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Samstag, 29. Dezember 2007

Poetische Erzählungen zwischen Kafka & Chagall

Marica Bodrožić: „Der Windsammler. Erzählungen“

Was ist eine Lichtharfe, eine Luftorgel oder eine Brustlaterne? Ein Traumhüter oder ein Bildinspektor? Seltsame Wörter und Wesen bevölkern die elf Erzählungen des Buches „Der Windsammler“ von Marica Bodrožić. Vordergründig sind es elf Ausflüge auf Inseln vor der Küste von Dalmatien, in die mediterrane Welt ihrer Kindheit. Dieses Inselbuch der gebürtigen Kroatin, die körperlich in Berlin und geistig in der deutschen Sprache lebt, erzählt aber von mehreren Wirklichkeiten, die sich gegenseitig durchdringen: Sagen, Märchen, Erinnerungen, Träume, Begegnungen. Oko der Windsammler, die Titelfigur der Titelgeschichte, ist ein Junge von der Insel Pag (sprich: Paag), der bei Nacht mit seinem Panamahut den Wind fängt und bei Tag einen schwarzen Lippizanerhengst sucht, den ihm der Erzengel Raphael gestohlen hat. Weshalb es auch heißt, er sei nicht bei Verstand.

Er lebt in keinem Luftschloss, das nicht, sagte die vertraute Stimme, aber er lebt mit verknüpften Sinnen. Die Forscher betrachteten täglich ihre Tabellen. Man gab sich Zettel in die Hände, schaute zum Plafond, es wurden Entscheidungen getroffen. Verknüpfte Sinne, das kannten sie nicht. Heilanstalt war das Wort, das die Forscher erst leise und dann mit Nachdruck, wie zur Selbstversicherung aussprachen. Wie alle Wörter, die einmal ausgesprochen sind, entwickelte das Wort seine Wirkung und forderte, eingelöst zu werden. Wörter sind Zauberkundige. Wörter sind Stellvertreter des Menschen.

Manche dieser Erzählungen haben eine Handlung, manche sind mehr Beschreibungen seelischer Zustände. Besonders liebt die Autorin archaische, surrealistische Parabeln – Geschichten „aus der Welt hinter der Welt der Welt“, wie sie sagt. „Hinter der Welt der Welt“: Solche Wendungen sind typisch für Marica Bodrožić. Aus der scheinbar überflüssigen Wiederholung, die erst wie eine kleine sprachliche Unsicherheit wirkt, entsteht eine ungewöhnliche Betonung, die uns verzaubert. Vater, Mutter, Schwestern und Freundinnen kommen zwar vor in diesem Erzählungen, aber man sollte sie nicht autobiografisch nennen. Splitter der sozialen und historischen Realität vermengen sich mit träumerischen Erfindungen, Landschaftsbildern und Elementen der naturwissenschaftlichen Abhandlung zu etwas Neuem, Vielschichtigem. Das bleibt ganz gern auch einmal rätselhaft. Immer aber ist diese Sprache sinnlich und poetisch, auch da, wo in perspektivischer Brechung Zeitgeschichte darin vorkommt. Diktatur, Krieg und Emigration im ehemaligen Jugoslawien streift die in Kroatien geborene Autorin nur, aber in knappen Sätzen und eindringlichen Bildern:

Als meine Schwester Ada und ich nach Jahren des Wegbleibens auf die Lange Insel zurückgekommen waren, hat uns der offenbar auf dem Schiff mitgereiste Bildinspektor verdächtigt, eine Lichtharfe und andere mehrdimensionale Gegenstände zu besitzen. Er sagte es uns gleich am Hafen, eine Lichtharfe dürfe es auf der Langen Insel nur geben, wenn man sie registrieren lasse… Wir nahmen unsere Koffer in die Hände, um nach Hause zu gehen. Der Bildinspektor sagte, ich weiß, dass Sie lange nicht auf der Langen Insel waren. Zehn Jahre, sagte ich. Er lächelte mich auf eine Art an, als hätte ich die Hälfte unterschlagen.

Durchaus unbotmäßiges Phantasiefutter liefern diese Erzählungen von Marica Bodrožić. Von einem Verbotstraum ist die Rede, der um sich greift und von dem Kinder noch nichts wissen, von nächtlichen Versammlungen der Träumer. Der jugoslawische Archipel GULAG wird in der Erinnerung eines Besuchers lebendig, der auf der ehemaligen Gefängnisinsel die Spur seines Vaters sucht. Und eine politische Satire erzählt die Geschichte von der „Rache des Damhirsches“ aus Titos Jagdrevier. Weil es keine Zäune mag, erscheint das Tier dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht im Traum und verändert den Lauf der Geschichte. Etwas Kafka, etwas Chagall: Irgendwo in den Geschichten dieser Autorin könnte immer einer seiner Engel durch die Luft fliegen. Geschichten, die der Wirklichkeit gern ein Bein stellen und mit dem Glück eines großen Kindes neue Wörter ausprobieren.

Marica Bodrozic: „Der Windsammler. Erzählungen“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 182 S., 16,80 €

Neues von der Poesiehexe

Sarah Kirsch: „Regenkatze. Tagebuchnotate“


Wie Fritz J. Raddatz einmal schrieb, haben die Gedichte von Sarah Kirsch einen ganz bestimmten Ton, eine Art Lyrik-Tinnitus, den man nicht aus dem Ohr bekommt. Dieser Ton, diese Schreibweise findet sich auch in ihren Tagebüchern. Die neuesten sind unter dem Titel „Regenkatze“ erschienen und stammen aus der Zeit von September 2003 bis Februar 2004. Da wurde die junge Katze Emily heimisch bei Frau Kirsch hinterm Deich in Tielenhemme an der Eider. Das ist durchaus keine Nebensache. Denn die Katze liebt wie die Dichterin die ländliche Einsamkeit Schleswig-Holsteins, das typische Wetter zwischen Geest und Knick, zwischen Herbst und Frühling: Viel Regen und Nebel, Wolken und Wind. Als Seelenverwandte hat die Katze weitgehende Mitspracherechte im Haushalt und auch sonst. Über 60 Mal auf 143 Seiten kommt sie vor.

3. Septembrius 2003, Mistwoch
Ein Tiefausläufer zieht über uns hin mit herrlichen Wolkengebürgen. Es sieht aus wie in den Berner Alpen... Die Emily war heraußen, ist wiederum drin. Auf meinem oder besser ihrem Sofa in mein Schreibzimmer itzt... Mittags ging der Strom in die Binsen. Die Schleswag gibt es nicht mehr, die Stromkonzerne haben sich neu zusammengerottet, wir beziehen nun von e.on den Strom... Nach einer Stunde ist ooch der Strom wieder in die Dose gewesen. Können wir kochen.

Da fällt schon einiges auf: Die Monatsnamen etwa. „Septembrius“, „Octopus“ statt Oktober, „Novembrius“, „Decembrius“. Der Januar wird zum „Jaguar“, der Februar zum „Zebra“. So füllt sich flugs das Hexenhaus mit exotischen, wenn auch alten Dingen und Namen. Auch für die Wochentage. Typisch auch das Dialektmischmasch mit dem österreichischen „heraußen“ und dem Berliner „ooch“, das altertümliche „Wolkengebürge“ oder „itzt“ und saloppe Kürzel wie „drin“ und das „Sofa in mein Schreibzimmer“, auch mal umgestellt wie in „Können wir kochen“ statt „Wir können kochen“. In die Nähe solch familiärer Umgangssprache platzt oft genug die Politik, wie etwa die Stromversorgung im liberalisierten Markt.
Gern tanzt Sarah Kirsch auf dem schmalen Grat zwischen Wortschöpfung und Kalauer: „Ging spazoren“ oder „Nebul“ statt Nebel, „Fotuls“ statt Fotos, „Halftown“ statt Halberstadt. Das wirkt manchmal schon etwas dürftig und aufgesetzt. Wie überhaupt dieser Ton, diese Schreibweise so eingängig ist, weil die Zutaten überschaubar wenige bleiben. Immer wieder ist man hin- und her gerissen zwischen der Schlichtheit der Mittel und der Faszination ihrer magischen Wirkung.

Jetzt hab ich die Katzen gefüttert, die uralte Uhr aufgezogen und lese „Deutliche Worte“ von Nabokov. Sehr deutliche Worte. Uffsätze, Interviews (immer nur schriftlich) und Leserpost... Starker Westwind am Nachmittag. Es riecht nach Meer. Die Schwalben versammeln sich irgendwo, hier seh ich nur ab und zu mal eine oder zwei... Abends, als der Kater schon drin war, die Emily mit den Kuhglocken herbeigeläutet. Hört sie meilenweit. Und wenn sie will, kommt sie herbei. Über sieben Gräben muss sie gehen.

Da klingen die Merseburger Zaubersprüche durch, aber auch ein Hit der DDR-Pop-Gruppe KARAT. Diese Notizen stecken voll von unfertigen Gedichten und Erinnerungen, etwa an DDR-Zeiten. Sarah Kirsch lässt uns an ihrer Lektüre teilhaben: viel Poesie, aber auch so Ungleiches wie Proust und Harry Potter. Manchmal lästert sie über Kollegen. Sie hört Musik: Händel, Scarlatti und Mozart, Verdi, Schönberg und Jazz – oft eine Chiffre für ihre Befindlichkeit: „Mir geht es Glenn Gould.“
Wenig Menschen gibt´s in diesem Mikrokosmos, dafür viele Pflanzen und Tiere. Die Autorin kommentiert Wahlfälschungen in Georgien oder die Anschläge im Irak, erzeugt ständig erschreckende Kontraste, wenn sie Nachrichten aus der Welt mit Alltäglichem aus ihrer scheinbaren Idylle kombiniert. Die Tagebücher verraten viel über die Lyrikerin, über ihr Handwerk und ihre Sicht der Welt. Und wenn sie sagt: „Ich bin Pensionistin und darf in Ruhe vertrotteln“, sind eigentlich andere gemeint. Ein loses Mundwerk hat sie, aber auch einen faszinierend klaren Blick und Humor.

