psychologie“ der so genannten „Christian Science“.
Diese Leute beten zwar nicht mehr, gehen aber mit pseudoreligiöser Inbrunst gegen Alkohol, Tabak, Kaffee und Sex vor – ein pervertiertes Überbleibsel calwinistischer Genussfeindlichkeit.
Ein wichtiges und trotzdem unterhaltsames Buch: Es geht mit Witz und Wut an gegen die geisttötende Tyrannei kollektivier, fröhlicher, aber eben irrationaler Sorglosigkeit in Krisenzeiten. Wer etwas verändern will, muss anpacken und nicht im Chor jubeln: Alles wird gut!


Aufstand der Konservativen

Horacio Castellanos Moya: „Der schwarze Palast“. Roman: 
Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold. S. Fischer Verlag, 
Frankfurt a.M., 333 S., 19,95 €

Nach Mittelamerika im Jahr 1944 führt der Roman „Der schwarze Palast“ von Horacio Castellanos Moya. Der Autor stammt aus Honduras, jenem kleinen Land zwischen Guatemala, El Salvador und Nicaragua. Er beschreibt in El Salvador eine der typischen Militärdiktaturen, unter denen diese Länder im Wechsel mit Bürgerkriegen und Naturkatastrophen gelitten haben. Ihr Zentrum ist die Polizeizentrale der Hauptstadt, der „schwarze Palast“. Hier sitzt der Journalist Periclés wegen Kritik an der Politik des Diktators in Haft. Seine Frau Haydee führt Tagebuch.

Bei früheren Arresten durften einige Freunde, die die Genehmigung des Obersts bekamen, meinen Mann besuchen, und ich aß jeden Mittag und Abend mit ihm zusammen in diesem Zimmer das Essen, das ich mit Maria Elena zubereitet und mitgebracht hatte. Jetzt sitzt Periclés abgeschieden in dieser Zelle… Aber er schien so etwas erwartet zu haben. Sein einziger Kommentar war: „Wie man sieht, hat dieser Mensch große Angst.“ Mein Mann sagte nie General oder Präsident, auch nicht Nazihexer, wie ihn mein Vater und seine Freunde nennen, sondern immer nur „dieser Mensch“.

Periclés, Leutnant der Reserve, einst Botschafter in Brüssel und persönlicher Berater des Präsidenten, ist wegen sachlicher Kritik an der gewalttätigen Willkürherrschaft „dieses Menschen“ in Ungnade gefallen, genießt aber aber als politischer Häftling noch Privilegien. Sein Vater ist Oberst und Großgrundbesitzer, sein Schwiegervater Provinzgouverneur, seine Mutter die Tochter eines Plantagenbesitzers. Man denkt demokratisch und liberal. Haydee hat ein Hausmädchen, und der Chauffeur ihres Vatersbringt sie trotz der Ausgangssperre zu Verwandten und Freunden, wo sie ein Netzwerk zur Befreiung der politischen Gefangenen aufbaut.
Der Widerstand formiert sich bei Kaffee und Kuchen oder bei Totenwachen für die jungen Offiziere, die nach einem gescheiterten Putschversuch erschossen wurden. Haydees ältester Sohn ist zum Tode verurteilt und auf der Flucht, weil er im Radio vorschnell die Verhaftung des Diktators verkündet hat. Betito, ihr Jüngster, hilft, einen Generalstreik zu organisieren. Das Geld dafür sammelt Haydee bei den Eltern und befreundeten Unternehmern. Vor allem die Frauen demonstrieren vor dem Gefängnis.

Die Menschenmenge brodelte, immer mehr fielen in den Chor ein, das Rufen wurde immer lauter und kämpferischer: „Freiheit! Freiheit! Freiheit!“ Zuerst fürchtete ich mich, aber als ich mich zu Betito und meinen Freundinnen umdrehte, sah ich, dass auch sie in die Protestrufe eingestimmt hatten und die Fäuste in die Luft reckten. Ich machte mit. …Dann richteten die Gardisten die Gewehre auf uns. Ich hielt panisch nach Betito Ausschau, doch er rief wie die anderen immer weiter, ohne sich einschüchtern zu lassen.

Nicht linke Bauern und Arbeiter stürzen schließlich den Diktator, sondern das ganze Volk. Die Akteure gehören zur Ober- und Mittelschicht. Aber es ght dabei nicht um Ideologie, sondern um Menschlichkeit, das höchste Gut der Demokratie. Allein aus Abscheu vor der Arroganz der Mächtigen wird Periclés Kommunist. Einmal sagt er zu seinem Freund Chelón, einem Maler:

Dreck am Stecken haben alle, Chelón. Aber auf irgendeiner Seite muss man stehen.

Die scheinbar naive Perspektive im Tagebuch der höheren Tochter Haydee wirkt sehr glaubwürdig. Da spricht keine Linke, sondern eine, die in die Kirche geht. Zwischen fünf Kapiteln aus der Sicht dieser Ich-Erzählerin berichten vier Kapitel in der dritten Person von der Flucht des ältesten Sohnes. Ein Schlusskapitel beleuchtet die ganze Geschichte noch einmal aus einem gänzlich anderen Blickwinkel, und der ist besonders reizvoll: 30 Jahre und einige Aufenthalte im Exil später erzählt der Maler Chelón vom letzten Tag seines besten Freundes Periclés. Seit Haydees Tod kommt er regelmäßig zum Mittagessen bei Chelón, diesmal direkt aus dem Krankenhaus. Er hat Lungenkrebs und wird sich am Abend erschießen – nach einem letzten guten Gespräch und einer letzten guten Zigarre.

Es sind genau die, die auch Fidel Castro raucht, hat der Botschafter versichert“, merkte ich an. Der Alte bedachte mich mit einem gütigen Blick; ich wusste, dass mein Freund nach dem Sieg der Revolution ein Jahr als eine Art lokaler kommunistischer Botschafter auf Castros Insel gewesen war. Das war wenige Monate nach Haydees Tod gewesen. Die Ablenkung half ihm bestimmt über den Schmerz hinweg.

Ein wunderbares Buch: unsentimental, aber von tiefer Menschlichkeit macht es klar, warum Unmenschen Menschen so hassen, die sich nicht einschüchtern lassen.


Vergangenheitsbewältigung auf Kolumbianisch

Juan Gabriel Vásquez: „Die Informanten“. Roman.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Verlag 
Schöffling & Co, Frankfurt a.M., 379 S., 22,90 €

Vergangenheitsbewältigung ist in dem Maß Stoff für Literatur, wie sie juristisch nicht gelingen will. Stoff dafür ist das Unglück vieler Menschen in rechten und linken Diktaturen ebenso wie die Tatsache, dass die Schuldigen oft Jahrzehnte lang unerkannt oder aus politischen Gründen unbehelligt blieben. Für gewöhnlich ist klar zu unterscheiden zwischen Tätern und Opfern – einfach aufgrund ihrer Verhaltensweisen. Dass es so einfach nicht immer ist, zeigt der beunruhigende Roman-Erstling des 37 Jahre alten, in Barcelona lebenden Kolumbianers Juan Gabriel Vásquez, „Die Informanten“.


