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Sonntag, 21. Dezember 2008

Sehr orientalisch, sehr deutsch, brandktuell

SWR2 Buchkritik:

Rafik Schami: "Das Geheimnis des Kalligraphen", Roman. Hanser Verlag, München, 459 S., 24.90 €

„Das Geheimnis des Kalligraphen“, der neue Roman des in Deutschland lebenden und deutsch schreibenden Syrers Rafik Schami, beginnt mit einem Gerücht: Nura, die schöne Frau des angesehenen und wohlhabenden Kalligraphen Hamid Farsi, sei geflüchtet. Und wie sich der Anfang dieser Geschichte an einem frühen Morgen in Damaskus entwickelt, das ist auch eine Stilfrage. Da enztwickeln sich Bilder im Kopf des Lesers:

"Als die Apotheker, Uhrmacher und Antiquitätenhändler gemächlich ihre Läden aufschlossen, ohne besondere Geschäfte zu erwarten, hatte das Gerücht das Osttor erreicht, und weil es bis dahin zu einem gewaltigen Gebilde angewachsen war, passte es nicht durch das Tor. Es prallte auf den steinernen Bogen und zerplatzte in tausendundeinen Fetzen, die lichtscheu wie Ratten durch die Gassen huschten und die Häuser aufsuchten."

Wie alle guten orientalischen Erzähler kommt Rafik Schami auch in seinem Roman „Das Geheimnis des Kalligraphen“ vom Hölzchen aufs Stöcken, und ich weiß kaum, was mir lieber ist: die Hölzchen oder die Stöckchen. Schami erzählt vom Scheitern einer Ehe und vom Entstehen einer Liebe im Damaskus des Jahres 1956. Außerdem erzählt er die Geschichte der arabischen Kalligraphie in Umrissen. Jeder dieser drei Erzählstränge ist explosiv, weil Hamid Farsi nicht irgendwer ist, sondern ein Genie in seinem Fach. Er hat Freunde und Feinde in den höchsten Kreisen der Islamgelehrten und der Politik, wo sich Geheimbünde von Fundamentalisten und Aufklärern bis aufs Messer bekämpfen. Hinzu kommt, dass er nichts von Frauen versteht und seine schöne Nura bald nach der Hochzeit zur Haushälterin degradiert. Als sie sich in einen anderen Mann verliebt, ist es ausgerechnet Sal-man, der christliche Lehrling ihres Mannes. Auch das kann eigentlich nicht gut gehen.

Gefahr würzt manche Liebesgeschichte ebenso wie das sonst eher langweilige Leben vieler Künstler und Aufklärer. Einem von ihnen, dem 888 in Bagdad geborenen Kal-ligraphen Ibn Muqla, ist dieser Roman gewidmet. "Den größten Architekten der Buchstaben und seines Unglücks" nennt Rafik Schami diesen Mann, der das arabische Alphabet reformieren wollte. Sein Lohn waren Verleumdung, Verstümmelung, Enteignung und Gefängnis. Noch heute ist Fanatikern nicht nur der Koran als göttliche Offenbarung heilig, sondern auch die Schrift, die ihn festhält. Ihnen gilt schon der Gedanke an eine Veränderung der Schrift als Todsünde. Deshalb macht Hamid Farsi ähnliche Erfahrungen wie sein historisches Vorbild, als er vergleichbare Pläne entwickelt.

In 42 Kapiteln erzählt der Autor die Geschichten des Liebespaares Nura und Salman sowie in 14 weiteren die des Kalligraphen. Der Leser sieht sie aufwachsen, lernt ihre Familien kennen, ihre Freunde und ihre Feinde. Und er schmunzelt über Nassri Abbani, den reichen Taugenichts und größten Schützenjäger von Damaskus:

"Er hatte vier Frauen in vier Häusern, zeugte pro Jahr vier Kinder und ernährte dazu drei Huren der Stadt… Seine jüngste Frau, die sechzehnjährige Almas, soll einmal gesagt haben: "Nassri kann kein Loch sehen, ohne sein Ding hineinzustecken. Mich würde es nicht wundern, wenn er eines Tages nach Hause kommt und an seinem Stock ein Bienenvolk hängt"."

Der Gockel Nassri ist die Quelle erheblicher Verwicklungen: Aus reiner Eitelkeit wird er zum größten Sponsor von Hamids Kalligraphenschule, die den Zorn religiöser Fanatiker erregt. Ohne zu wissen, dass sie Hamids Frau ist, verliebt er sich in Nura, und zahlt Hamid ein Vermögen für ganz tolle Liebesbriefe. Als der dahinter kommt, bringt er Nassri um.

Dieser sexbesessene Nassri wirkt wie eine Art Katalysa-tor für alle möglichen Schwächen der Gesellschaft. Er verkörpert sie, er zieht sie an, durch ihn zeigen sie ihre ganze Lächerlichkeit. Natürlich werden seine Eskapaden und sein Schicksal Stadtgespräch: in Damenkränzchen ebenso wie in Werkstätten und Cafés, Büros und Läden, bei den Hochmögenden und bei den Armen. Rafik Schami erzählt sinnlich, bildhaft und spannend. Oft bricht sich eine der größeren Geschichten in einer kleinen, manchmal winzigen, wie Licht in Spiegelscherben.