Sarah Kirsch: „Regenkatze. Tagebuchnotate“. Deutsche Verlagsanstalt (DVA), München, 143 S., 16,95 €

Mittwoch, 7. November 2007

Bank-Geheimnisse

"Das Konto" von Bernd J. Fischer: Ein Banken-Krimi par excellence

Bankiers als kriminelle Hütchenspieler mit Schlips und Kragen - dieses Bild kennt man spätestens seit der betrügerischen Herstatt-Pleite vor 40 Jahren nicht nur aus der Kriminalliteratur. Trotzdem ist es immer wieder verblüffend, wie wirklichkeitsfremd trotz aller erzählerischen Brillanz gestandene Schriftsteller mit solchen Stoffen umgehen. Dabei würde ich mir durchaus wünschen, dass ein Fred Brinersdorfer oder eine Uta-Maria Heim sich einmal mit dem badischen Bohrmaschinen-Luftikus Schmieder oder dem Frankfurter Baulöwen Schneider beschäftigen würden. Leider bisher Fehlanzeige. Auch die wendige Deutsche Bank unter Schweizer Vorsitz wäre ein Thema, aber die Dichter haben wohl Angst davor. Anders Bernd J. Fischer. Der Mann war selbst Bankier und hat in seinem ersten Krimi einen selbst erlebten Fall verarbeitet.
Der Plot ist im grunde einfach: Ein betrügerischer Kleinbankier aus Paris und sein Busenfreund, ein Jurist und ehemaliger Panzergeneral, kaufen kleine Banken und reißen sich die Konten reicher, aber alter oder schon verstorbener Anleger unter den Nagel. Manchmal helfen sie halt ein bisschen nach, wenn´s um den Sterbetermin geht, das Sterben selbst oder um falsche Testanmente, Verfügungen, Vollmachten und Erbscheine. Das Spiel geht so lange gut, wie das expandierende Firmenkonglomerat von Monsieur van Hout immer neue Institute dazu kaufen kann. Mit den dort geplünderten Konten lassen sich gefährliche Löcher an anderen Stellen stopfen.
Nach außen hin pflegt van Hout einen mehr als bescheidenen Lebensstil mit verschlissenen Menschetten, einem abgeschabten Lodenmantel und einem uralten kleinen Peugeot. Wer weiß schon von seinem Wasserschloss bei Fontainebleau, der teueren Geliebten oder der Immobilien-Sammelwut dieses Typs "Beamter mit Ärmelschonern"? Eigentlich findet er auch, er sei langsam zu alt für solche Spielchen. Aber einmal muss es noch sein: 10 Millionen EURO gilt es einzuheimsen von einem Konto, dessen Inhaber in Südamerika einem Unfall erlegen ist und keine Erben hat. Sein Konto bei einer kleinen Schweizer Bank ist verwaist. Van Hout kauft also die Bank und lässt das Konto peu a peu abräumen. Doch er hat die Rechnung ohne seinen neuen "Mann in der Schweiz" gemacht.
Dieser Bankier namens Hübner, geschäftsführender Direktor und Aushängeschild des Van-Hout-Konzerns in der Schweiz, trägt nicht zufällig die Züge des Autors. Wie der war er Filialchef einer französischen Großbank in der Schweiz und wollte sich verändern. Als seriöser Banker kommt er nicht nur schnell seinem unseriösen Konzernchef auf die Schliche. Durch seine guten Verbindungen in alle Welt gelingt es auch, van Hout und seine Komplizen zu überführen und dingfest zu machen.
So weit der Plot, wie ihn das Leben schreibt. Der Roman, wie ihn der als Autor noch neue, eben erst im Ruhestand angekommene Bern J. Fischer geschrieben hat, zeichnet sich durch seine Insiderkenntnisse, aber auch durch stilistische Brillianz, Witz und Tempo und aus. Die Sprache der Banker, die Beschreibung der Typen und Gepflogenheiten in dieser Branche, die Atmosphäre hinter den Kulissen der Schalterhallen, das alles ist so autenthisch niemals zu recherchieren. Das ist erlebt und glaubwürdig bis auf die zehnte Stelle hinter dem Komma (um im Buchhalterjargon zu bleiben).
Witz und Tempo, wie Fischer sie zelebriert, sind auch nicht gerade Eigenschaften, wie sie im Bankwesen üppig gedeihen - es sei denn, der Mehrzahl steuerzahlender Kontobesitzer wäre da etwas ganz Wesentliches entgangen. Kein Schmarrn, keine überflüssigen Floskeln, keine epischen Versuchsballons, sonder einfach eine schnörkellos und gut erzählte Geschichte: Geradlinig darf man dazu nicht sagen, weil der Bösewicht dauernd hakenschlagend die Richtung ändert und auch dem Leser einiges an Spürsinn abverlangt. Aber man kann sich ja an Fischers Herrn Hübner halten, dann weiß man auf jeden Fall immer mehr als die Polizei.

Bernd J. Fischer: "Das Konto". Roman. NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide OHG, Berlin, 284 Seiten.

Samstag, 3. November 2007

Klein, aber fein: Liechtenstein

Meine erste PEN-Tagung in Vaduz

Am 27. Oktober hatte der PEN-Club Liechtenstein seine Herbstsitzung in dem Liechtensteiner Dorf Schaan. Vom kleinen Hotel Dux aus waren die schönen Berge der Umgebung wegen Nebel erst am nächsten Tag bei der Abreise zu sehen: Schön wär´s gewesen. Ein Gruppenbild des Kollegen Henning Karl Freiherr von Vogelsang aus dem Inneren sollte als Illustration aushelfen, aber seine tolle Digitalkamera hat wohl zu viele Pixel und die Bilddatei war o groß, dass es Probleme gab: Also Blindflug. Die Anreise nach Liechtenstein aus Deutschland über die Autobahn Ulm-Kempten Richtung Bregenz ist unkompliziert, aber man muss auch für 24 Stunden eine 10-Tages-Vignette fürs Auto kaufen (7 €). Um nicht auch noch Schweizer Autobahnen für die restlichen paar Kilometer zu benutzen, fuhr ich bis Feldkirch und dann über die Landstraße.
Schaan ist nur wenige km vor Vaduz und das Hotel gut ausgeschildert.
Da waren dann die Autoren beisammen: Außer mit und dem Freiherrn der Präsident Manfred Schlapp, der Österreicher Karl Lubomirski aus Mailand, aus Zürich Andrea Willi und der Hells-Angels-Anwalt Valentin Landmann (er sprach am nächsten Morgen im Vaduzer "Schlössle" über sein Buch "Verbrechen als Markt" - hoch interessant), der Züricher Essayist Iso Camartin, der Liechtensteiner Kabarettist Mathias Ospelt und Ehrenpräsident Paul Flora. Ein überschaubares Grüppchen, und als Gast die in Rom lebende Heinrich-Ellermann-Stipendiatin Christine Koschel. Sie las ein Gedicht vor, das von ihrem Liechtenstein-Aufenthalt inspiriert ist, mit der schönen Schlusszeile "Du stehst in dir, Heimkehrer aus dem Exil". Dann erzählte sie von ihren Eindrücken bei der Lektüre der einheimischen Zeitungen, und schon waren wir mitten in einem zweistündigen, gepflegten Stammtischgespräch über Medien, Sprachverschluderung, Risiken und Möglichkeiten des Internet etc. Beim Abendessen konnte man das fortsetzen.
Am, nächsten Morgen kam tatsächlich nach dem Frühstück die Sonne durch, aber es blieb nach dem Frühstück und einem angeregten Gespräch im kleinen Kreis keine Zeit für die Bewunderung der Landschaft. Denn im nahen Vaduz sprach Valentin Landmann, Sohn der legendären Salcia Landmann ("Der jüdische Witz"), die vor 30 Jahren zu den Gründungsmitgliedern des PEN-Clubs Liechtenstein gehörte. Spannend wars, und viel zu kurz. Valentin ist ein freundlicher Hüne mit Jeans und Lederjacke, am breiten Gürtel trägt er eine Totenkopf-Kette als Symbol der Rockergruppe, der er auch selbst als friedliebender Jurist angehört. Erhellend: Sein Vergleich des Denkens von uns "Normalbürgern" mit dem Denken der Unter- und Halbweltler, die er so oft vor Gericht vertritt: Es ist das gleiche Gewinnstreben, die gleiche Durchsetzungsfähigkeit wie in den Chefetagen der globalen Wirtschaft, und erst juristische Fehlleistungen machen daraus oft ein kriminelles Milieu und einen Markt, der nicht sein müsste. Mittags löste sich schon wieder alles in Wohlgefallen auf und ich fuhr durch herbstbunte Wälder in relativem Schneckentempo heim zu meiner Frau und den Katzen.