Der Roman handelt von einer schwierigen Vergangenheitsbewältigung. Ein Ich-Erzähler namens Gabriel Santoro, Kolumbianer und Journalist wie der Autor, schreibt ein Buch über das Schicksal deutscher Einwanderer während des Zweiten Weltkriegs. Dafür erzählt ihm Sara, eine deutsch-jüdische Jugendfreundin seines Vaters, von ihrem Leben im Exil und von den „schwarzen Listen“ potenzieller Nazi-Sympathisanten. Aus Loyalität gegenüber dem Vater verschweigt sie aber, dass der in die Sache verwickelt war.
Ab 1941 führten die CIA und die Regierung in Bogotá diese Listen. Schon der Verdacht oder eine anonyme Anzeige genügten, und der Betreffende verlor seine Arbeit und wurde interniert. Santoro senior, inzwischen ein angesehener Mann, hat damals einen Unschuldigen denunziert, der sich das Leben nahm. Und er reagiert mit der Panik des Schuldigen auf das Buch seines Sohnes.

Erinnerung ist nicht öffentlich, Gabriel. Das haben weder du noch Sara begriffen. Ihr habt Dinge an die Öffentlichkeit gezerrt, die viele von uns gern im Vergessen belassen hätten… und jetzt sind diese Listen wieder in aller Munde, die Feigheit gewisser Denunzianten, die Angst der fälschlich Angezeigten.“

Der Leser braucht eine ganze Weile, bis er die komplexen Zusammenhänge erkennt. Aus Saras Erinnerungen erfährt man, wie der alte Santoro den Vater eines Freundes denunzierte, und wie der sich umbrachte, als Frau und Sohn sich von ihm lossagten. Der Leser weiß nie mehr als der recherchierende Junior, und der ist nicht auf eine simple Verurteilung seines Vaters aus. Er bezieht den Leser vielmehr ein in einen mühsamen Prozess der Aufklärung voller Überraschungen.
Eine Herzoperation des alten Santoro führt zur Versöhnung mit seinem Sohn. Der Senior verliebt sich sogar noch einmal und versucht, den Fehler seines Lebens in diesem neuen Leben wieder gut zu machen. Dass der Vater auch Enrique zu einer Aussprache traf, den Sohn seines Opfers, erfährt Gabriel Santoro erst, nachdem sein Vater bei einem Autounfall auf der Rückfahrt von diesem Besuch ums Leben gekommen ist. Auch Enrique, durchaus eine sympathische Figur, erscheint als Opfer und Täter zugleich.
Als Enriques Vater 1941 in Bogotá einem frisch zugezogenen, ihm unbekannten deutschen Landsmann, der sein Gast war und Nazi-Parolen von sich gab, nicht entschieden genug entgegen trat, wandte auch er sich von seinem Vater ab. Und als dieser auf der „schwarzen Liste auftauchte“, erklärte Enrique seiner Mutter, das hätten sie davon, sich mit Nazis einzulassen. Gabriels Vater sagte damals zu der gemeinsamen, deutsch-jüdischen Jugendfreundin Sara:

Niemand ist, was er zu sein scheint. Niemals, denn selbst die simpelste Seele hat ein zweites Gesicht.“ Ja, sagte Sara, als Philosophie mochte das taugen, aber an Enriques Wesen, seiner Haltung, seiner Ausdrucksweise hatte nichts, rein gar nichts auf derlei hingewiesen. Für sie war es ein Verrat… Ein starkes Wort. Aber den Vater verraten ist etwas, was nur in der Bibel vorkommt.

Juan Gabriel Vásquez stellt alle Quellen seiner Geschichte in Frage, selbst seine eigene Haltung als Autor. Ist die Veröffentlichung von Informationen über das Leben anderer nicht auch eine Form von Verrat? Und wie muss öffentliche Erinnerung aussehen, wenn sie nicht moralisch überheblich sein will? Dieser Zwickmühle kann der Autor nur durch den Prozess des Schreibens selbst entkommen – wenn er sich und den Leser zwingt, auch den Standpunkt der jeweils anderen Seite einzunehmen.

Bei diesem Schreibprozess würde mein Vater für mich nicht länger die trügerische Gestalt sein, die er selbst angenommen hatte, sondern sein wahres Gesicht beanspruchen, wie es alle unsere Toten tun: indem er mir als Erbe die Pflicht mitgab, ihn zu entdecken, ihn zu interpretieren, herauszufinden, wer er wirklich gewesen war.

Psychogramm für Baden-Württemberg: "Der Ministerpräsident" von Joachim Zelter

Joachim Zelter: "Der Ministerpräsident", Roman, Klöpfer & Meyer Verlag Tübingen, 188 Seiten.



Dieses Buch ist nicht nur eine scharfe Satire auf den Politikbetrieb in Baden-Württemberg, auf die Selbstbedienungsmentalität der Politikerkaste im CDU-County, es ist auch ein feines und sehr menschliches Psychogramm des dort verheizten Spitzenpersonals. Bei Zelter wird ein Ministerpräsident menschlich, weil er einen Unfall hat und danach "nicht mehr er selbst ist", d.h. eine Gefahr für die hohle Politik der Selbstdarstellung der Parteikader.


Hier kann man Günter Öttinger reden hören und Stefan Mappus denken sehen. Wie diese Leute ticken, die scheinbaren Dauerpächter des Patriotismus, das hat Zelter erspürt und beschrieben wie sonst höchstens noch Manfred Zach. Der aber kam selbst aus dem inneren Zirkel der Macht. Joachim Zelter aber ist über jeden auch nur theoretischen Verdacht erhaben, sich da mit einem Gehirnvirus infiziert zu haben, wie er bei den Betreibern von Stuttgart 21 in Erscheinung tritt. Besseren Impfstoff gibt´s nicht.

Montag, 18. Oktober 2010

Stuttgart 21 - Interessenpolitik gegen Gemeinwohl

Der Ulmer OB Ivo Gönner (SPD) hat den Stuttgart-21-Vermittler Heiner Geißler kritisiert und dabei die gleichen geistlosen Wiederholungen schwacher "Argumente" benutzt wie sein zurückgetretener Parteifreund und Ex-Stuttgart-21-Sprecher Wolfgang Drexler. Es ist ganz einfach zu durchschauen: Gönner macht platte Interessenpolitik für die partikulare Gemeindschaft der Stadt Ulm und gegen Stuttgart - statt Politik für ein Gemeinwohl, das wirklich an einer größeren Gemeinschaft ausgerichtet ist, z.B. Baden-Württemberg. Ulm profitiert von einer besseren Verkehrsanbindung, hat aber dadurch weder Baustellen noch andere Risiken und Beeinträchtigungen zu befürchten wie Stuttgart.