Der Roman ist auf deutsch geschrieben, aber ganz und gar syrisch: der Ort, die Charaktere, die Handlung, bis hin zu Brautverhandlungen und Hochzeitsritualen. Der Autor nimmt den Leser mit ins Damaskus seiner Jugend, eine Stadt voll Aberglauben und Grausamkeit, aber auch voll Schönheit, Fröhlichkeit und einer religiösen Toleranz, die schon zu bröckeln beginnt. Ein Buch über Männer und Frauen im Orient, über Weisheit und Dummheit, Liebe und Kunst, das keinem Problem aus dem Weg geht und wunderbar leicht erzählt ist.

Ein großer Roman

SWR2 Buchkritik:
Rafael Chirbes: "Krematorium". Roman, Verlag Antje Kunstmann, München, 430 S., 22 €

Keiner der Romane von Rafael Chirbes hat eine Handlung im herkömmlichen Sinn. Auch „Krematorium“ nicht. In diesem Roman zeichnet der Autor 30 Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur ein düsteres Bild seiner Generation. In den wenigen Stunden zwischen dem Tod des Ökobauern Matías und der Trauerfeier bilden die Hinterbliebenen einen Chor widersprüchlicher Erinnerungen und Abrechnungen: 13 Kapitel ohne Absätze, sechs verschiedene Perspektiven.

Arena für diesen Showdown der Lebensbilanzen ist Misent – ein Dorf bei Alicante, ähnlich dem Dorf, in dem der Autor geboren wurde und ähnlich dem, in dem er heute lebt. Durch den Massentourismus verschandelt, sind diese „Urbanisationen“ zugleich Symbol des spanischen Wirtschaftswunders und des Preises, den die Menschen dafür zahlen. Das Buch erzählt daher weniger von Massentourismus oder Umweltsünden als vom Verlust des Glaubens und der Zerstörung der Seelen.
Hauptfigur ist der 73jährige Baulöwe Rubén Bertomeu, der ältere Bruder von Matías, groß geworden durch Immobilienspekulation und Mafiamethoden. Dieser Rubén ist ein fleischgewordenes Ausrufezeichen des Sozialdarwinismus ohne jedes Unrechtsbewusstsein. Der frühere Sozialist hat, enttäuscht von der Demokratie, das Geld über alles gesetzt, für ihn das einzige Tor zur Freiheit:

"Das Geld gilt immer mehr als die Ideen, weil es sie in seinen Dienst stellen kann."

Doch wo Chirbes ihn als Kunst- und Bildungsreisenden oder Gourmet schildert, wird sogar dieser Kerl sympathisch in seiner Beredsamkeit und bauernschlauen Lebenserfahrung. Schon in dem Roman „Alte Freunde“ beschrieb Chirbes so einen Typ, der ganz prima erklären konnte, wieso er irgendwann zum Immobilienhai werden „musste“. Und doch zeigt Rubén echte Gefühle:

"An Mónica geschmiegt einschlafen, meine Beine zwischen den ihren, Fleisch an Fleisch, Fleisch gegen den Tod, Wärme gegen den Tod und seine Gespenster. Die Worte des Arztes klingen wieder in meinem Schädel: Er ist klinisch tot, und auf einmal bin ich gerührt. Der Blick verschwimmt, und ich fange an zu weinen. Ich heule im Auto und kann kaum den Verkehr zu meiner Linken wahrnehmen."

Chirbes verurteilt keine seiner Figuren; die entlarven sich vielmehr selbst. Während Rubén auf dem Weg von der Klinik zur Trauerhalle im Stau steckt, steht seine junge Frau Mónica vor dem Badezimmerspiegel. Was noch niemand weiß: sie ist schwanger. In ihre Gedanken über Fitness und Schönheit als Invesitionsgut mischen sich schadenfrohe Kalkulationen über die Veränderung der familiären Vermögensverhältnisse durch einen männlichen Erben für Rubén. Die Nachricht will sie auf der Trauerfeier verbreiten.

Dann Federico Brouard: Der einst erfolgreiche Schriftsteller und Jugendfreund von Rubén versinkt in Suff und Selbstmitleid. Erst kürzlich hat er Rubén sein Grundstück verkauft, weil er von seinen Büchern nicht mehr leben konnte. Er verehrte Matías, weil der soziale Gerechtigkeit, Umweltbewusstsein und Kultur zu verbinden suchte. Doch der Verstorbene entpuppt sich als einstiger Möchtegern-Stalinist und seine ganze Öko-Masche als Flucht vor der Realität.

Auch Rubéns heftigste Kritikerin, seine Tochter Silvia, nimmt sein Geld und hat ihre Kinder zu kalten Materialisten erzogen. Ähnlich schlecht wie Rubéns Ex-Freund Brouard, seine Enkel oder Silvia kommt seine steinalte Mutter weg: Deren Lebensinhalt ist es, anderen das Leben schwer zu machen, ihre einzige Äußerungsform ein „imperatives Krächzen“.