Freitag, 2. November 2007

Sich der Religion stellen


Ulla Unseld-Berkéwicz über den "Verlag der Weltreligionen"

Der Exzess des Materialismus ein maßloser Rülpser, in dem die Menschen zu verschwinden drohen? Die Entzauberung des technischen Zeitalters als Trend für einen neuen Buchmarkt? Neuer Fanatismus in allen Religionen als Herausforderung an die Intellektuellen der Welt, das Rad der Aufklärung weiter zu drehen? Von all dem hat wohl ein bisschen zur Gründung des "Verlags der Weltreligionen" durch Suhrkamp-Insel beigetragen. Angestoßen hat das Projekt die Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz, die zu Hause gleichzeitig in jüdischen und christlichen Traditionen aufwuchs und früh schon Sanskrit lernte, um die indischen Veden und die Heiligen Bücher der Hindus und der Buddhisten lesen zu können. "Wenn Religiosität verschwindet, besteht die Gefahr, dass die großen Sprachen der Religionen verstummen - und damit irgendwann auch die Literatur", sagte sie im Vorfeld einer Pressekonferenz zur Gründung des neuen Verlags dem Magazin CICERO (10/2007). Schaut man in die Geschichte von Suhrkamp und Insel, so war dort kritische Auseinandersetzung mit Religion und deren essayistische Reflexion immer präsent.
Jetzt also erscheinen in diesem neuen Verlag bedeutende Originaltexte, teils neu übersetzt und erstmals wissenschaftlich kommentiert, teils überhaupt zum ersten Mal in deutscher Sprache: Das Bagavad-Gita, das Rig-Veda, wichtige Bücher des tibetischen Buddhismus, die "Bekenntnisse" des Augustinus ebenso wie die großen Hadithe der Muslime und die Mischna, die erste schriftliche Zusammenfassung mündlicher Rabbinerlehren aus der Zeit nach der Zerstörung des Tempels. Dass solche Bücher gleichzeitig in einem Verlag erscheinen, ist an sich schon etwas Besonderes und zeigt den globalen programmatischen Anspruch: enzyklopädisch, kosmopolitisch und entschieden aufklärerisch.
Dass sie in kostbarer Gestaltung und würdiger Editionstechnik auf exzellentem Papier und in Leinen gebunden erscheinen, zeigt den intellektuellen sowie kaufmännischen Respekt vor den Inhalten. Dass diese Bücher bezahlbar bleiben, ist das Verdienst einer Neuheit im deutschen Verlagswesen: Die Udo Keller Stiftung Forum Humanum bezahlt die Honorare der Autoren, Herausgeber und wissenschaftlichen Beiräte, Suhrkamp den Druck und den Vertrieb. Außerdem natürlich die Arbeitskraft seiner Mitarbeiter: Der Verlag der Weltreligionen profitiert von Suhrkamp-Know-How, Personal, Lektorat und Netzwerk. Startauflage für jedes Buch: 5000 Exemplare. Preis: je nach Umfang 14,80 bis 30 EURO. Zu den Originalausgaben kommen kritisch reflektierende Essays, z.B. gleich zu Anfang über den christlichen Fundamentalismus in den USA oder über das Wiedererwachen des Phänomens "Gotteslästerung" in öffentlichen Debatten. Da regiert nicht die Ehrfurcht, sondern die aufgeklärte Streitlust. Das Ganze ist eine wahre Fundgrube auf viele Jahre hinaus.
Verlagsleiter Joachim Simm hat im wissenschaftlichen Beirat alles aufgeboten, was Rang und Namen hat - von prominenten Theologen aller Klassen über Modeautoren wie Peter Sloterdijk bis hin zu exzellenten Denkern wie Jean-Pierre Wils ("Gotteslästerung") oder Ulrich Beck. Religion soll als gesellschaftliches Phänomen und historisch das Verlagsprogramm durchdringen, daher der soziologische Ansatz gleichberechtigt neben dem theologischen und philosophischen. Wissen über Religion soll in diesem Konzept nie kritiklos sein, aber immer eine Bereicherung. Dass da Konflikte vorprogrammiert sind, nehmen die Beteiligten in Kauf. Auch für diese Gelassenheit sollte man sie loben. Sie ist heute bei diesem Thema nicht selbstverständlich.

Donnerstag, 1. November 2007

Das Rad der Aufklärung weiter drehen

Gegen religiöse Rechthaberei

Zum Programmstart des neuen "Verlags der Weltreligionen" bei Suhrkamp-Insel erschien der Essay "Gotteslästerung" (210 Seiten. 17,80 €) von Jean-Pierre Wils.

Ich sprach mit dem Autor über seine spannende Auseinandersetzung mit einer Spezialform des Fundamentalismus, die sich nicht nur auf Muslime bezieht, obwohl der Mord an Theo van Gogh zu den Auslösern dieser Arbeit gehörte. Wils ist Professor für Kulturtheorie der Moral im niederländischen Nijmegen und beschreibt hier die historische Entwicklung, die Veränderungen und die Aktualität des Begriffs "Gotteslästerung" bzw. ihrer Bestrafung. Sein Buch verdeutlicht zudem programmatisch die Kehrseite der Medaille "Veröffentlichung großer Heiliger Schriften in neu übersetzten kritischen Textausgaben" in der neuen Suhrkamp-Tochter: den kritisch-analytischen Diskurs dazu.

Herr Wils, ein Buch über Gotteslästerung gleich zum Programmstart des „Verlags der Weltreligionen“ ist ja schon eine Provokation. Hat man Sie dafür schon mit dem Tode bedroht?

Wils: Keineswegs. Ich meine, die Gotteslästerung ist eine Provokation, aber nicht ein Buch über die Gotteslästerung, glaube ich. Die Gotteslästerung ist ein Vorwurf, der weltweit immer öfter im Kontext von verschiedenen Religionen erhoben wird. Und ich denke, dass deshalb ein Verlag, der sich mit den Weltreligionen beschäftigen muss, nicht ganz falsch liegt, wenn er sich deshalb mit dem Thema der Gotteslästerung auch beschäftigt.

Ich hab meine Frage trotzdem nicht nur spaßig gemeint. Ich hab grad gestern von einem Kollegen gehört, der über die Geschichte der Zensur in Südafrika zu Zeiten der Apartheid erzählte, dass es damals ein Buch über ein Pferd namens „Black Beauty“ gab, und das war nicht wegen des Inhalts verboten, sondern wegen des Titels.

Wils: Na ja gut, ich meine man muss sich auf alles gefasst machen. Also die Gotteslästerung ist eine kulturelle Größe, denk ich, mittlerweile, d.h. sie ist anwesend in verschiedenen Kulturen. Also ich denke, dass man in Europa lange Zeit geglaubt hat, sie sei zu einem reinen Anachronismus eigentlich erstarrt. Mittlerweile ist das nicht mehr der Fall. Sie ist regelrecht revitalisiert und spielt also im interkulturellen Konflikt eine wesentliche Rolle. Kritische Bücher über die Gotteslästerung – und ich glaube, mein Essay gehört zu diesen Büchern, er warnt geradezu vor der Revitalisierung der Gotteslästerung – werden mit Sicherheit eigentlich in jenen Religionen, die sich die Gotteslästerung wieder als eine Art der Selbstpräsentation gewählt haben, mit Sicherheit eben auch sehr kritisch betrachtet.

Sie stellen sich ja, wenn ich das so kurz zusammenfassen darf, mit Ihrer Thesen in den Traditionszusammenhang einer ganzen Gruppe von Leuten, die argumentieren, religiöser Fanatismus und der Vorwurf der Gotteslästerung, mit so etwas heute noch zu arbeiten, im 21. Jahrhundert, sei signifikant für eine Instrumentalisierung der Religion durch Politik. Sehen Sie das ausnahmslos so, oder gibt es da markante Unterschiede zwischen den Religionen?

Wils: Ja, die gibt es selbstverständlich. Aber ich bin auch nicht der Meinung, dass der Vorwurf der Gotteslästerung eine Form des politischen Missbrauchs von Religion ist. Also: Die Gotteslästerung ist, jedenfalls in den drei abrahamischen Religionen, aber nicht nur dort, ein genuiner Bestandteil des Selbstverständnisses dieser Religionen. Also es nicht der Missbrauch der Religion, wenn man die Gotteslästerung als Vorwurf gegen andere, gegen die Nichtgläubigen oder jene, die die Ehre Gottes nicht entsprechend respektieren, benutzt, sondern es ist ein genuiner Ausdruck von religiöser Rechthaberei, wenn man so will. Also es ist auf gar keinen Fall nur der Missbrauch der Religion. Wenn es ein Missbrauch wäre, dann müsste man erhebliche Teile der Religionsgeschichte neu schreiben.

Das macht die Sache ja nicht gerade unkomplizierter. Denn bisher hat man dieses Argument sehr oft gehört, wenn vom politischen Islam beispielsweise die Rede war, der gern als Talibanisierung oder auch als Steinzeitislam bezeichnet wurde. Sie greifen also wesentlich weiter aus.

Wils: Ja, auf jeden Fall! Die Gotteslästerung ist ja auch im Bereich des Christentums bis weit in das 19. Jahrhundert hinein ein authentischer Bestandteil der Religionspolitik. Also es ist ja nicht so, dass die Gotteslästerung etwas ist, mit dem wir dank oder wegen des Islams konfrontiert werden. Sondern, noch einmal: Dieser Vorwurf der Gotteslästerung bzw. der Schutz der Ehre Gottes – und damit auch über weite Strecken der Schutz der Orthodoxie, der Rechtgläubigkeit gegen die Häresie – ist ein ganz substanzieller Bestandteil auch der Christentumsgeschichte!