Gönner hat also leicht reden und ist ein Regionalegoist erster Klasse. Eben diese Verwechslung von Interessenpolitik mit einer Politik fürs Gemeinwohl stellt ihn in eine Reihe mit Bauspekulanten, Unternehmern, die von dem Projekt Stuttgart 21 durch Großaufträge profitieren und Politikern von CDU und FDP, die in deren Aufsichtsräten sitzen oder bis vor kurzem saßen. Pfui Teufel! So sollte sich Baden-Württemberg nicht in verschiedene Intreressensgebiete auseinanderdividieren lassen - das würde nur denen nutzen, die ihre Nichtsnutzigkeit gerade deutlich beweisen. Wer das mit Demokreatie verwechselt, kann mir nur Leid tun.

Übrigens: Seit fast drei Wochen wartet die Öffentlichkeit vergebens auf Beweise für die angebliche Gewalt von Demonstranten, die am 30. September der brutalen Polizeieinsatz ausgelöst hat. Wie heuchlerisch sind Gesprächsangebote von Politikern, die diesen Einsatz und die dafür Verantwortlichen immer noch decken und sich dabei auf Recht und Gesetz berufen?

Statt Legalismus brauchen wir Gerechtigkeit. Das haben die Menschen begriffen - im Gegensatz zu FDP und CDU. Da helfen auch keine dümmlichen Statements von Justizministerin Leuthäuser-Schnarrenberger oder eines Verfassungsgerichtspräsidenten, eine Volksabstimmung zum jetzigen Zeitpunkt sei "verfassungsrechtlich problematisch". Erstens: Was soll das denn überhaupt heißen? Zweitens: Dann hätte man also schon lange vorher abstimmen können und sollen, aber OB Schuster hat das in Stuttgart schon 2007 persönlich verhindert. So beißen sich schwarze Katzen in den Schwanz. Und genau diese Spielchen haben die Leute satt.

Sonntag, 17. Oktober 2010

S 21 - Der Protest verändert sich

















Am Bauzaun Süd im arg verschandelten Schlosspark herrscht eine seltsame Stimmung. Ich bin kein Verehrer von Bäumen oder Anhänger von Naturreligionen. Aber an diesem Ort habe ich das Gefühl: Er ist heilig. Hier standen Jahrhunderte alte Bäume, die von gewalttätiger Entschlossenheit gefällt wurden. In früheren Blogs waren sie noch zu sehen. Jetzt ist der Boden zertrampelt wie ein Festplatz - man kann fast kein Gras mehr sehen. Und die Menschen gehen hier herum wie in einer Kirche: leise, in sich gekehrt, neugierig, aber respektvoll. Exakt das Gegenteil derer, die hier gewütet haben.

Hier fand am 30. September der "schwarze Donnerstag" stattt, als die Polizei mit Gummiknüppeln, Pfefferspray und Wasserwerfern, deren Inhalt man CS-Reizgas beigemischt hatte, Demonstranten aus den Böäumen schoss und auseinanderjagte, die sich den Baumfällarbeiten mit friedlicher Präsenz entgegenstellten. Es gab weit über 100 Verletzte, zwei liegen immer noch im Krankenhaus, einer wird wohl blind bleiben.

Ministerpräsident Mappus und OB Schuster haben seitdem Kreide gefressen. Aber Mappus stellt sich weiter hinter seinen Innenminister Heribert Rech, an dem die ganze Aktion vorbei gelaufen zu sein scheint. Es sieht so aus, als habe Mappus persönlich Einfluss auf den Einsatzbefehl genommen. Das wird aber wohl erst ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss klären, den die Grünen beantragt haben. Die SPD (Vorstand und Fraktion) wollten erst nicht mitziehen, weil zu viele führende SPD-Politiker in die Skandale um Stuttgarr 21 verwickelt sind. Aber gestern Abend forderte bzw. beschloss die große Mehrheit der Delegierten auf dem SPD-Parteitag in Ulm ebenfalls diesen Untersuchungsausschuss. Der wird jetzt also kommen. Damit wird es immer wahrscheinlicher, dass die CDU nach 60 Jahren die Macht in Baden-Württemberg verliert.
















Die Demonstration war auch am Samstag, dem 16. Oktober auf dem Stuttgart Schlossplatz wieder stark besucht - ca. 25 000 Menschen, aber das Zählen ist schwer bei so vielen Schirmen. Es regnete den ganzen Tag und die Leute froren bei Temperaturen unter 10 Grad. Und der Humor ist den Demonstranten immer noich nicht vergangen. Jeses Mal sehe ich neue, teils ausgesprochen witzuge Plakate und Transparente.

Das Volk ist eine Wand - und wer mit dem Kopf da gegen anrennt, muss wissen, was er tut.

Böse Geschichten, die das Leben schreibt

Quim Monzó: "Tausend Trottel", Erzählungen. Aus dem Katalanischen von Monika Lübcke. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a.M., 142 S., 17,90 €

Quim Monzó ist einer dieser Erzähler, die zu Hause in Barcelona längst jeder kennt. Sehr beliebt sind seine Radiosendungen und seine regelmäßige Kolumne in der Tageszeitung La Vanguardia. Bei uns erscheinen seine Bücher in der kleinen Frankfurter Verlagsanstalt, aus dem Katalanischen übersetzt von Monika Lübcke. Monzó, heute 57, hat als Kriegsreporter angefangen, und das mag auf seine Sicht der Welt, vielleicht auch seine Sprache abgefärbt haben. Die ist provozierend und melancholisch – mit einem ausgeprägten Sinn fürs Komische. Eine Kostprobe aus seinem neuen Prosaband „Tausend Trottel“ bietet die folgende Version der biblischen Verkündigungsgeschichte:

„Keine Angst, Maria. Du hast Gnade bei Gott gefunden und bekommst einen Sohn; ihm wirst du den Namen Jesus geben.“ Doch Maria sagt: „Wie, nein?“ Der Erzengel ist fassungslos. Maria bleibt hart. „Kommt gar nicht in Frage. Ich will nicht. Ich werde dieses Kind nicht bekommen.“

Das Buch versammelt 18 Kurz- und Kürzestgeschichten sowie die längere Erzählung „Der Frühling kommt“. Der seltsame Titel „Tausend Trottel“ ist ein Zitat aus diesem Text. Darin schmiedet ein altes Ehepaar im Heim Pläne für die sauberste Art des Selbstmordes. Ihr Sohn denkt in Tagträumen über Euthanasie nach, weil er das qualvolle Hinsiechen der „Tausend Trottel“ im Altenheim hilflos mit ansehen muss. Schmerzhaft klar ist die Sprache seiner  Zwickmühle der Gefühle zwischen Liebe und Wut gegenüber der Mutter:

"Sie stürzt im Bad, wenn sie vom Klo aufsteht – verliert dabei das Gleichgewicht und schafft es nicht, sich am Waschbecken festzuhalten, weil ihre Arme schon zu schwach sind – oder wenn sie ihren gerade gewaschenen BH auf einen Haken hängen will. Sie fällt hin, wenn sie das Bad verlässt, sie fällt hin, wenn sie sich auf einen Stuhl setzen will, und sie fällt, wenn sie vom Stuhl aufsteht. Sie fällt hin, weil ein Bein wegen einer Arthrose vollständig verbogen ist, die sie, als sich die ersten Symptome zeigten, nicht hat behandeln lassen, weil alle Ärzte Trottel sind."