Chirbes untermauert diese Autopsie der Gesellschaft mit zahllosen Zitaten und Anspielungen aus Literatur, Musik, Kunst und Philosophie. Gleichsam noch am Seziertisch feiert Chirbes die großen Leistungen europäischer Kultur. Der moralische Verfall ist umfassend. Ein beklemmender Existenzialismus macht sich breit: Im Tod wie im Leben ist jeder allein, es gibt keine echte Gemeinschaft. Doch inmitten dieses Requiems halten sich hartnäckig Anzeichen für Lebensfreude und eine reinigende Kraft der Trauer: einfühlsame Anteilnahme, eine unverwüstliche Sinnlichkeit, eine menschliche Nähe, die niemals Anbiederung wird.

Mit diesem Roman lässt Chirbes sein bisheriges Generalthema Franco hinter sich und ist endgültig in Europa angekommen. Seine großartigen inneren Monologe beschwören etwas, das uns alle angeht: das Scheitern großer Ideale, die Korruption der Hirne und Herzen. Er tut das vielstimmig – zornig und traurig, mal brutal und mal sehnsüchtig, manchmal auch ausgesprochen witzig.

Montag, 8. Dezember 2008

Mit dem SWR2 RadioClub zu den ARD Hörspieltagen

Am Freitag, den 7. November fuhren 30 Leserinnen und Leser der "Heilbronner Stimme" mit einem SWR2-Sonderbus zu den ARD Hörspieltagen im ZKM Karlsruhe. Ich hatte das Vergnügen, die Gewinner eines Gewinnspiels der Zeitung für den SWR2 RadioClub zu begleiten. Das war eine neue Zusammenarbeit zwischen Zeitung und Kulturradio, und Medienredakteur Marcel Auermann bestätigte meine Einschätzung: Sie hat sich für alle Beteiligten gelohnt. Kulturnetzwerke müssen die Grenzen zwischen den Medien überwinden, damit das Publikum nicht länger unter einer Konkurrenz leidet, die ohnehin immer nur in Bezug auf Anzeigenkunden Bestand hatte. Die Journalisten verstehen sich längst prächtig, die Kulturinteressenten auch - ganz gleich, ob nun als Leser oder als Hörer.
Nach der Abfahrt im Hof der "Heilbronner Stimme" nahmen wir zwei Redakteure die Teilnehmer in Empfang und verteiten Taschen mit Programminformationen, einer Hörspiel-CD des SWR und Broschüren über Hörspielproduktion und den SWR2 RadioClub. Im ZKM angekommen, wurde die Gruppe von SWR2-Hörspielchef Ekkehard Skoruppa begrüßt und bei Sekt, Kaffee und Kuchen eingestimmt. Es folgte eine Führung durch das ZKM-Museum und die Ausstellung "YOU_ser" im Medienmuseum, wo die multimediale Entwicklung der Kunst im Technologiezeitalter mit schönen Beispielen zu sehen ist.
Nach einer Pause zum Abendessen begann um 19 Uhr die Vorführung des Hörpiels "Das Wunderwerk oder The RE-Mohammed-TY-Show" von Christian Lollike, dem SWR2-Festivalbeitrag, mit anschließender Jurydiskussion. Der dänische Dekonstruktivist und Theatermann Lollike nahm einen umstrittenen Kommentar des Komponisten zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zum Anlass seiner Collage aus Reflexionen und Medienzitaten. Stockhausen hatte gesagt: "Was da geschehen ist, ist - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat." Nun, sein Stück wars jedenfalls nicht, fanden die Zuhörer im Gleichklang mit der Jury. Die urteilte, der Autor sei selbst dem Problem in die Falle gegangen, das er kritisiere, der Schlagzeilengier mit unerträglichen Gewaltszenen nämlich: Gut gemacht, aber inhaltlich und dramaturgisch angreifbar, witzig und temporeich, doch geschmacklos und ohne eigenen Standort. Letztlich ein medienkritischer Versuch, der genauso daneben ging wie der unpassende Satz, der ihn auslöste.
Um 21 Uhr begann die Live-Radioshow "Das Magische Auge". Axel Naumer moderierte die musikalisch-kabarettistische Revue durch die Geschichte des Radios mit Songs von Robert Kreis, Kabarett von Jürgen Busse & Friends und einem etwas albernen, aber unterhaltsamen Live-Hörspiel in Etappen. Das war ein versöhnlicher Ausklang, und um Mitternacht waren die Heilbronner Ausflügler allesamt zufrieden und gut gelaunbt wieder zu Hause. Zwischendurch im Bus und im ZKM immer wieder: Gespräche mit den "Redakteuren zum Anfassen", Fragen zum Kulturradio und zum RadioClub, Hörspiel-Diskussionen und Kulturpolitik auf basisdemokratischer Ebene. Feine Sache, sollte man öfter machen. Wollen wir auch.