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Montag, 8. Oktober 2007

Schönheit gegen Tod

SWR2 Buchkritik vom 2. Oktober 2007 über Karl Lubomirski

© Widmar Puhl (4´35)

Vielleicht ist Dunkelheit
Unerkanntes Licht.

Vor allem mit solchen Gedichten, eigentlich nur einzelnen Versen an der Grenze zum Aphorismus, hat Karl Lubomirski die italienischen Leser begeistert. Jetzt hat sein zweisprachiger, deutsch-italienischer Gedichtband „Gekenterte Zeit – Tempo naufragato“ unter mehr als 350 Bewerbungen einen ungewöhnlichen Literaturpreis erhalten: den PREMIO INTERNAZINALE DI CASTROVILLARI. Castrovillari kennt hierzulande kein Mensch, aber das könnte sich ändern. Die malerische Kleinstadt unweit von Neapel beherbergt, ähnlich angesehen wie bei uns die Bayerische Akademie der schönen Künste, die Akademie der Künste von Kalabrien. Und die verleiht seit drei Jahren den einzigen internationalen Literaturpreis Italiens.
„Gekenterte Zeit“: Der Buchtitel steht für die Einsamkeit des heutigen Menschen, den Verlust Identität-stiftender Traditionen und Orientierungsgefüge. Der so genannte „Platz in der Welt“ – Heimat, Nationalität, Religionsgemeinschaft, Familie, Beruf, Sicherheit jeder Art auch in lange bewohnten Gebäuden des Denkens und der Kultur, existiert für Lubomirski nur noch in der Sprache.


DIE VERTREIBUNG

Wo ich aufwuchs
ist nichts mehr
Man hat mein stilles Freuen abgerissen
Man hat den Reichtum meiner Armut
übertönt
Schlösser vorgelegt
Die von blauen Blumen
nicht mehr wissen.
Wo ich aufwuchs
ist nichts mehr.

Der Ort dieser Kindheit ist gleichermaßen Krakau wie Warschau, Auschwitz oder Innsbruck. Geschrieben hat er über all diese Orte. Karl Lubomirski, der Tiroler polnischer Herkunft, lebt seit über 30 Jahren in Italien. Doch wirkliche Heimat findet er nur in der Sprache. Selbst- und Weltvergewisserung, das ureigenste Anliegen der Poesie, verfolgt dieser Autor mit einer eigentümlichen Sprache. Seine Worte und Bilder sind scheinbar alltäglich und doch vielschichtig. Gerade dadurch finden sie die Kraft neuer Faszination und Bedeutung.
Alles Große ist einfach. Diesem Grundsatz folgen auch die Wortwahl und Rhythmik in Lubomirskis Gedichten. Eine autobiographische Grunderfahrung, lakonisch und knapp formuliert, wird genau deshalb nachvollziehbar und gewichtig-allgemeingültig in dem Gedicht EMIGRATION:

Man ist gewohnt fort zu sein
und freut sich hie und da
geliebten Menschen zu schreiben
ohne sich zu erinnern,
dass sie nicht mehr sind.

„Ohne sich zu erinnern“: Da ruft Lubomirski diese Bewusstlosigkeit an, die, ähnlich wie die Macht der Gewohnheit, so tödlich ist für Gefühl und Verstand. Doch ohne sich zu erinnern, dass die geliebten Menschen nicht mehr sind, sind sie eben doch wieder ganz präsent. Das ist mehr als ein sprachlicher oder psychologischer Kunstgriff. Hier weckt der Autor sehr subjektiv, aber absolut nachvollziehbar die bedrohte Erinnerung wieder zum Leben. Das Sich-Erinnern ist ein Innenraum des Menschen, der anders als die erinnerte Kindheit unzerstörbar ist. Und wenn das Gedicht die Erinnerung auf den Leser überträgt – ganz gleich, wie – dann entsteht Kunst, die auch das physische Ende des schreibenden Individuums überlebt.
Solche Dichtung bleibt die einzige Gewissheit, der einzige Anker in einem Meer der Ungewissheiten. Sie wird Lebenssinn, Lebensnotwendigkeit – und für den Dichter einzige Lebensmöglichkeit. Mit dieser Radikalität entschlüsselt Lubomirski die ewigen Fragen nach dem Göttlichen, nach der Zeit, aber auch nach den Anregungen der äußeren Welt, den Orten und Menschen, die ein Leben umgreift, nach der Natur, und nach Gefühlen wie Trauer und sinnliche Liebe.