Zwar erscheint der Vater als arbeitsscheuer Hypochonder und die einst starke Mutter als sparsames Arbeitstier mit manischen Zügen. Doch kein Wort stellt ihre Würde oder die Liebe des Sohnes in Frage. Monzó formuliert die Licht- und Schattenseiten der Existenz stets voller Mitgefühl – auch für wirklich schräge Typen.  Da verhilft ein renommierter Schriftsteller einem jungen Autor zu Ruhm, und der wird sein schlimmster Gegner. Da bemüht sich ein Prinz vergeblich, Dornröschen wach zu küssen, und schläft so erschöpft wie unbeachtet neben ihm ein. Da heiratet ein überzeugter Junggeselle seine todkranke Freundin, und sie blüht in der Ehe auf. Monzó stellt auch groteske Situationen ganz unangemessen sachlich dar, und gerade das erzeugt eine schmerzhaft übersteigerte Wirkung. Don Quijote lässt grüßen. Exemplarisch dafür ist der Dialog zwischen Schüler und Lehrer in der Kurzgeschichte „Ein Schnitt“:

„Ich wurde mit einer zerbrochenen Flasche angegriffen.“ Das Blut tropft aus seinem Hals und macht Flecken auf das weiße Hemd seiner Uniform. Auch der Kragen seiner Jacke ist voller Blut. „Aber Toni, so betritt man doch nicht das Klassenzimmer. Kannst du dich nicht richtig benehmen?“ „Herr Lehrer, Ferrán und Roger haben eine zerbrochene Flasche neben dem Getränkeautomaten gegriffen und mir in den Hals gestoßen und…“ „Toni, wie betritt man das Klassenzimmer?"

Man kann Kälte und Kleinlichkeit kaum eindringlicher auf den Punkt bringen. Solche sprachlichen Grotesken bedeuten eine große Herausforderung, der sich die Übersetzerin Monika Lübcke souverän stellt. Ähnlich ist es ihr mit dem bizarren Humor des Autors gelungen. Ob es um hohle Rituale bei Familientreffen geht oder das Reden über Bücher, die man nicht gelesen hat: Jeder Satz kratzt an der Fassade einer höchst oberflächlichen Bussi-Bussi-Gesellschaft, die nicht halb so zivilisiert ist, wie sie nach außen hin gern tut. Dieses Buch ist eine Sammlung kleiner literarischer Kostbarkeiten, sorgfältig lektoriert und auch handwerklich ein Schmuckstück – vom Druck bis hin zum künstlerisch wertvollen Umschlagbild von Neo Rauch.

Sonntag, 10. Oktober 2010

Bei Marion Poschmann sitzt jedes Wort

Marion Poschmann ist als Lyrikerin handwerklich außerordentlich versiert und formbewusst, gehört z.B. zu der Handvoll Autoren & Autorinnen deutscher Zunge, die heute noch wirklich überzeugende Sonette schreiben können, in originellen Endreimen, aber auch experimentell mit anderen Versformen und in freien Rhythmen. 

Rhythmen sind bei ihr aber stets mehr als bloß gebrochene Zeilen, sondern wiederholbare und erkennbare musikalisch-mathematische Einheiten (nur diese erkenne ich als Rhythmen an. Was ein Musiker nicht spielen oder singen kann, hat eben keinen Rhythmus).

Ein solches Sonett ist hier exemplarisch zitiert.


  
vage Aussichten

du hast mir Quallen, hast mir Bullaugen gegeben,
zwei runde Fenster in das unscheinbare Meer.
zu nah, daher zu fern. zu dicht. zu viel. zu sehr.
zu transparent. ich nahm nicht wahr, wie direkt neben

mir dieses Meer begann. ich sah die Quallen schweben,
sah ihren Körper kaum, ein blasser Sack, nicht mehr
erkennbar als ein Ding des Wassers. gläsern,leer
der blanke Hintergrund, an dem Gedanken kleben,

als käme Klarheit auf. als öffneten sich Fenster
auf das, was war, auf nichts. Erinnerungsgespenster,
zu ungreifbar, zu zart. die Blicke scheitern hier.

ein heller Wellenschlag wie ohne Oberfläche
verdeckt, was nichts ist als eine Gedächtnisschwäche,
ein schwimmendes Gesicht, schon innerhalb von mir.


Da gibt es perfekte und originelle Endreime, aber auch spannende Zeilen- und Strophenübergänge sowie großartige Bilder: Die Qualle als genaue Naturbeobachtung und zugleich Projektionsfläche für philosphische Reflexionen, die Augen als Bullauge zuzr Welt, ein „heller Wellenschlag“ etc.: Das ist wunderschön, tief und vielschichtig. 

 
Sie kann´s. Dass ich ein ganzes Kapitel Wort für Wort lesen kann, ohne etwas zum Kritisieren zu finden, ist für mich als Lyriker und Kritiker doch eine extreme Seltenheit.








Zäune im Land - Mauern im Kopf

Wir Deutschen haben Erfahrungen mit Mauern und Zäunen. Daher interessieren sich inzwischen auch die Medien unserer Nachbarländer dafür, was in Stuttgart passiert.
Dass mit solchen Machtdemonstrationen ein Bauprojekt wie "Stuttgart 21" durchgesetzt werden soll, das keine Mehrheit in der Stadt und vermutlich (so, wenn sich nichts ändert) im ganzen Land finden wird, macht nicht nur mich nachdenklich.
Organisierte Leserbriefkampagnen in der Presse sollen den Eindruck entstehen lassen, als stünden sich Gegner und Befürworter des Projekts inzwischen unversöhnlich und gewaltbereit gegenüber, als würden die Demonstrationen gegen das Projekt die Bevölkerung spalten. Das Gegenteil ist der Fall: Ich selbst habe jetzt vier Mal an Demonstrationen gegen S 21 teilgenonmmen und jedes Mal erfahren, wie der bürgerliche Widerstand ganz unterschiedliche Menschen zusammenbringt.
Hier, an diesem Tatort, treffen sich Befürworter und Gegner. Sie diskutieren, sie reden friedlich miteinander - sie tun genau das, was die Deutsche Bahn und die politische Führung bestreiten und verweigern. Weil sie Fakten schaffen wollen, eine behauptete "Unumkehrbarkeit" tatsächlich herbeiführen wollen, während angeblich offene Gespräche ohne Bedingungen stattfinden sollen.
Diese Tricksereien von Winkeladvokaten über die Frage, was ein Baustopp sei, was ein vorläufiger Baustopp und was ein "Innehalten" - genau das verdirbt die Atmosphäre, führt zu Misstrauen und zerstört die politsche Kultur in diesem Land. Ich bin gespannt, ob Heuiner Geissler das in die Köpfe von Leuten hinein bekommt, die sich selbst durch unhaltbare Positionen und falsche Nibelungentreue unter einen enorme Druck gesetzt haben.