Ich habe vor ein paar Jahren ein Buch gelesen über den Fundamentalismus in den USA. Und da war ich doch sehr überrascht, wie brutal und bis hin zum Massenmord: Ganze Familien sind da ausgelöscht worden in den letzten Jahrzehnten oder in den letztern 5-20 Jahren, das auch gehen kann in christlichen Zusammenhängen auch. Also: Wenn man glaubt, durch den Lebenswandel einer Frau sei Gotteslästerung betrieben, und deswegen muss diese Frau mit ihrem neuen Ehemann und ihren Kindern dran glauben und man zieht denen das Messer durch die Gurgel, dann ist das ja schon sehr gegenwärtig (nicht 19. Jahrhundert!), dann ist das nicht nur eine abstrakte Hypothese, da ist nichts Akademisches mehr, nicht?

Wils: Nein, Keineswegs! Also der Vorwurf der Gotteslästerung war immer und ist immer noch eine eminent politische Äußerung von Religion, also ich meine politisch im Sinne der Äußerung von Religion in der Polis, in der Gemeinschaft, in der Kommunität. Also insofern ist das auch gar nichts Exotisches, das ist nichts Akademisches, also ganz im Gegenteil eigentlich. Die Gotteslästerung ist ein wesentlicher Bestandteil von vielen Religionen.
Und die Wiederkehr der Gotteslästerung auf dem politischen Parkett, wenn man so will – also ich red jetzt nicht von den gelegentlichen Blasphemievorwürfen eigentlich im Kontext von Kunstwerken, von ästhetischen Expressionen – also diese Wiederkehr der Gotteslästerung ist ein Exponent der Wiederkehr von Religion überhaupt auf der politischen Bühne.Wie ich schon sagte: Das ist kein Randthema, das ist nicht Religion marginalisiert, sondern die Gotteslästerung gehört zu den substanziellen, wesentlichen, zentralen Bestandteilen von Religion überhaupt.

Sollte man nicht ergänzend sagen: Der organisierten Religion?

Wils: Das stimmt. Die Praxis der Verfolgung der Gotteslästerung unterstellt natürlich eine gewisse institutionelle Verfasstheit von Religionen. Und dort, wo die Grade der institutionellen Verfasstheit am intensivsten sind, wo eigentlich auch die Wahrheit am aufwändigsten gehütet wird, und wo die institutionellen Vorkehrungen zu dieser Bewachung der Wahrheit am ausgeprägtesten sind, da wird man ja auch am ausgeprägtesten diesen Vorwurf der Gotteslästerung wiederfinden.

Lektüre zum Einschlafen


Der Philosoph und Hirnforscher Dennett polemisiert gern
„Wie kann es sein, dass sich Zellen, selbst Zellen mit Bewusstsein, die ihrerseits nichts über Kunst, Hunde oder Berge wissen, zu einem Ding zusammenfügen, das bewusste Gedanken über Braque, Pudel oder den Kilimandscharo hat?“ – Wegen solcher Sätze wurde Daniel C. Dennett berühmt und beliebt. Der amerikanische Erkenntnistheoretiker kämpft seit 20 Jahren gegen die Vorstellung seiner Zunft, das Bewusstsein liege außer Reichweite der Naturwissenschaften. Er hält diese Vorstellung zu Recht für ein schweres Forschungshindernis, aber die Antwort auf seine Eingangsfrage bleibt er schuldig.
Im Übrigen ist der Mann ein schrecklicher Besserwisser, manchmal geradezu kindisch albern in seiner Streitsucht, in seiner Eitelkeit (wer zitiert sich schon dauernd selbst?) oder in seinem scheußlichen Fachjargon („intrinsische phänomenale Charaktere“). Könnte er nicht einfach sagen: Inzwischen haben wir diese und jene Tests aus Biologie und Medizin, die klar machen, dass das Bewusstsein mechanisch funktioniert?
Umständlich beschreibt Dennett Gedankenexperimente über Phantome, die andere Haarspalter erfunden haben (z.B. „Zombies“, die nur so tun, als ob sie Bewusstsein hätten, oder „Qualia“ – nur um zu beweisen, dass die kein Mensch definieren kann). Statt dessen könnte er dem Leser einfach raten, beim Thema Bewusstsein von Naturwissenschaftlern zu lernen. Doch leider versickern seine kluge Analysen in Polemik. Also formuliere ich den Kern seines Buches selbst: Man kann das Bewusstsein durch Medikamente ein- und ausschalten, also ist es ein Mechanismus wie der Schlaf. Der kommt zwar nur im Untertitel vor, ist aber in zweierlei Hinsicht ständig präsent. Denn erstens ist Schlaf ja ein Bewusstsein im Ruhezustand, und zweitens ist dieses Buch eine prima Lektüre zum Einschlafen.
Daniel C. Dennett: „Süße Träume. Die Erforschung des Bewusstseins und der Schlaf der Philosophie“. ISBN 978-3-518-58476-7. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 216 S., 24,80 €.

Montag, 8. Oktober 2007

Schönheit gegen Tod

SWR2 Buchkritik vom 2. Oktober 2007 über Karl Lubomirski

© Widmar Puhl (4´35)

Vielleicht ist Dunkelheit
Unerkanntes Licht.

Vor allem mit solchen Gedichten, eigentlich nur einzelnen Versen an der Grenze zum Aphorismus, hat Karl Lubomirski die italienischen Leser begeistert. Jetzt hat sein zweisprachiger, deutsch-italienischer Gedichtband „Gekenterte Zeit – Tempo naufragato“ unter mehr als 350 Bewerbungen einen ungewöhnlichen Literaturpreis erhalten: den PREMIO INTERNAZINALE DI CASTROVILLARI. Castrovillari kennt hierzulande kein Mensch, aber das könnte sich ändern. Die malerische Kleinstadt unweit von Neapel beherbergt, ähnlich angesehen wie bei uns die Bayerische Akademie der schönen Künste, die Akademie der Künste von Kalabrien. Und die verleiht seit drei Jahren den einzigen internationalen Literaturpreis Italiens.
„Gekenterte Zeit“: Der Buchtitel steht für die Einsamkeit des heutigen Menschen, den Verlust Identität-stiftender Traditionen und Orientierungsgefüge. Der so genannte „Platz in der Welt“ – Heimat, Nationalität, Religionsgemeinschaft, Familie, Beruf, Sicherheit jeder Art auch in lange bewohnten Gebäuden des Denkens und der Kultur, existiert für Lubomirski nur noch in der Sprache.


DIE VERTREIBUNG

Wo ich aufwuchs
ist nichts mehr
Man hat mein stilles Freuen abgerissen
Man hat den Reichtum meiner Armut
übertönt
Schlösser vorgelegt
Die von blauen Blumen
nicht mehr wissen.
Wo ich aufwuchs
ist nichts mehr.

Der Ort dieser Kindheit ist gleichermaßen Krakau wie Warschau, Auschwitz oder Innsbruck. Geschrieben hat er über all diese Orte. Karl Lubomirski, der Tiroler polnischer Herkunft, lebt seit über 30 Jahren in Italien. Doch wirkliche Heimat findet er nur in der Sprache. Selbst- und Weltvergewisserung, das ureigenste Anliegen der Poesie, verfolgt dieser Autor mit einer eigentümlichen Sprache. Seine Worte und Bilder sind scheinbar alltäglich und doch vielschichtig. Gerade dadurch finden sie die Kraft neuer Faszination und Bedeutung.
Alles Große ist einfach. Diesem Grundsatz folgen auch die Wortwahl und Rhythmik in Lubomirskis Gedichten. Eine autobiographische Grunderfahrung, lakonisch und knapp formuliert, wird genau deshalb nachvollziehbar und gewichtig-allgemeingültig in dem Gedicht EMIGRATION:

Man ist gewohnt fort zu sein
und freut sich hie und da
geliebten Menschen zu schreiben
ohne sich zu erinnern,
dass sie nicht mehr sind.

„Ohne sich zu erinnern“: Da ruft Lubomirski diese Bewusstlosigkeit an, die, ähnlich wie die Macht der Gewohnheit, so tödlich ist für Gefühl und Verstand. Doch ohne sich zu erinnern, dass die geliebten Menschen nicht mehr sind, sind sie eben doch wieder ganz präsent. Das ist mehr als ein sprachlicher oder psychologischer Kunstgriff. Hier weckt der Autor sehr subjektiv, aber absolut nachvollziehbar die bedrohte Erinnerung wieder zum Leben. Das Sich-Erinnern ist ein Innenraum des Menschen, der anders als die erinnerte Kindheit unzerstörbar ist. Und wenn das Gedicht die Erinnerung auf den Leser überträgt – ganz gleich, wie – dann entsteht Kunst, die auch das physische Ende des schreibenden Individuums überlebt.
Solche Dichtung bleibt die einzige Gewissheit, der einzige Anker in einem Meer der Ungewissheiten. Sie wird Lebenssinn, Lebensnotwendigkeit – und für den Dichter einzige Lebensmöglichkeit. Mit dieser Radikalität entschlüsselt Lubomirski die ewigen Fragen nach dem Göttlichen, nach der Zeit, aber auch nach den Anregungen der äußeren Welt, den Orten und Menschen, die ein Leben umgreift, nach der Natur, und nach Gefühlen wie Trauer und sinnliche Liebe.