UNS
Denen der Abend näher als der Morgen
schmecken die Küsse anders
Reisen schmecken uns anders und Abschiede.
Wir glauben dem Fell der Tiere
und den Revolvergriffen in Nachttischladen
und Seneca.
Uns
denen Abend näher ist als Morgen
bedeutet Brot mehr
und wer uns umarmt
macht uns zur Sonne.

Solche Sprachkunst hätte auch im deutschen Original für ihre Musikalität, gedanklichen Präzision und Weisheit einen Literaturpreis verdient.

Karl Lubomirski:
“Gekenterte Zeit – Tempo naufragato“, Gedichte. Verlag Viennepierre edizioni, Mailand, 194 Seiten, 18 €.

Freitag, 5. Oktober 2007

Liebeslyrik einmal anders

Eine Anthologie zum Thema Erotik:
"Und dann und wann galant": Verlag der Studiengalerie, Stuttgart, 64 Seiten auf Büttenpapier, 38 €. Herausgegeben von Günter Guben und Klaus Bushoff (Illustrationen)

Am Donnerstag, den 2. Oktober 2007 gab sich eine ungewöhnliche Schar ein Stelldichein in der Galerie ART, einem ohnehin bunt gemischten Kulturtreff im Stuttgarter Bohnenviertel (Rosenstraße 37, um die Ecke vom Schriftstellerhaus in der Kanalstraße 4). Die Herausgeber einer etwas anderen Anthologie erotischer Texte von frei erfundenen AutorInnen stellten im Rahmen einer Marathonlesung die eigentlichen Urheber vor - und natürlich das lachslosa (wie Reizwäsche?) Buch. Es waren erstaunlich viele gekommen, und so hatte das ebenfalls zahlreiche Publikum zwei Stunden eine Kostprobe nach der anderen zu goutieren, bevor man sich an Salzbrezeln und Wein erfrischen durfte. Lange ging´s dann im Zwie- oder Gruppengespräch weiter.
Abwechslungsreich und anregend sei´s gewesen, meinten die Besucher. Seltsam, bloß ich schien etwas genervt und müde nach einem langen Arbeitstag in Baden-Baden. Aber auch ich traf anregende neue Menschen und kam zwei Stunden später heim als geplant - leider stocknüchtern. Mein bescheidener Beitrag folgt ganz unten. Er ist aber eine abgespeckte und an deutsche Verhältnisse angepasste Version, die ich einem erfundenen Autor in die Schuhe schieben konnte; denn das war ja verlangt.
Inspiriert wurde das Ganze tatsächlich vom ehemaligen "Guerrilla-Groupie" Gioconda Belli aus Nicaragua. Bei einem zweiten ausgiebigen Interview Ende 2005 waren wir schon wie zwei alte Freunde auseinander gegangen: Die (immer noch rassige) Frau aus den Tropen gab mir rechts und links einen Kuss auf die Wange, und danach überlegte ich, was man aus sowas macht.
Erst einmal entstand - bisher für mich einmalig und solitär - ein Gedicht in spanischer Sprache, das die Geschichte dieser Begegnung mit einer phantasievollen Huldigung an die Meisterin der erotischen Lyrik in ihrer Muttersprache verbindet. Es steckt voller Anspielungen auf Giocondas eigene Gedichte, und die klingen eben nur auf Spanisch. Versuchen Sie einmal, das laut zu lesen: Diese Verse sind Musik. Sie nehmen den Rhythmus der Verse von Gioconda Belli auf und wandeln sie ab - mit der Selbstironie eines Mannes, der seine Grenzen kennt, seit er das Gedicht "Fahrprüfung" von Gioconda gesprochen in Tübingen hörte. 2001 mag das gewesen sein. Und da ging´s um einen Kurs durch die Kurven ihres Körpers, hingestreckt auf der Landkarte ihrer tropischen Heimatstadt Managua, aus deren Zoo gefährliche Panther, Anacondas und andere Raubtiere der erotischen Phantasie einen ungewöhnlichen Biss geben.
Ob ich größenwahnsinnig geworden bin? Ja, ein bisschen schon. Aber ich habe Spanisch studiert, und zu meiner Ehrenrettung sei gesagt: Ich habe mir auch von Freunden in Spanien mein Gedicht lektorieren und in einigen kniffligen Fragen korrigieren lassen. Gioconda bekam´s dann zu Weihnachten und bedankte sich artig. Später hab ich das Ding dann übersetzt, aber es war einfach nicht gut. Hier folgen erst einmal das Original auf Spanisch und dann die Übersetzung - und erst ganz am Ende mein Beitrag für die Anthologie.