Donnerstag, 7. Oktober 2010

Stuttgart 21: Offener Brief an Stefan Mappus

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Stefan Mappus, 
Sehr geehrter Herr Innenminister Heribert Rech!

Ich bin entsetzt über den brutalen Einsatz der Polizei gegen 
tausende Bürgerinnen und Bürger, die friedlich gegen "Stuttgart 
21" demonstrierten. Dass dies auf die Falschmeldung hin geschah,
die Einsatzkräfte würden mit Steinen beworfen, ist inzwischen 
erwiesen. Ich forde Sie dringend auf: Wenden Sie weiteren 
Schaden von unserer repräsentativen Demokratie ab, indem Sie 
umgehend Methoden abstellen, die wir bisher nur aus dem 
Repertoire so "lupenreiner Demokraten" wie Silvio Berlusconi, 
Hugo Chavez oder Wladimir Putin kennen! 
 
Es ist eine Schande und sehr wohl eine Gefahr für unsere 
repräsentative Demokratie, wenn ihre Repräsentanten 
fortwährend die Gegner des Projekts Stuttgart 21 
diffamieren, wie orientalische Potentaten penetrant jedes 
Mal die nach Klickzählung ermittelte Zahl der Demonstranten 
halbieren lassen oder Gerüchte streuen lassen, um 
Projektgegner einzuschüchtern.

Niemals haben z.B. Lehrer Schüler instrumentalisiert; niemals 
haben "Parkwächter" Jugendliche dazu verführt, die genehmigte 
Route ihrees Demonstrationszuges zu verlassen; niemals sind 
Demonstranten gegen Polizisten gewalttätig geworden. 
Anscheinend muss ich Sie daran erinnern, das laut Aischylos und 
Gandhi ziviler Ungehorsam gegenüber Anweisungen staatlicher 
Autorität sittlich geboten und eine BÜRGERPFLICHT ist, wenn 
diese Anweisungen den Boden der Gesetze oder unserer 
moralischen Grundwerte verlassen. 
 
Nicht jeder Befehl eines Uniformierten ist zu befolgen: Ich 
weiß das als jemand, der Philosophie und Theologie studiert 
und seinen Wehrdienst bei der Bundeswehr geleistet hat. Ich 
habe gelernt, wann ein Befehl verweigert werden darf. Und hören 
Sie endlich auf, zu glauben, die Bürger wüssten das nicht. 
Ich halte es für den Gipfel der Scheinheiligkeit, wenn Sie 
"alle Beteiligten" auffordern friedlich zu sein, und genau 
wissen, dass die Gewalt bisher ausschließlich von Ihnen oder 
Ihren Untergebenen ausgegangen ist. 
 
Herr Rech, tragen Sie die politische Verantwortung für den 
brutalen Polizeieinsatz und treten Sie umgehend zurück!

Herr Mappus, es ist besser, Sie verlieren Ihr Gesicht als 
jedes Maß und die einzige Chance, Ihre politische 
Glaubwürdigkeit wieder zu erlangen: erlassen Sie sofort 
einen vorläufigen Baustopp für "Stuttgart 21" und ebnen 
Sie den Weg zu einem Volksentscheid über das Projekt! 
Nur so kann der Graben quer durch Baden-Württemberg 
überbrückt werden.

Mit freundlichen Grüßen,

Widmar Puhl

Donnerstag, 30. September 2010

Polizei riegelt Stuttgart-21-Gelände ab - Reizgas gegen friedliche Demonstranten

Wer Wind sät, wird Sturm ernten

Stuttgart (dpa, 30. September 2010, 12.10 Uhr) - "Der Konflikt um das Milliarden-Bahnprojekt Stuttgart 21 spitzt sich weiter zu. Mit einem Großaufgebot hat die Polizei damit begonnen, einen Teil des Schlossgartens abzusperren. Dort sollen die ersten von insgesamt 300 teilweise uralten Bäumen für den Umbau des Hauptbahnhofes gefällt werden. Auch der Landtag wurde abgeriegelt. Parkschützer kündigten massive Proteste und Widerstandsaktionen an."

Eigene Anmerkungen:

Ich habe einen Traum, und darin haben Hunderttausende schweigender Menschen einen waffenstarrenden Kordon aus Bereitschaftspolizei und Wasserwerfern umringt. Die Stadt ist schwarz von Menschen. Die Arbeit ruht. Die Bewohner Stuttgarts wollen sich ihren Lebensraum und die Zukunft ihrer Kinder nicht kaputt machen lassen. Und sie weigern sich nicht nur, der Maschinerie der Verdummung nachzugeben, sondern auch, zur Verteidigung ihrer Rechte und ihres Vermögens Gewalt anzuwenden. Sie halten sich an Mahatma Gandhis Wort "Wenn die Staatsmacht den Boden des Rechts verlässt, ist Widerstand staatsbürgerliche Pflicht". Wer Gewalt anwendet, weil er nicht überzeugen kann, hat in einer Demokratie das Recht verloren, das Volk zu repräsentieren.

Die Leute, die jetzt Gewalt gegen das Volk predigen, werden spätestens nach der Landtagswahl im März 2011 dafür zur Rechenschaft gezogen. "Wir sind das Volk!", rufen die Menschen auf den Straßen nicht von ungefähr: wie in der DDR hat sich eine Clique die Macht geteilt und versucht, das ganze Land untereinander zu verteilen. Aber es ist unser Land - und kein Selbstbedienungsladen.
 
Bisher hatte sich keine Firma gefunden, die bereit war, auf die Ausschreibung der Deutschen Bahn AG für die Baumfäll-Aktion einzugehen. Denn laut Ausschreibung müssen Bewerber darüber strengstes Stillschweigen bewahren und für alle Sicherheitsmaßnahmen und Absperrungen selbst aufkommen - ein Irrsinn angesichts Zehntausender aufgebrachter Bürger. Selbst die Polizei hate angekündigt, auf den Einsatz von Wasserwerfern verzichten zu wollen. Was von der Ankündigung des Polizeipräsidenten zu halten war, zeigte der Einsatz von CS-Reizgas in der Ladung von Wssserwerfern, mit denen eine Schülerdemonstration auseinandergertrieben wurde. - Ein Offenbarungseid der Politik und ein Kniefall vor Privatisierungsmanagern wie Bahnchef Grube. Die Geschichte wird diesem Vorgang die Bezeichnung geben, die er verdient: verbrecherisch.
 