UNS
Denen der Abend näher als der Morgen
schmecken die Küsse anders
Reisen schmecken uns anders und Abschiede.
Wir glauben dem Fell der Tiere
und den Revolvergriffen in Nachttischladen
und Seneca.
Uns
denen Abend näher ist als Morgen
bedeutet Brot mehr
und wer uns umarmt
macht uns zur Sonne.

Solche Sprachkunst hätte auch im deutschen Original für ihre Musikalität, gedanklichen Präzision und Weisheit einen Literaturpreis verdient.

Karl Lubomirski:
“Gekenterte Zeit – Tempo naufragato“, Gedichte. Verlag Viennepierre edizioni, Mailand, 194 Seiten, 18 €.

Freitag, 5. Oktober 2007

Liebeslyrik einmal anders

Eine Anthologie zum Thema Erotik:
"Und dann und wann galant": Verlag der Studiengalerie, Stuttgart, 64 Seiten auf Büttenpapier, 38 €. Herausgegeben von Günter Guben und Klaus Bushoff (Illustrationen)

Am Donnerstag, den 2. Oktober 2007 gab sich eine ungewöhnliche Schar ein Stelldichein in der Galerie ART, einem ohnehin bunt gemischten Kulturtreff im Stuttgarter Bohnenviertel (Rosenstraße 37, um die Ecke vom Schriftstellerhaus in der Kanalstraße 4). Die Herausgeber einer etwas anderen Anthologie erotischer Texte von frei erfundenen AutorInnen stellten im Rahmen einer Marathonlesung die eigentlichen Urheber vor - und natürlich das lachslosa (wie Reizwäsche?) Buch. Es waren erstaunlich viele gekommen, und so hatte das ebenfalls zahlreiche Publikum zwei Stunden eine Kostprobe nach der anderen zu goutieren, bevor man sich an Salzbrezeln und Wein erfrischen durfte. Lange ging´s dann im Zwie- oder Gruppengespräch weiter.
Abwechslungsreich und anregend sei´s gewesen, meinten die Besucher. Seltsam, bloß ich schien etwas genervt und müde nach einem langen Arbeitstag in Baden-Baden. Aber auch ich traf anregende neue Menschen und kam zwei Stunden später heim als geplant - leider stocknüchtern. Mein bescheidener Beitrag folgt ganz unten. Er ist aber eine abgespeckte und an deutsche Verhältnisse angepasste Version, die ich einem erfundenen Autor in die Schuhe schieben konnte; denn das war ja verlangt.
Inspiriert wurde das Ganze tatsächlich vom ehemaligen "Guerrilla-Groupie" Gioconda Belli aus Nicaragua. Bei einem zweiten ausgiebigen Interview Ende 2005 waren wir schon wie zwei alte Freunde auseinander gegangen: Die (immer noch rassige) Frau aus den Tropen gab mir rechts und links einen Kuss auf die Wange, und danach überlegte ich, was man aus sowas macht.
Erst einmal entstand - bisher für mich einmalig und solitär - ein Gedicht in spanischer Sprache, das die Geschichte dieser Begegnung mit einer phantasievollen Huldigung an die Meisterin der erotischen Lyrik in ihrer Muttersprache verbindet. Es steckt voller Anspielungen auf Giocondas eigene Gedichte, und die klingen eben nur auf Spanisch. Versuchen Sie einmal, das laut zu lesen: Diese Verse sind Musik. Sie nehmen den Rhythmus der Verse von Gioconda Belli auf und wandeln sie ab - mit der Selbstironie eines Mannes, der seine Grenzen kennt, seit er das Gedicht "Fahrprüfung" von Gioconda gesprochen in Tübingen hörte. 2001 mag das gewesen sein. Und da ging´s um einen Kurs durch die Kurven ihres Körpers, hingestreckt auf der Landkarte ihrer tropischen Heimatstadt Managua, aus deren Zoo gefährliche Panther, Anacondas und andere Raubtiere der erotischen Phantasie einen ungewöhnlichen Biss geben.
Ob ich größenwahnsinnig geworden bin? Ja, ein bisschen schon. Aber ich habe Spanisch studiert, und zu meiner Ehrenrettung sei gesagt: Ich habe mir auch von Freunden in Spanien mein Gedicht lektorieren und in einigen kniffligen Fragen korrigieren lassen. Gioconda bekam´s dann zu Weihnachten und bedankte sich artig. Später hab ich das Ding dann übersetzt, aber es war einfach nicht gut. Hier folgen erst einmal das Original auf Spanisch und dann die Übersetzung - und erst ganz am Ende mein Beitrag für die Anthologie.











Besos de Gioconda


Hay tales momentos como ese
Hay encuentros como ese con la poetisa
Una mujer tropical en ambientes norteños
Una pequeña ciudad medieval alemana
En el maduro verde de un valle mientras
El sol rompe nieblas silvestres otoñales
Me entregó su vida de pasiones
Y al despedirse un beso nicaragüense
Que digo: dos besos mundiales
De la reina de todos los besos
Dos me dio, francamente
Uno en cada mejilla
Pensando en no lavarme jamás
El afeitado cotidiano destruye los sueños de la noche.
También a mi mujer una barba musulmana
Pudiera parecer algo de atentado
A mí, como pobre esclavo de letras,
¿Qué me queda que conservar estos besos
En mermelada de verso
En escritura, imagen, potencial eléctrico?
Sí, existen tales momentos reales y fugitivos
Dilatados, resumiendo decenios en segundos
Relámpagos sinapsiales
Tormentas químicas
Los ojos unos abismos oceánicos
Llenos de peligro, y a la vez,
Calderas volcánicas
La voz gutural susurrante seducción
Si, de veces hay besos reales y fugitivos
Mariposas en la mejilla
Golondrinas incomprensibles
Momentos mágicos de ligera gravidez
Küsse von Gioconda
Es gibt solche Augenblicke wie diesen
Es gibt solche Begegnungen wie die mit der Dichterin
Die Frau aus den Tropen und ich
In Schwäbisch Hall
In einem engen nordischen noch grünen Tal
Sonne brach durch die Herbstnebel
Leidenschaftlich erzählte sie
Von ihrem Leben von ihren Leidenschaften
Zum Abschied ein Kuß aus Nicaragua
Was sag ich: zwei Küsse gab sie mir
Königin aller Küsse dieser Welt
Einen auf jede Wange
Ich dachte daran, mich nicht mehr zu waschen.
Doch schon die erste Morgenrasur zerstörte den nächtlichen Traum.
Außerdem könnte ein Prophetenbart für meine Frau
Etwas von einem Attentat an sich haben
Was bleibt einem armen Wortknecht da anderes übrig
Als diese Küsse in Verse zu verwandeln?
Als sie verwandelt zu bewahren
In der Schrift, im Bild, in elektrischer Spannung?
Ja, es gibt solche Augenblicke, wirklich und flüchtig
Nie endende Augenblicke, wenn Jahrzehnte zu Sekunden werden
Synapsengewitter
Chemische Stürme
Augen wie Tiefseegräben
Augen wie Magmaseen
Gefährlich
Kehlige Stimme der Verführung
Ja, manchmal gibt es solche Küsse, wirklich und flüchtig
Schmetterlinge auf den Wangen
Unverständliche Schwalben
Magische Augenblicke gravierender Leichtigkeit

Und nun, was wurde daraus? In Günter Gubens Anthologie liest sich das dann so, wie es - losgelöst von dem schwer wiederholbaren und für den Autor einmaligen Anlass, harmlos und allgemeingültig einem deutschen Publikum anbieten kann. Bleibt mir nur, mich bei José F.A, Oliver zu entschuldigen, den ich als unschuldigen, nichtsahnenden Nachbarn meines Pseudonyms mit in die Sache hineingezogen habe:

Subcomandante Nicolás
Subcomandante Nicolás ist nicht, wie von vielen Fachleuten vermutet, ein Pseudonym des 1961 in Hausach geborenen spanisch-stämmigen deutschen Dichters José F. A. Oliver, sondern – genau umgekehrt – ein spanisch schreibende Deutscher und einer der feurigsten Autoren spanischer Liebeslyrik. Noch ist er aber erst für die deutsche Literatur zu entdecken. Ursprünglich hieß er Klaus B., und geboren wurde er 1950 in dem idyllischen Schwalzwaldort Schiltach. Die geographische Nähe zu Olivers Geburtsort Hausach gab wohl Anlass zu der Spekulation, Subcomandante Nicolás sei identisch mit Oliver, aber erwiesenermaßen wissen die beiden nicht einmal voneinander. Klaus B. las als junger Mann Liebesgedichte von Giocnda Belli, die wegen ihrer Freizügigkeit berühmt wurde und weil sie für die Guerrilleros von Nicaragua zur Kalaschnikow griff. Als die Sandinistenbewegung 1979 den Diktator Somoza stürzte, reiste Klaus B., den seitdem in seiner Heimat niemand mehr kennen will, mit der Stuttgarter DGB-Jugend als Helfer zur Kaffee-Ernte nach Nicaragua. Er lernte sein Jugendidol kennen und lieben, blieb als Kämpfer gegen die US-gestützten Contra-Invasoren im Land und erwarb sich den militärischen Dienstgrad eines Unteroffiziers der sandinistischen Volksarme. Ironisch nahm er die (falsche, nur scheinbar) wörtliche Übersetzung Subcomandante als neuen Familiennamen an. Seine Gedichte sind sämtlich von seiner großen (inzwischen anderweitig glücklich verheirateten) Liebe Gioconda Belli inspiriert, in Spanischer Sprache verfasst und bis heute nur in einzelnen Fragmenten übersetzt. Das Gedicht „Wie ein Blitz“ entstand offenbar kurz nach der ersten Begegnung:

Ein zeitloser Augenblick
Wirklich und flüchtig
Sekunden dehnten sich zu Jahrzehnten
Synapsengewitter
Chemische Stürme
Augen wie Tiefseegräben
Augen wie Magmaseen
Kehlige Stimme der Verführung
Gefährlich
Eine hungrige Boa constrictor
Küsse
Wirklich und flüchtig
Schmetterlinge auf Wangen
Unverständliche Schwalben
Magische Augenblicke gravierender Leichtigkeit

Brenners Parkhotel von unten


Meine Unterkunft im September

So gemütlich bringt man in Brenners Parkhotel zu Baden-Baden das Personal unter. Das erste Haus am Platz (5 Sterne) kann ich mir als Gast nicht leisten, aber als SWR-Mitarbeiter hatte ich im September das Vergnügen, eine dieser Unterkünfte für 270 € im Monat zu bewohnen. Das ist die Realität eines Abkommens zwischen Brenners und SWR für Praktikanten, Auszubildende, Hospitanten oder für eine Übergangszeit auch alte Knacker wie mich, die eine bezahlbare Zweitwohnung suchen. Die jungen Kellner und Kofferträger in meiner Nachbarschaft waren rücksichtsvoll, höflich und leise. Das Lauteste war die klopfende Heizung, die ich an einzelnen kalten Abenden als Untermalung zum Radio hörte. Gottseidank nur von Montag bis Donnerstag. Am Freitag fuhr ich nach dem Mittagessen heim; denn in dieser kuscheligen Mansarde reichte die Beleuchtung kaum zum Lesen, der Tisch wackelte, der Schrank war nicht verschließbar - da arbeitet man gerne länger im Büro, um die Woche rumzukriegen.

Freitag, 21. September 2007

Blendende Unterhaltung, fundierte Bildung

Steffen Jacobs: “Der Lyrik-TÜV. Ein Jahrhundert deutscher Dichtung wird geprüft“

Dass von jedem großen Dichter nach allem Schaffen und Wirken abzüglich unvermeidlicher Verirrungen gerade mal sieben (acht? Sechsdreiviertel?) haltbare, die Zeiten überdauernde Gedichte übrigblieben: Eine rhetorisch geschickt eingefädelte und entsprechend einprägsame Behauptung ist das, aber ich glaube kein Wort davon. Allein aus Benns vergleichsweise schmalem lyrischen Werk würden mir geschätzte vierzig Gedichte einfallen, die ich für einzigartig und unwiederholbar halte.

Steffen Jacobs, geboren 1968 in Düsseldorf und selbst ein von der FAZ gelobter Lyriker, hat einen fatalen Mangel bei der Wahrnehmung von Lyrik entdeckt: [Das Werk vieler Dichter ist zugunsten zeitgenössischer Leser oft bis zur Unkenntlichkeit zerpflückt worden.] Auswahl- und Sammelbände liegen im Trend, weshalb Lyriker meist nur noch mit Bruchteilen ihres Werkes identifiziert werden – leider nur mit den plakativsten und nicht immer den besten. Also bricht der Autor eine Lanze für das Gesamtwerk. Sein Buch „Der Lyrik-TÜV“ ist dem eigenen Anspruch entsprechend auch kein literarischer Schnellimbiss, sondern mit 350 Seiten ziemlich dick.
Und trotzdem macht er Appetit auf mehr. Das liegt an der ebenso sachkundigen wie unterhaltsamen Art, mit der Jacobs berühmte Poeten unter die Lupe nimmt. Wilhelm Busch, Gottfried Benn, Hans Magnus Enzensberger und weitere Eckpfeiler der Dichtkunst leuchten da in einem neuen, weil differenzierten Licht.
Mehr Licht zum Beispiel fällt auf Wilhelm Busch, der nur als reimender Witzbold bekannt ist. Jacobs zeigt aber auch die sprachliche Präzision, die gedankliche Schärfe und die Beobachtungsgabe eines ernsten Gesellschaftskritikers aus der Zeit der Prügelstrafen. Er demonstriert, wie vom „Eispeter“ über „Max und Moritz“, „Pater Filuzius“ und „Die fromme Helene“ bis hin zu „Plisch und Plum“ eine biografisch induzierte Wut das Werk durchzieht. Busch macht schwarzen Humor literarisch und pädagogisch fruchtbar. Speziell in dem Gedichtband „Zu guter Letzt“ aus dem Jahr 1904 aber bestätigt Wilhelm Busch seine nachdenklichen und gesellschaftskritischen Qualitäten. Ohne Selbstmitleid macht er Gefühle wie Melancholie nur intensiver, wenn er sie in lakonischer Verknappung dämpft.


Wer einsam ist, der hat es gut,
Weil keiner da, der ihm was thut.
Ihn stört in seinem Lustrevier
Kein Thier, kein Mensch und kein Klavier.
Und niemand giebt ihm weise Lehren,
Die gut gemeint und bös zu hören.
Der Welt entronnen geht er still
In Filzpantoffeln, wann er will.
Sogar im Schlafrock wandelt er
Bequem den ganzen Tag umher.
Er kennt kein weibliches Verbot,
Drum raucht und dampft er wie ein Schlot.
Geschützt vor fremden Späherblicken,
Kann er sich selbst die Hose flicken.
Liebt er Musik, so darf er flöten,
Um angenehm die Zeit zu tödten,
Und laut und kräftig darf er prusten,
Und ohne Rücksicht darf er husten,
Und allgemach vergisst man seiner.
Nur allerhöchstens fragt mal einer:
Was, lebt er noch? Ei schwerenoth,
Ich dachte längst, er wäre todt.
Kurz, abgesehn vom Steuererzahlen,
Läßt sich das Glück nicht schöner malen.
Worauf denn auch der Satz beruht:
Wer einsam ist, der hat es gut.


Ein paar Schatten fallen dagegen schon auf [den eingangs geehrten] Gottfried Benn. Dessen maßlose Eitelkeit führte ja unter anderem zu des Dichters peinlicher Kurzallianz mit den Nazis. Und seine menschliche Rücksichtslosigkeit vor allem gegen Frauen war dem Künstler manchmal doch sehr im Weg beim kreativen Schaffen.
Auch auf Rilke fällt so ein Schatten. Diesmal der des Flüchtigen, Schludrigen, vor allem im Frühwerk, während der TÜV-Prüfer das Spätwerk lobt. Typisch, wie Jacobs die Selbstbesoffenenheit des großen Ergriffenheitsproklamators Rilke als die eines großen „Unvollendeten“ charakterisiert:


Hören wir doch einmal genau hin:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.

Übergroße Bescheidenheit kann man dem lyrischen Ich aller Selbsteinsicht zum Trotz kaum zusprechen: „Ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm / oder ein großer Gesang.“ Warum Falke und nicht, sagen wir, eine Amsel? Warum ein großer Gesang und kein, na, frisches Lied? Und dann sehen Sie mal, wie er mit Gott umspringt: „Ich kreise um Gott, um den uralten Turm“. Selbst als gesalbter Atheist kann man guten Glaubens sagen: So geht das nicht. Da wird das immerhin respektgebietende Kulturprinzip des Monotheismus auf ein Stück alter Bausubstanz heruntergedichtet, um die man ohne weiteres im lyrischen Kreisverkehr herumflitzen kann.

Vollends düster wird es, um im Bild von Licht und Schatten zu bleiben, bei Stefan George und Durs Grünbein. Denen bescheinigt der Prüfmeister, den Hohen Ton großer Dichtung durch leeres Geschwafel und bildungsbürgerlich-elitäre Selbstbeweihräucherung in Verruf gebracht zu haben. George und Grünbein liegen zwar 100 Jahre auseinander, doch im Urteil des Lyrik-TÜVs sind sie enge Verwandte: handwerklich perfekt, aber alles andere als originell.

Vom Jugendstil-Dandytum bis zum völkisch-germanischen Rassismus schnappte George auf, was die Zeit im Sonderangebot hatte, und hat es dabei verblüffenderweise noch geschafft, von den Zeitgenossen als ein der Zeit und Gegenwartswelt Entrückter wahrgenommen zu werden.

Jetzt muss noch einmal Lyrik zitiert werden, nämlich Durs Grünbeins Gedicht „Alzheimer Engel“:


Alzheimer: heißt so das Ende der Schrecken?
Kranker Engel, du weißt, was geschieht
Ist Geschichte, - danach. Laß sie stecken,
Deinen Bann, deinen Fluch. Wer dich sieht,

Lebt im Glück der Vertreibung. Das Böse
Gibt sich politisch. Es hat kein Gesicht.
Arbeitslos stehst du, taub im Getöse
Des Zeitvertreibs vor dem Jüngsten Gericht.

Das wirkt auf den ersten Blick bedeutend, entpuppt sich aber auf den zweiten als unernste Effekthascherei mit ernsten Themen. Originell sind hier nur die Reime, meint Jacobs:



Wer sich nicht blenden lässt, denkt vielleicht eher an einen prahlenden Youngster als an einen reifen Lyriker. Unser Dichter freilich ist nicht zwanzig, sondern siebenunddreißig Jahre alt, Büchner-Preisträger, Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung und hochgefeiert als das herausragende lyrische Talent seiner Generation. Dürfen wir von ihm nicht mehr erwarten als ein paar schmissig in Versform gebrachte Feuilletonphrasen? Wir dürfen.