Besos de Gioconda


Hay tales momentos como ese
Hay encuentros como ese con la poetisa
Una mujer tropical en ambientes norteños
Una pequeña ciudad medieval alemana
En el maduro verde de un valle mientras
El sol rompe nieblas silvestres otoñales
Me entregó su vida de pasiones
Y al despedirse un beso nicaragüense
Que digo: dos besos mundiales
De la reina de todos los besos
Dos me dio, francamente
Uno en cada mejilla
Pensando en no lavarme jamás
El afeitado cotidiano destruye los sueños de la noche.
También a mi mujer una barba musulmana
Pudiera parecer algo de atentado
A mí, como pobre esclavo de letras,
¿Qué me queda que conservar estos besos
En mermelada de verso
En escritura, imagen, potencial eléctrico?
Sí, existen tales momentos reales y fugitivos
Dilatados, resumiendo decenios en segundos
Relámpagos sinapsiales
Tormentas químicas
Los ojos unos abismos oceánicos
Llenos de peligro, y a la vez,
Calderas volcánicas
La voz gutural susurrante seducción
Si, de veces hay besos reales y fugitivos
Mariposas en la mejilla
Golondrinas incomprensibles
Momentos mágicos de ligera gravidez
Küsse von Gioconda
Es gibt solche Augenblicke wie diesen
Es gibt solche Begegnungen wie die mit der Dichterin
Die Frau aus den Tropen und ich
In Schwäbisch Hall
In einem engen nordischen noch grünen Tal
Sonne brach durch die Herbstnebel
Leidenschaftlich erzählte sie
Von ihrem Leben von ihren Leidenschaften
Zum Abschied ein Kuß aus Nicaragua
Was sag ich: zwei Küsse gab sie mir
Königin aller Küsse dieser Welt
Einen auf jede Wange
Ich dachte daran, mich nicht mehr zu waschen.
Doch schon die erste Morgenrasur zerstörte den nächtlichen Traum.
Außerdem könnte ein Prophetenbart für meine Frau
Etwas von einem Attentat an sich haben
Was bleibt einem armen Wortknecht da anderes übrig
Als diese Küsse in Verse zu verwandeln?
Als sie verwandelt zu bewahren
In der Schrift, im Bild, in elektrischer Spannung?
Ja, es gibt solche Augenblicke, wirklich und flüchtig
Nie endende Augenblicke, wenn Jahrzehnte zu Sekunden werden
Synapsengewitter
Chemische Stürme
Augen wie Tiefseegräben
Augen wie Magmaseen
Gefährlich
Kehlige Stimme der Verführung
Ja, manchmal gibt es solche Küsse, wirklich und flüchtig
Schmetterlinge auf den Wangen
Unverständliche Schwalben
Magische Augenblicke gravierender Leichtigkeit