Das Großaufgebot aus Baden-Württtemberg wird verstärkt durch Bereitschaftspolizei aus Nordrhein-Westfalen, Reinland-Pfalz (SPD-regiert), Hessen und Bayern. So demonstriert Innenminister Heribert Recht (Baden-Württemberg) eine unangemessen aggressive Staatsmacht zur Einschüchterung friedlicher Demonstranten. - Bahn und Landesregierung halten anscheinend Feuer an die Lunte und wollen gewalttätige Zwischenfälle provozieren. Aufrufe der Parkschützer im Internet fordern dazu auf, sich nicht darauf einzulassen und notfalls massenhaft und persönlich deeskalierend einzuschalten.

Donnerstag, 23. September 2010

Spießbürger

In der "Stuttgarter Zeitung" vom 21. September schreibt die Kolumnistin Sibylle Krause-Burger im Zusammenhang mit der Diskussion um das Buch von Thilo Sarrazin, viele Leute in diesem Land hätten Angst vor einem Heimatverlust: "Nicht etwa in dem engen Sinne der möglichen Zerstörung des kleinen Gärtchens vor dem kleinen Häuschen, in einem kleinen Spießerleben".

Hoppla: Wieso ist eigentlich das Wort "Spießer" immer negativ besetzt? Spießbürger waren im Mittelalter die hoch geehrten Mitglieder jener Milizen und Bürgerwehren, die Städte unabhängig machten von Adel und Ritterstand oder gar Söldnern. Erst die Spießbürger machten eine freie Reichsstadt möglich oder Sicherheit, die in unruhigen Zeiten weiter oben sowieso niemand garantieren konnte oder wollte. Wehrhafte Demokraten sollte man so nicht nennen? Eigentlich müsste "Spießbürger" ein Ehrentitel sein.

Wider die Brandstifter

















Hier tobt in der knappen Freizeit der Bürgerprotest gegen Stuttgart 21: ein wunderbares Erwachen der schwäbischen Gemütlichkeit ("bloß in nix reinkommen") zum Aufstand des Establishments (erinnert mich irgendwie an Max Frisch "Graf Öderland"), wunderbar erklärt dies ganzseitig dien Süddeutsche Zeitung vom 20. September, aber billiger und mit Bildern dieserBlog.

Die Leute nehmen zu zig-Tausenden öffentlich übel, dass man ihren sachkundigen Protest als Verachtung der Demokratie diffamiert. Sie wollen bloß einfach nicht hinnehmen, dass man ihre Stadt für 20 Jahre unbewohnbar macht, unkalkulierbare Risiken zwecks Spekulantentum eingeht und Milliarden für einen Blödsinn verschwendet, den keiner braucht, während sonst überall das Geld fürs Nötigste fehlt.

Die Befürworter sind ahnungslos oder ausgerechnet die Leute, die demokratische Prozesse seit Jahrzehnten gewohnheitsmäßig manipulieren und jetzt davon phantasieren, der Protest beschädige die repräsentative Demokratie. Wir sind auf einem guten Weg, diese "Repräsentanten" loszuwerden. Die Protestierer sind in dieser Auseinandersetzung einfach die besseren Demokraten und Patrioten. Das spüren die unsensiblen Befürworter und reagieren wie die Angstbeißer der untergehenden Adenauer-Ära.

Hörfunk-Autoren 2010

Dies ist keine Polemik
…sondern eine sachliche Beschreibung der Arbeitsbedingungen bei SWR2

Seit ca. 30 Jahren arbeite ich für den SWR, und schon sehr lange bei SWR2. Bereits wenige Jahre nach der „Wende“ von 1989 machte ich die Erfahrung, dass ich als Autor allein von meiner Arbeit nicht leben kann, und bemühte mich erfolgreich um eine Teilzeitarbeit im redaktionellen Dienst, die mir aber noch Zeit zum Schreiben ließ. Und nach einigen schwierigen Jahren hatte ich einen Modus gefunden, irgendwie als Wochenend-Pendler diese berufliche Zweiteilung zu bewältigen. Die Basis: erst 8 Tage im Monat, dann 2 Tage die Woche Redaktionsdienst zu einem annehmbaren Tagessatz. Der Rest war frei fürs Schreiben.

Vor zwei Jahren erlitt meine Frau den zweiten schweren Hörsturz und erhielt kurz darauf die Diagnose „Menier-Synrom“ – etwa vergleichbar der Bedrohung durch permanent wiederkehrende Anfälle von schwerem Drehschwindel und Übelkeit. Außerdem ist sie seitdem auf dem rechten Ohr taub. Sechs Wochen danach bekam ihr Sohn mit 46 Jahren einen schweren Schlaganfall, verlor seine kleine Firma und wurde zum Pflegefall Stufe 1, um den man sich auch dann immer wieder kümmern muss, wenn seine Lebensgefährtin heroisch zu ihm hält.

In dieser Situation war ich monatelang außerstande, auch nur eine Rezension zu schreiben. Was aber nach wie vor funktionierte, waren Redaktionsdienste. Mit Termindruck, Routine und kurzen Moderationen war ich keineswegs überfordert. Also bat ich meine Vorgesetzten um die Möglichkeit, drei statt wie bisher zwei Tage in der Woche redaktionell zu arbeiten – und hatte mitten in der Finanzkrise das große Glück, auf Verständnis, Solidarität und praktische Hilfsbereitschaft zu stoßen. Ich will daher auf keinen Fall undankbar sein, denn SWR2 gibt mir die Möglichkeit, meiner Familie in schwierigen Zeiten mehr Sicherheit und Stabilität zu bieten als bisher. Unter diesen Voraussetzungen erholte sich auch meine Fähigkeit zum kreativen Schreiben wieder. Sie zu nutzen, ist aber nicht leichter geworden.

Denn das Umfeld wird von Jahr zu Jahr ungünstiger für Autoren. Damit sind nicht nur steigende Mieten in Löchern für Pendler, steigende Spritkosten, immer schlechtere Bahnverbindungen und die Streichung der Arbeitszimmerpauschale gemeint. Obwohl der öffentlich-rechtliche Rundfunk der ARD und dort wiederum speziell SWR2 im Vergleich mit Privatsendern und den meisten Tageszeitungen noch relativ gut gestellt ist, bleiben 30 Jahre kontinuierlicher Sparzwänge, Deckelungen und restriktiver Personalpolitik nicht folgenlos.

Inzwischen produziere ich z. Beispiel als Alleinredakteur (mit Urlaubsvertretung, aber ohne Assistenz und ohne einen zweiten Menschen, der auch wechselseitig die Sendeplanung übernehmen und mit dem ich Dienste tauschen könnte) pro Woche 7 radiophone „Kulturtipps“: Kolumnen a 3 Minuten mit Infos, Musik und O-Tönen zu kulturellen Veranstaltungsterminen aus dem ganzen Sendegebiet: 5 Werktage in "SWR2 Kulturservice" + Freitag / Samstag die Kulturtipps im "SWR2 Journal am Mittag".

Immer wieder bekomme ich zu hören, wie wichtig meine Arbeit sei. Aber in Wahrheit will meine Arbeit bloß kein anderer machen. Dass ich niemanden zur Seite habe, liegt nur zum Teil daran, dass SWR2 zu arm für eine zweite Teilzeitstelle bei den Kulturtipps ist. Anfangs waren wir zwei, doch mein fest angestellter Kollege fand vor vier Jahren eine weniger stressige und interessantere Arbeit. Ersatz gibt es nicht.

