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Sonntag, 21. Dezember 2008

Ein großer Roman

SWR2 Buchkritik:
Rafael Chirbes: "Krematorium". Roman, Verlag Antje Kunstmann, München, 430 S., 22 €

Keiner der Romane von Rafael Chirbes hat eine Handlung im herkömmlichen Sinn. Auch „Krematorium“ nicht. In diesem Roman zeichnet der Autor 30 Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur ein düsteres Bild seiner Generation. In den wenigen Stunden zwischen dem Tod des Ökobauern Matías und der Trauerfeier bilden die Hinterbliebenen einen Chor widersprüchlicher Erinnerungen und Abrechnungen: 13 Kapitel ohne Absätze, sechs verschiedene Perspektiven.

Arena für diesen Showdown der Lebensbilanzen ist Misent – ein Dorf bei Alicante, ähnlich dem Dorf, in dem der Autor geboren wurde und ähnlich dem, in dem er heute lebt. Durch den Massentourismus verschandelt, sind diese „Urbanisationen“ zugleich Symbol des spanischen Wirtschaftswunders und des Preises, den die Menschen dafür zahlen. Das Buch erzählt daher weniger von Massentourismus oder Umweltsünden als vom Verlust des Glaubens und der Zerstörung der Seelen.
Hauptfigur ist der 73jährige Baulöwe Rubén Bertomeu, der ältere Bruder von Matías, groß geworden durch Immobilienspekulation und Mafiamethoden. Dieser Rubén ist ein fleischgewordenes Ausrufezeichen des Sozialdarwinismus ohne jedes Unrechtsbewusstsein. Der frühere Sozialist hat, enttäuscht von der Demokratie, das Geld über alles gesetzt, für ihn das einzige Tor zur Freiheit:

"Das Geld gilt immer mehr als die Ideen, weil es sie in seinen Dienst stellen kann."

Doch wo Chirbes ihn als Kunst- und Bildungsreisenden oder Gourmet schildert, wird sogar dieser Kerl sympathisch in seiner Beredsamkeit und bauernschlauen Lebenserfahrung. Schon in dem Roman „Alte Freunde“ beschrieb Chirbes so einen Typ, der ganz prima erklären konnte, wieso er irgendwann zum Immobilienhai werden „musste“. Und doch zeigt Rubén echte Gefühle:

"An Mónica geschmiegt einschlafen, meine Beine zwischen den ihren, Fleisch an Fleisch, Fleisch gegen den Tod, Wärme gegen den Tod und seine Gespenster. Die Worte des Arztes klingen wieder in meinem Schädel: Er ist klinisch tot, und auf einmal bin ich gerührt. Der Blick verschwimmt, und ich fange an zu weinen. Ich heule im Auto und kann kaum den Verkehr zu meiner Linken wahrnehmen."

Chirbes verurteilt keine seiner Figuren; die entlarven sich vielmehr selbst. Während Rubén auf dem Weg von der Klinik zur Trauerhalle im Stau steckt, steht seine junge Frau Mónica vor dem Badezimmerspiegel. Was noch niemand weiß: sie ist schwanger. In ihre Gedanken über Fitness und Schönheit als Invesitionsgut mischen sich schadenfrohe Kalkulationen über die Veränderung der familiären Vermögensverhältnisse durch einen männlichen Erben für Rubén. Die Nachricht will sie auf der Trauerfeier verbreiten.

Dann Federico Brouard: Der einst erfolgreiche Schriftsteller und Jugendfreund von Rubén versinkt in Suff und Selbstmitleid. Erst kürzlich hat er Rubén sein Grundstück verkauft, weil er von seinen Büchern nicht mehr leben konnte. Er verehrte Matías, weil der soziale Gerechtigkeit, Umweltbewusstsein und Kultur zu verbinden suchte. Doch der Verstorbene entpuppt sich als einstiger Möchtegern-Stalinist und seine ganze Öko-Masche als Flucht vor der Realität.

Auch Rubéns heftigste Kritikerin, seine Tochter Silvia, nimmt sein Geld und hat ihre Kinder zu kalten Materialisten erzogen. Ähnlich schlecht wie Rubéns Ex-Freund Brouard, seine Enkel oder Silvia kommt seine steinalte Mutter weg: Deren Lebensinhalt ist es, anderen das Leben schwer zu machen, ihre einzige Äußerungsform ein „imperatives Krächzen“.

Chirbes untermauert diese Autopsie der Gesellschaft mit zahllosen Zitaten und Anspielungen aus Literatur, Musik, Kunst und Philosophie. Gleichsam noch am Seziertisch feiert Chirbes die großen Leistungen europäischer Kultur. Der moralische Verfall ist umfassend. Ein beklemmender Existenzialismus macht sich breit: Im Tod wie im Leben ist jeder allein, es gibt keine echte Gemeinschaft. Doch inmitten dieses Requiems halten sich hartnäckig Anzeichen für Lebensfreude und eine reinigende Kraft der Trauer: einfühlsame Anteilnahme, eine unverwüstliche Sinnlichkeit, eine menschliche Nähe, die niemals Anbiederung wird.

Mit diesem Roman lässt Chirbes sein bisheriges Generalthema Franco hinter sich und ist endgültig in Europa angekommen. Seine großartigen inneren Monologe beschwören etwas, das uns alle angeht: das Scheitern großer Ideale, die Korruption der Hirne und Herzen. Er tut das vielstimmig – zornig und traurig, mal brutal und mal sehnsüchtig, manchmal auch ausgesprochen witzig.

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