Und nun, was wurde daraus? In Günter Gubens Anthologie liest sich das dann so, wie es - losgelöst von dem schwer wiederholbaren und für den Autor einmaligen Anlass, harmlos und allgemeingültig einem deutschen Publikum anbieten kann. Bleibt mir nur, mich bei José F.A, Oliver zu entschuldigen, den ich als unschuldigen, nichtsahnenden Nachbarn meines Pseudonyms mit in die Sache hineingezogen habe:

Subcomandante Nicolás
Subcomandante Nicolás ist nicht, wie von vielen Fachleuten vermutet, ein Pseudonym des 1961 in Hausach geborenen spanisch-stämmigen deutschen Dichters José F. A. Oliver, sondern – genau umgekehrt – ein spanisch schreibende Deutscher und einer der feurigsten Autoren spanischer Liebeslyrik. Noch ist er aber erst für die deutsche Literatur zu entdecken. Ursprünglich hieß er Klaus B., und geboren wurde er 1950 in dem idyllischen Schwalzwaldort Schiltach. Die geographische Nähe zu Olivers Geburtsort Hausach gab wohl Anlass zu der Spekulation, Subcomandante Nicolás sei identisch mit Oliver, aber erwiesenermaßen wissen die beiden nicht einmal voneinander. Klaus B. las als junger Mann Liebesgedichte von Giocnda Belli, die wegen ihrer Freizügigkeit berühmt wurde und weil sie für die Guerrilleros von Nicaragua zur Kalaschnikow griff. Als die Sandinistenbewegung 1979 den Diktator Somoza stürzte, reiste Klaus B., den seitdem in seiner Heimat niemand mehr kennen will, mit der Stuttgarter DGB-Jugend als Helfer zur Kaffee-Ernte nach Nicaragua. Er lernte sein Jugendidol kennen und lieben, blieb als Kämpfer gegen die US-gestützten Contra-Invasoren im Land und erwarb sich den militärischen Dienstgrad eines Unteroffiziers der sandinistischen Volksarme. Ironisch nahm er die (falsche, nur scheinbar) wörtliche Übersetzung Subcomandante als neuen Familiennamen an. Seine Gedichte sind sämtlich von seiner großen (inzwischen anderweitig glücklich verheirateten) Liebe Gioconda Belli inspiriert, in Spanischer Sprache verfasst und bis heute nur in einzelnen Fragmenten übersetzt. Das Gedicht „Wie ein Blitz“ entstand offenbar kurz nach der ersten Begegnung:

Ein zeitloser Augenblick
Wirklich und flüchtig
Sekunden dehnten sich zu Jahrzehnten
Synapsengewitter
Chemische Stürme
Augen wie Tiefseegräben
Augen wie Magmaseen
Kehlige Stimme der Verführung
Gefährlich
Eine hungrige Boa constrictor
Küsse
Wirklich und flüchtig
Schmetterlinge auf Wangen
Unverständliche Schwalben
Magische Augenblicke gravierender Leichtigkeit

Brenners Parkhotel von unten


Meine Unterkunft im September

So gemütlich bringt man in Brenners Parkhotel zu Baden-Baden das Personal unter. Das erste Haus am Platz (5 Sterne) kann ich mir als Gast nicht leisten, aber als SWR-Mitarbeiter hatte ich im September das Vergnügen, eine dieser Unterkünfte für 270 € im Monat zu bewohnen. Das ist die Realität eines Abkommens zwischen Brenners und SWR für Praktikanten, Auszubildende, Hospitanten oder für eine Übergangszeit auch alte Knacker wie mich, die eine bezahlbare Zweitwohnung suchen. Die jungen Kellner und Kofferträger in meiner Nachbarschaft waren rücksichtsvoll, höflich und leise. Das Lauteste war die klopfende Heizung, die ich an einzelnen kalten Abenden als Untermalung zum Radio hörte. Gottseidank nur von Montag bis Donnerstag. Am Freitag fuhr ich nach dem Mittagessen heim; denn in dieser kuscheligen Mansarde reichte die Beleuchtung kaum zum Lesen, der Tisch wackelte, der Schrank war nicht verschließbar - da arbeitet man gerne länger im Büro, um die Woche rumzukriegen.