Bezahlt werde ich in der Regel für 3 Tage die Woche. Das Sendegebiet reicht von Konstanz im Westen bis Aalen im Osten und von Ulm im Süden bis Trier im Norden. Da sämtliche relevanten Kulturveranstalter im Blick zu behalten, bedeutet unendlich viel Kommunikation: Allein die ganzen Monatsprogramme und Pressemitteilungen wollen gelesen sein, von Kontakten und Rückfragen per Telefon oder E-Mail ganz abgesehen. Hier wäre Entlastung durch eine Assistenz an einfachsten, aber es gibt kein Geld dafür.

Zwischendurch soll ich möglichst viele Features recherchieren, schreiben
und schneiden (ca. 3 im Jahr), weil die auch im Haus gut ankommen. Aber
schreib mal einer größere Sachen, wenn man nur 1- 1,5 Tage pro Woche dafür freischaufeln kann und dann wieder für eine Woche unterbrechen muss. Es ist eine elende Schinderei mit viel Zeitverlust. Dazu kommen regelmäßig einzelne
Beiträge (Künstlerporträts, Rezensionen, "Zeitwort"-Kalendergeschichten),
die in manchen Monaten jeden Tag ohne Redaktionsdienste ausfüllen. Ja, als Autor bin ich seit Mitte 2009 wieder voll da und „gut im Geschäft“.

Aber was heißt das? Voriges Jahr hatte ich einen Gesamtumsatz von ca.
45.000 EURO, zumeist durch lohnversteuerte Redaktionsdienste. Für die muss ich teuere Pendelfahrten und Übernachtungen in Baden-Baden in Kauf nehmen. Aber ich sehe auch meine Kollegen jede Woche und fühle mich grundsätzlich besser integriert und einem Team zugehörig.

Als Autor hatte ich 8.000 EURO Umsatz (von 45.000), aber davon gingen viele Kosten ab für Reisen zu Recherchen bzw. Tonaufnahmen, Arbeitsmaterial, Fachlektüre, etc: das Übliche halt. Blieb ein Gewinn von ca. 900 EUOR, aber von dem will das Finanzamt 960 Nachzahlung: die Progressionsfalle, sagt achselzuckend der Steuerberater. Obwohl also angeblich die Progression für Durchschnittsverdiener gelindert wurde und jeder mehr netto behalten soll, ist meine Autorentätigkeit finanziell ein Zuschussgeschäft. Ich denke nun darüber nach, wie ich diesen Stress vermindern kann.

Jedes Vierteljahr, wenn die Umfragewerte der Media kommen und uns wieder mehr Hörer bescheinigen, werden wir für unser Engagement und die tollen Sendungen gelobt. Wir Radioleute arbeiten inzwischen auch als Internet-Fotografen, Blogger und Podcaster. Freie Autoren schneiden ihre Beiträge grundsätzlich selbst, weil wir sonst keine Aufträge mehr bekämen und der Sender mehr Tontechniker beschäftigen müsste. Während beim WDR Autoren fürs Schneiden und selbst Produzieren der Beiträge bzw. Sendungen einen Zuschlag von 20 % erhalten, gibt es dafür beim SWR nichts. Kürzlich wurde beschlossen, dass es für die (verlangten) Pressetexte zu SWR2-Wissen-Features kein Honorar mehr gibt.

In vielen Redaktionen werden Reisekosten überhaupt nicht übernommen, in anderen seit 20 Jahren auf eine lächerliche Pauschale von 200 EURO gedeckelt. Die Ansprüche an Sendungen und Beiträge steigen ständig, aber ihre Erfüllung darf nichts kosten. Irgendwann muss man dann einfach weniger senden. Und das geschieht seit einigen Jahren durch lange Wiederholungsstrecken und günstige Übernahmen im „ARD Sommerfestival“ von 20-24 Uhr in den Sommerferien. Das Niveau der einzelnen Sendung nimmt dabei tatsächlich nicht ab, nur die Vielzahl der Sendungen und damit die Vielfalt der Stimmen. Die aber ist derzeit anscheinend kein Merkmal von Qualität mehr – auch in der ARD.

Im Sommer 2010 beschloss die Geschäftsleitung, dass alle Programme in den nächsten zehn Jahren 15 Prozent aller Programmkosten einsparen müssen, SWR2 aber 25 Prozent. Kultur gilt wohl immer noch als „privilegiert“. Wir sind nämlich die einzigen im SWR, die noch den gesetzlichen Auftrag zur „Grundversorgung“ erfüllen.

Sonntag, 12. September 2010

Wolfgang Hilbig, ein DDR-Autor schlechthin

Wolfgang Hilbig: Werke, Band II. Erzählungen und Kurzprosa. Mit einem Nachwort von Katja Lange-Müller. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 768 S., 26,95 EURO.

Beim S. Fischer Verlag ist der zweite Band der Werkausgabe des 2007 verstorbenen Wolfgang Hilbig erschienen: „Erzählungen und Kurzprosa“. Das Buch ist 767 Seiten dick und enthält 52 Texte, 13 davon bisher unveröffentlicht. Nicht aufgenommen wurden die drei langen Erzählungen „Die Weiber“, „Alte Abdeckerei“ und „Die Kunde von den Bäumen“, die für den nächsten Band vorgesehen sind. Und außerdem fehlen Texte, die nach Ansicht der Herausgeber in die Kategorie „Essays“ gehören. Insgesamt sieben Bände sollen es werden, aber zu Recht gelten Hilbigs Erzählungen als sein Hauptwerk: über 30 Jahre hat er kontinuierlich daran gearbeitet.

Denn ein Arbeiter war Wolfgang Hilbig: erst Industriearbeiter und dann Schreibarbeiter in der DDR. Der Unterschied war für ihn riesig und doch auch wieder geringfügig. Er tat sich schwer als so genannter „Arbeiterschriftsteller“ und beschrieb eher, was faul war im angeblichen Paradies der Werktätigen. Aber auch den Kritikern im Westen hat er im Nachlass noch ein Kuckucksei ins Nest gelegt. Wer sein Buch von vorne bis hinten liest, stößt erst ganz am Ende darauf. In der Erzählung „Die Nacht am Ende der Straße“, der einzigen aus dem Nachlass, die mit dem Jahr 2005 ein jüngeres Entstehungsdatum trägt, heißt es:

Meist waren seine Bücher in den Feuilletons gut besprochen worden, ein paar davon sogar ausnehmend gut; so war es, und es gab nur wenige Ausnahmen von dieser Regel, aber er meinte, er kenne seine Bücher besser als die Feuilletonisten, die allesamt so gut wie dasselbe über ihn schrieben … die bei jedem neuen Buch immer wieder auf seine blutigen Anfänge zurückkamen, so als schrieben die Feuilletonisten nur von den Feuilletonisten ab, die vor ihnen an der Reihe gewesen waren, so als habe er nie irgendwann eine Entwicklung durchgemacht … und wenn er darüber nachdachte, dann musste er ihnen wohl oder übel recht geben. ... Er war an alldem selber schuld.