So kluge, scharfsinnige und witzige Analysen ohne Katzbuckelei vor großen Namen liest man selten.

Steffen Jacobs:

“Der Lyrik-TÜV. Ein Jahrhundert deutscher Dichtung wird geprüft“. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 350 Seiten, 30 €.

Donnerstag, 20. September 2007

Die Pianistin Yubo Zhou in Baden-Baden



Beethoven und Chopin Chinesisch interpretiert


Selten kann man so etwas hören: Die junge Chinesin Yubo Zhou, die eben in Freiburg ihre Ausbildung als Konzertpianistin abgeschlossen hat, spielt wie ein Mann - aber viele männliche Pianisten würden sich wünschen, zu spielen wie sie. Ein zartes Persönchen ist sie, mit Händen und Fingern, die zerbrechlich wirken und in denen doch eine enorme Kraft steckt. Als Vorbereitung auf internationale Wettbewerbe, zu denen sie im Oktober nach Portugal und Italien reist, war sie der Einladung von Wolfgang Seiter aus Baden-Baden gefolgt, der als Dilettant im besten klassischen Sinn des Wortes, als begeisterter Liebhaber von Malerei und Musik, immer wieder internationale Künstler in seinen Zirkel nach Baden-Baden holt.
Yubo Zhong spielte in einem Nebenzimmer des Kurhaus-Restaurants just am 20. September, dem Tag, an dem die ganze Stadt im Zeichen des SWR New Pop Festivals stand. Gleich nebenan strömten die Fans, feierten lautstark ihre Stars: im Casino und in Zelten auf öffentlichen Plätzen der Innenstadt war der Teufel los. Im Nachbarsaal tagte eine andere Gesellschaft, bei der Reden gehalten wurden, Applaus störte, Neugierige die Seiten wechselten und Türen auf- und zu gingen. Unmögliche Bedingungen also, unfaire Konkurrenz außerdem, aber Yubo Zhou schien das lediglich als Herausforderung zu betrachten. Vor einem kleinen Kreis von vielleicht 40 Zuhörern spielte sie mit einer Leidenschaft, als läge ihe die Carnegie-Hall, die Royal Albert Hall oder doch zumindest das nahe Festspielhaus zu Füßen (dort war aber an diesem Abend alles dunkel. Ach Leute, was habt ihr verpasst!). Was man hören konnte, war unterschiedlich perfekt; manchmal wurde deutlich, dass hier ein Training unter erschwerten Bedingungen stattfand. Die Künstlerin probierte erkennbar gelegentlich etwas aus, ging zugunsten der künstlerischen Interpretation an technische Grenzen - und da läuft auch mal etwas schief. Aber wann kann man das in den großen Konzertsälen je erleben? Und da wird sie spielen. Yubo Zhou hat nicht nur das Talent, sie hat eine unglaubliche Technik und sowohl die physischen als auch die mentalen Voraussetzungen, um an die Weltspitze zu kommen.
"Seit 20 Jahren spiele ich Klavier", sagte sie nach dem Konzert. "Meine Mutter hatte mir verboten, auf der Straße mit den anderen Kindern zu spielen. Also habe ich jeden Tag acht Stunden Klavier gespielt."
Beethovens Klaviersonate A-Dur op. 02 Nr. 2 stand bei ihrem ersten Konzert in Baden-Baden auf dem Programm, das Scherzo E-Dur op. 54 von Chopin, die Prelude aus "Feux d´artifice" von Debussy, die Vertonung der Undine-Sage "Ondine" von Ravel und schließlich die Sonate h-Moll op. 58 von Chopin. Und als hätte sie sich nun warm gespielt und als wäre alles bis dahin nur Vorspiel gewesen, erreichte sie bei Chopin wahre Perfektion. In einem ungewöhnlich harmonischen Gleichklang aus technischer Virtuosität und tiefem Gefühl stimmte jede, auch noch die kleinste Nuance ihres Vortrags.


Auch Kenner im Publikum waren hingerissen. Ich sowieso. Das Besondere war die intimne Atmosphäre dieses Abends - eher einer Lyriklesung oder einer Jam-Session vergleichbar. Mit einer jungen Künstlerin, die wirklich etwas zu bieten hat und die gerade mit jener Ochsentour beginnt, die zwangsläufig am Anfang ihres Traums von der großen Karriere steht. Yubo Zhou stellt sich dem offensichtlich nicht nur am Flügel bestens vorbereitet, sondern auch menschlich sympathisch. Unpretenziös ist sie, gut gelaunt trotz der Zumutungen und Strapazen, eine Pianistin zum Anfassen. Sie erzählt noch von ihrem Werdegang und wie ihr Vater vor Freude weinte, als er sie nach langen Jahren des Studiums in Odessa und Freiburg zum ersten Mal wieder spielen hörte. Sie gab erst vor einigen Monaten die ersten Konzerte in China. Es werden sicher nicht ihre letzten Konzerte gewesen sein. Sie wird ziemlich sicher eine der Großen werden, die man dann so wie hier nicht mehr wird erleben können.

Samstag, 15. September 2007

Netrebko und Vargas auf dem Stuttgarter Schlossplatz


Opern-Open Air mit Hindernissen

Am 31. August herrschte Ausnahmezustand auf dem Stuttgarter Schlossplatz: Anna Netrebko, derzeit führende Operndiva vom Mariinski-Theater St. Petersburg, und der mexikanische Tenor Ramón Vargas sangen in Begleitung des Orchesters der Deutschen Oper Berlin (Dirigent: Marco Armillato) ein Open-Air-Konzert.
Tourneeveranstalter Michael Van Almsick hatte dazu den ganzen Platz mit Sichtblenden versehen lassen und strenge Kontrollen aufgebaut. Auch die Presse musste sich einem Reglement unterwerfen, das man in dieser Form nur von Rock- und Popkonzerten kennt: Fotografen mussten bis zum Ende der Vorstellung warten und durften dann während der Zugaben unter Aufsicht für eine Minute zum Blitzlichtgewitter an die Bühnenrampe. Das Fernsehen hatte gleich auf eigene Drehs verzichtet. Hörfunkberichterstatter mussten ihre Aufnahmegeräte abgeben und bekamen sie erst für die Zugaben zurück. Statt 90 Sekunden Klassik vom Mischpult abzugreifen, wie es mir angeboten wurde, hielt ich das Mikrophon dann in Richtung Bühne und hatte in 70 Sekunden eine relativ schöne Sequenz aus einem La-Traviata-Duett inklusive Schlussapplaus - bitte sehr. Wer die Arien nicht kennt, verpasst solche Möglichkeiten zwangsläufig.
Diese Behinderungen der Arbeit von Journalisten verdienen nur eine Bezeichnung: Zensur. Ursache dafür ist die hysterische Panik von Veranstaltern, die sinkende CD-Verkaufszahlen nur so bekämpfen zu können glauben. Schwarze Mitschnitte im Internet sind Mode geworden. Aber wer die Presse behindert, bekommt eben auch zu Recht schlechte Schlagzeilen. Dabei hätte es gute wie schlechte nebeneinander gegeben. Es war halt ein Hindernislauf, wie er im Konzertsaal kaum möglich ist.
Anders, als tags darauf die Tageszeitungen schrieben, sang die Netrebko wunderbar und war auch Ramón Vergas keiner, "der seite besten Tage schon gesehen hat". Vor allem in einem überraschenden Duett aus Donizetti´s "Liebestrank" am Anfang oder in dem Abschiedsduett "O soave faniculla" aus Puccini´s "La Bohéme liefen beide zu Hochform auf. Allerdings waren pro Nase gerade mal vier Arien und dann noch zwei Duette ein recht mageres Programm für ein Konzert, bei dem die billigste Karte 130 € kostete. Rechnet man die schwache Beschallung der ersten Halbzeit hinzu und einige knallende Rückkopplungen, die Anna Netrebko das hohe C bei der berühmten und traumhaft gesungenen Arie "Casta diva" aus Bellini´s "Norma" verdarben, waren die 6000 begeisterten Zuhörer am Ende doch ziemlich mies abgespeist. Unfreiwillige Heiterkeit kam auf, als nach der Pause während der Ouvertüre zu Verdi´s "Nabucco" deutlich zu hören war, wie sich Anna Netrebko im Garderobenzelt heben der Bühne einsang. Eine Gruppe von 200-300 Jugendlichen, die es sich auf der Wiese hinter den Absperrungen bequem gemacht hatten, amüsierte sich königlich - und ganz umsonst. Wahrscheinlich hatten sie füpr diesen Abend die beste Entscheidung getroffen.
Im Vergleich zu einem Opernabend oder einem Konzert im Festspielhaus Baden-Baden, Salzburg oder sonstwo war das Ganze technisch eine Katastrophe und preislich fragwürdig. Der Oper hat´s nicht geschadet. Derzeit nütze alles, was die Netrebko tut, der Liebe der Massen zu dieser Musik. Hoffentlich bleibt es so. Und hoffentlich sagt ihr mal jemand, dass es nicht zu ihr, zu ihrer Rolle und ihrem Niveau passt, wenn sie wegen der grölenden Zustimmung von Banausen Franz Lehars "Meine Lippen, die küssen so heiß" als Zugabe singt - in unverständlichem Deutsch und mit aufgesetzten Posen, die ihr wahrscheinlich mehr schaden als die erwähnte grölende Begeisterung Nutzen bringt.

