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Sonntag, 27. Mai 2007

Sünden gegen die Sprachehrlichkeit 5: vom Totschweigen

Apropos Frisur: Haarsträubend lang leben Totgesagte Skandale
Die halbe Wahrheit ist manchmal schlimmer als gar keine. Am 22. April waren Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt. Die CDU wurde mal wieder stärkste Partei und stellte viele Bürgermeister, meistens in Koalitionen mit anderen Parteien. Die Einzelheiten interessieren mich hier gar nicht. Aufgeschreckt hat mich die kleine Meldung, dass die Wahlbeteiligung zum Teil unter 30 Prozent lag. Ein Bürgermeister, dessen Partei unter diesen Umständen 30 Prozent der Stimmen bekommen hat, regiert also mit den Stimmen von nur 10 Prozent aller Wahlbeteiligten!
An die Macht kommen mit zehn Prozent der Stimmen: Wo das möglich ist, wackelt die Demokratie, auch wenn die Wahlverweigerer selber schuld sind an dieser Art von Entmündigung. Nicht selbst schuld sind sie aber an der Art, wie so etwas in der Öffentlichkeit dargestellt und dann auch wahrgenommen wird: Eine Partei verkündet lauthals über alle Kanäle, sie habe 30 Prozent bekommen – und in Wahrheit sind es 30 von 30! Das ist leider inzwischen ein ganz normaler Vorgang in diesem Land, aber mir wäre es lieber, wir würden das nicht normal finden. Für eine Demokratie sind Mehrheiten normal. Und 10 Prozent sind nun mal keine.
Solche unangenehmen Tatsachen werden aber gern tot geschwiegen. Es gab einige Zeitungskommentare über den historischen Tiefststand der Wahlbeteiligung in Sachsen-Anhalt. Aber dann ging man schnell zur Tagesordnung über – zu schnell für meine Begriffe. Wer im Zeitalter der Medien öffentlich spricht, hat eine Verantwortung für das, was unter der Lupe der öffentlichen Wahrnehmung liegt. Und darum ist es wichtig, dass „große“ Themen ausdiskutiert werden. Das heißt, sie sollten nicht einfach der nächsten Sau weichen müssen, die durchs Mediendorf getrieben wird. Sie müssen auf der Tagesordnung bleiben, bis das Problem gelöst ist. Und wenn das nicht geht, weil es Probleme gibt, die man nicht einfach abhaken kann, müssen wir alle dauerhaft wachsam sein.
Das ist nicht leicht in einer Gesellschaft, wo immer der Recht bekommt, der am lautesten trommelt. Deshalb gibt es auch zum Beispiel ein Gesetz, das die Leugnung der Judenvernichtung im Dritten Reich unter Strafe stellt. Beim Thema Holocaust ist die ältere Generation der Deutschen aber auch sensibilisiert, wenn nicht gar traumatisiert. Kein Gesetz hingegen verpflichtet zur Wahrhaftigkeit im Umgang mit den Arbeitslosenzahlen.
Im Gegenteil: schon mehrfach wurden Gesetze erlassen, die es schwer machen, den wirklichen Grad der Erwerbslosigkeit zu bestimmen. Erst wurden alle Langzeitarbeitslosen aus der Statistik genommen, die älter als 55 Jahre und damit angeblich schwer vermittelbar sind. Dann hat man alle anderen Langzeitarbeitslosen mit den Empfängern von Sozialhilfe zusammen gelegt. Damit fielen auch diese Menschen aus der Statistik heraus, denn jetzt war nicht mehr feststellbar, wer Arbeit suchte und wer nicht. Drittens wurde beschlossen, diejenigen nicht als arbeitslos anzuerkennen, die nach einer Ausbildung keine Stelle fanden. Als nächstes fielen alle durchs Raster, die gerade eine Umschulung oder Fortbildung auf Staatskosten machen. Raus aus der Statistik sind auch Millionen von Menschen, die in einen teueren vorzeitigen Ruhestand geschickt wurden. Ganz zu schweigen von Teilzeit- und Minijobbern, die gern voll arbeiten würden. Die Statistik zählt jede Beschäftigung und fragt nicht, sie zum Leben reicht.

Das geht schon viele Jahre so, und deshalb ist diese Liste ziemlich lang. Sie soll klar machen, was inzwischen alles unter den Tisch fällt und tot geschwiegen wird, wenn Monat für Monat die neuen Arbeitslosenzahlen aus Nürnberg kommen. Was sich hinter dem Verschwiegenen verbirgt, ist schwer zu ertragen – nicht nur für die Betroffenen, das will ich gern zugeben. Aber die verschweigen ihr Schicksal nicht. Diejenigen, die schweigen und versuchen, andere zum Schweigen zu bringen, indem die Zahlen vernebeln und Fakten verstecken, sind Politiker und Beamte. Indem sie das wahre Ausmaß der Katastrophe verschleiern, tun sie den Betroffenen ein zweites Mal Unrecht durch die Demütigung, nicht einmal mehr statistisch wahrgenommen zu werden.
Das Gesetz des Schweigens gilt nicht nur in der Mafia; wahrscheinlich hat jeder eine verschwiegene Kammer in seinem Innern. Aber nur ein Heuchler verbirgt Dinge, die alle angehen. Laufend werden Skandale totgeschwiegen: in der Wirtschaft, gegen die Umwelt, gegen die Menschlichkeit in Familien und Betrieben, gegen Frauen und Kinder, oder auch nur im Kampf um Steuersubventionen. Früher glaubten die Christen noch an einen „stummen Teufel“, der besonders gefährlich sei. Dass dagegen nur radikale Ehrlichkeit hilft, haben einige Radsportler anscheinend gerade gemerkt. Und haben ausgepackt über den größten Dopingskandal in der Geschichte des deutschen Sports, der lange tot geschwiegen wurde.

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