Wie sperrig dieser Mensch war, wie grüblerisch: fast immer unentschieden schwankend zwischen Vorwürfen und Selbstvorwürfen. Stilistisch bewegte er sich zwischen genialen Einfällen und gewollt quälend ungelenken Sätzen, immer wieder abbrechend und neu ansetzend. Sein letzter Text, „Die Nacht am Ende der Straße“, setzt sich mit einer Schreibblockade auseinander, unter der er seit den Anschlägen vom 11. September 2001 litt.

In der für ihn typischen, unauflöslichen Mischung aus Fiktion, Reflexion und Autobiographie fragt er nach dem Unterschied zwischen Schreiben-Müssen, Schreiben-Wollen und Schreiben-Können. Nicht ohne Galgenhumor stellt er fest, dass er seit Jahren nur noch mit seinem Zigarettenkonsum über dem Durchschnitt liege. Und einem interessierten Leser gesteht er nach einer Flasche Wein:

Ich kann dir verraten, dass ich nur stocknüchtern schreiben kann. Ich weiß nicht, wie es angefangen hat, wann oder wie; ich weiß noch nicht mal, ob ich saufe, weil ich nicht schreibe, oder umgekehrt, ob ich nicht schreibe, weil ich angefangen habe zu saufen … das ist, so nennt man das wohl, der ganze Teufelskreis.

Wolfgang Hilbig war der Sohn eines Bergarbeiters, der nicht aus dem Krieg zurückkam. Der Junge wuchs als Schlüsselkind auf und trieb sich viel in den Braunkohle-Tagebaugruben der Umgebung herum: ein schwieriges, einsames Kind, das schüchtern war und doch „ein überwältigendes Verlangen nach Zärtlichkeit“ spürte. Die Landschaften dieser Kindheit durchziehen Hilbigs Prosa nicht nur als Kulisse; sie sind integraler Bestandteil eines Porträts der DDR, eigentlich eine zweite Hauptfigur neben dem Erzähler. Noch als er längst in Edenkoben in der Pfalz lebte, schrieb Hilbig:

Obwohl ich schon seit einigen Jahren hier lebte, schrieb ich immer weiter über die horizontweit sich erstreckenden Mondlandschaften im Süden von Leipzig, immer weiter über die kleine Industriestadt, in der ich geboren worden war, die umgeben war von Tagebauen, aus denen einst, bis in unergründliche Tiefen hinab, die Braunkohle gefördert worden war.

Hilbig arbeitete als Dreher und Hüttenarbeiter in der Leipziger Metallindustrie. Ab 1964 begann er Gedichte und Erzählungen zu schreiben, von denen aber die meisten in der DDR nicht gedruckt werden durften. Eigentlich entsprachen sie dem Ideal des sozialistischen Realismus, zeigten aber auch eine tiefe Verstörung angesichts der Zerstörungen, die Menschen und Natur durch die sozialistische Arbeitswelt erlitten. Erst wenn man diese Erzählungen im Zusammenhang liest, erkennt man darin auch den Kampf gegen den eigenen Schatten, die Suche nach der eigenen Persönlichkeit. Mögliche Einflüsse ergeben sich aus Hinweisen darauf, was der Autor so las:

Bücher, die ich vor zwanzig Jahren verschlungen hatte: Stevenson, Poe, ein paar angloamerikanische Kriminalromane, und Byrons Vampir-Fragment – ohne die Fortsetzung von Polodori –, das ihn wegen der lichtlosen Stimmung, die darin zum Ausdruck kommt, immer wieder staunen ließ. Diese wenigen Seiten hatten ihm, vor vielen Jahren schon, öfters zum Vorbild für eigene Produkte gedient, allerdings hatte diese Vorlage mehr dahin gewirkt, dass er in seinen Entwürfen ebenso fragmentarisch blieb.

Hilbigs Prosa ist bar jeder Erotik oder Lebensfreude, depressiv und grau, wie es sein Leben und die historischen Umstände seines Schreibens waren. Sein beharrliches Insistieren auf dieser Sicht der Dinge machte die Kulturfunktionäre der DDR wütend und viele Leser im Westen ratlos. Nicht zufällig sind Hilbigs Figuren – mal als „Ich“, mal als „Er“ bezeichnet – immer Außenseiter auf der Suche nach Orientierung und Identität. Sie kämpfen gegen die Windmühlenflügel eines übermächtigen Systems oder einer gespaltenen Wahrnehmung. Tief beeindruckt war Hilbig von Kafkas Erzählung „Kinder auf der Landstraße“:

Ich sah plötzlich mich; das erste Mal in meinem Leben fand ich mich beschrieben. Und ich erkannte auf der Stelle, was hier geschah: die Literatur antwortete dem Leben… Dies war meine letzte Erfahrung mit der Sprache, und ich gab es auf, wie das Leben zu schreiben, da ich doch Literatur wollte.

Oft spiegeln sich literarische Kunstfiguren und Doppelgänger so in der Biographie des Autors Wolfgang Hilbig, dass man nicht zwischen Original und Spiegelbild unterscheiden kann. Das macht die Lektüre nicht einfach, wie auch manche Schreibweisen des Autors, oder das Schwanken zwischen Erinnerung, Alptraum, Fiktion und Reflexion. Wer aber durchhält, den belohnen unglaublich dichte Eindrücke und Bilder, die bleiben.

Samstag, 11. September 2010

69 000 gegen Stuttgart 21

Demonstranten gegen Stuttgart 21 vor der CDU-Zentrale

Sehen so Anarchisten und Chaoten aus, vor denen man sich fürchten muss? Die Stuttgarter CDU-Zentrale am Rotebühlplatz war am vergangenen Freitag von einem starken Polizeiaufgebot gesichert (die grünweißen Mannschaftswagen verschwinden hier hinter den Menschenmassen). Die Parteifunktionäre hatten das Haus verrammelt und nahmen nicht einmal einen offenen Brief des Aktionsbündnisses entgegen, in dem sie zu Verhandlungen an einem runden Tisch eingeladen werden.

Es gibt einen Passus in der Landeverfassung von Baden-Württenmberg, der besagt, dass eine Volksbefragung nur möglich ist, wenn man binnen 14 Tagen 1,2 Millionen Unterschriften dafür beibringt: ein Gesetz, das dazu geschaffen wurde, nicht zu funktionieren. Das stammt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als man begründete Angst davor hatte, dass ein aufgehetzter Mob die demokratische Staatsmacht beschädigt. Heute ist es wohl eher so, dass einige Leute dieses System missbrauchen, um die repräsentative Demokratie zum Selbstbedienungsladen zu machen. Aber auch für gewählte Politiker gilt: Es gibt kein Ermächtigungsgesetz.