Mittwoch, 29. August 2007

Bergwanderung mit Gustav Mahler

Zubin Mehta und das Israel Philharmonic Orchestra in Stuttgart

Ein indischer Jude, der Gustav Mahler liebt, und das Israel Philharmonic Orchestra aus Tel Aviv in der Stuttgarter Liederhalle: Das gibt es kaum je zusammen, eben nur nur beim Europäischen Musikfest der Internationalen Bachakademie, das am 26. August 2007 mit Mahlers 7. Sinfonie eröffnet wurde. Ein Dirigent, den man einmal erlebt haben sollte, und ein Orchester, das man auch einmal mit Beethoven oder Mozart hören möchte, das war schon etwas Besonderes.

Mahlers 7. Sinfonie, bekanntlich erst nach langen gedankenverlorenen Spaziergängen in den Dolomiten gedanklich gereift, ist keine leichte Kost. Diese Musik hat schon die von manchen Klassik-Freunden gefürchtete Zwiebelschalen-Melodik oder "Schichtenpolyphonie" eines Komponisten an sich, der nicht nur das Gefällige sucht und wie der späte Verdi oder Wagner schon an der Grenze zur Auflösung der herkömmlichen Harmonie gearbeitet hat. Doch wer sich auf Musik, Orchester und Dirigent einließ, konnte auch einfach genießen: so viel Schönheit, so viel Ironie, so viel kreativer Witz ballt sich in dieser Sinfonie. Das Publikum jedenfalls war begeistert, auch von Mehtas Art zu dirigieren, und dem sensiblen Orchester. Kritiker meinten teilweise fehlende Präzision bemängeln zu müssen; für mich war das unterhalb der doch halbwegs geschulten Hörschwelle.
Eine Anekdote am Rande: Helmuth Rilling erzählte bei seiner Begrüßung des Orchesters von seinem ersten gemeinsamen Auftritt in Tel Aviv vor 30 Jahren. Damals war das Gastspiel des Stuttgarters mit der Gächinger Kantorei eine heikle diplomatische Mission. Rilling ließ den Chor zu Beginn des Konzerts, bei dem wegen der Anwesenheit der Ministerpräsidentin Golda Meir die Nationalhymne Israels gespielt wurde, die Hymne in hebräischer Sprache singen. Das, so Rilling noch heute sichtlich bewegt, sei einer der unvergesslichen Höhepunkte seiner musikalischen Laufbahn gewesen - der Durchbruch zu einer über 30jährigen Freundschaft. Einige der Musiker aus dem Israel Philharmonic Orchestra von damals waren noch dabei und reagierten erkennbar gerührt.

Freitag, 17. August 2007

Arbeit ist das halbe Leben


Und der Arbeitsplatz ist Lebensqualität

Seit Baden-Baden ist der größte Teil meines Lebens wieder am Schreibtisch passiert. Schon irgendwie unglaublich, was mit so einem kleinen Laptop so alles möglich ist: Recherchen, Texten, Musik hören, Originaltöne bearbeiten, manchmal sogar ganze Beiträge produzieren. Das digitale Aufnahmegerät dafür ist inzwischen nicht mehr größer als eine Zigarettenschachtel - nur um einiges teurer. Dazu noch ein ordentliches Mikrophon, und fertig ist das Heimstudio.

Auch das Zeitschriften-Machen wird erheblich einfacher mit einem vernünftigen Rechner. Ideen, sorgfältige Recherchen und Formulieren kann mir keine Technik ersparen - das soll sie auch nicht, denn das ist vielleicht der lustvollste Teil meiner Arbeit als Autor. Aber die Brötchen, die ich als Redakteur verdiene, also mit dem Organisieren und Umsetzen, d.h. Bearbeiten und Korrigieren von anderer Leute kreativer Tätigkeit, sind der Schweiß meines Angesichts, von dem schon die Bibel spricht. Und der ist rationalisierbar mit so einer Maschine.
Allein das Austauschen von Korrekturen bei einem an sich fertigen Zeitschriften-Layout, früher eine sehr zeitaufwendige Sache, vereinfacht sich durch den Rechner erheblich: E-Mail, PDF-Dateien, eine riesige Festplatte, die unermessliche Archivordner speichert, und andere kleine Maschinenkünste beschleunigen Abläufe, die noch Wochen dauerten, als ich das Redakteurshandwerk lernte, auf wenige Stunden. Postwege fallen aus, Wartezeiten am Telefon oder Faxgerät ebenfalls: prima.
Ich habe wieder mal eine Zeitschrift gemacht. Nichts Aufregendes also war los in den letzten Wochen, aber mein Arbeitsplatz ist jetzt im schönsten Zimmer des Hauses (abgesehen vom Wohnzimmer im Erdgeschoss). Das finden auch meine Katzen. Nur gut, dass es auch einen Lese-Sessel gibt. Sonst hätte ich manchmal Mühe, meinen Platz am Schreibtisch zu verteidigen.

Freitag, 3. August 2007

Eine Rose von Anna Netrebko


Weltstars der Oper in Baden-Baden


Am 31. Juli waren wir in Baden-Baden zu einer Gala im Festspielhaus mit Anna Netrebko, Elina Garanca, Ramón Vargas und Ludovic Tézier. Schade, dass Annas Bühnen- Traumpartner Rolando Villazón krankheitshalber absagen musste. Aber auch so war das Konzert ein Highlight der ganz besonderen Art. Nicht, dass der Tenor Vargas (mit dem sie schon in München zusammen auftrat) als Partner der Netrebko schwach gewesen wäre - im Gegenteil. Nicht, dass der französische Bariton Tézier nicht ein brillanter Sänger wäre - im Gegenteil. Aber wenn die beiden Frauen sangen, lief uns ein Schauer nach dem anderen den Rücken hinunter. Vor allem in den Duetten "Mira, o Norma" aus Vincenzo Bellini´s "Norma", "Viens, Mallika" aus "Lakme" von Leo Delibés und "O suave faniculla" aus Giacomo Puccini´s "La Bohème" waren diese beiden Stimmwunder eine zum Heulen schöne Ergänzung von Gegensätzen, die reizender, vollkommener kaum vorstellbar sind. Netrebko, die südrussische dunkle Schönheit mit mediterranem (oder Schwarzmeer-) Temperament, und Garanca, die blonde, kühle Schöne aus Riga im nördlichen Baltikum schlangen ihre Koloraturen umeinander, flirteten miteinander, mit den männlichen Partnern auf der Bühne, mit dem Publikum auf einmalige, unnachahmliche Weise. Die beiden allein waren das horrende Eintrittsgeld wert - und wurden dementsprechend mit stehenden Ovationen gefeiert. Keine ist der anderen vergleichbar, aber beide nehmen sich nicht das Geringste und sind perfekte Musen - nicht nur der Bühne, sondern wohl auch des Schreibtischs.

Neben dem steht nämlich jetzt im Regal eine in Wachsgel eingegossene rote Rose, die ich von Anna Netrebko bekam. Sie erzählt eine wunderbare Geschichte meiner Opernliebe, und eines Tages werde ich wohl auch ein Gedicht darüber schreiben und in diesem Blog stellen. Als Zugabe sang die Netrebko ziemlich unpassend "Meine Lippen, die küssen so heiß" von Franz Lehar, und tanzte dazu schwungvoll über die Bühne. Dazu schleuderte sie erst einmal schmissig ihre 2000-EURO-Stöckelschuhe von Prada von den Füßen- und einer davon flog im hohen Bogen über den Bühnenrand: mir, wirklich mir, in der ersten Reihe sitzend, vor die Füße. Ich hob ihn auf und warf ihn auf die Bühne zurück.
Meine Freunde sagten hinterher: Den hätte ich nicht wieder hergegeben. Aber ich bin nicht der Typ, der sich in so einer Situation den Schuh schnappt, für 2500 Leute und eine Batterie von Fernsehkameras sichtbar damit wedelt und der Diva bedeutet: "Komm her, lös ihn aus, z.B. mit einem Kuss!" - Was denken die sich denn? Man kann auch überreizen. Ich will ja nicht auf diese Weise im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, und außerdem bin ich ein Gentleman. Trotzdem hätte sie den Schuh nicht so ohne weiteres hergegeben, sagte die beste aller Ehefrauen, wie bei Ephraim Kishon. Hätte ich aber nicht, dann hätte ich auch die Rose wohl kaum bekommen. Die hat zwar nicht so viel gekostet, gehört aber mir.
Als die Netrebko nämlich dann anfing, immer von heißen Lippen und Küssen singend, mit diesem zauberhaften russischen Akzent ein wenig die Worte weich knödelnd, an einzelne Herren in der ersten Reihe Rosen zu verschenken, kam sie zu mir. "Siehst Du", sagte meine beste Ehefrau von allen, "hätte ich nicht diese Plätze gekauft, dafür eine Stunde am Telefon gehangen wie eine Klette, nichts wäre dann damit gewesen!" Und ich antwortete: "Siehst Du, hätte ich nicht den Schuh zurückgegeben, hätte sie sich nicht an mich erinnert, und nichts wäre dann mit der Rose gewesen!" - "Und auch nicht mit diesem tiefen, tiefen Blick, den sie dir zuwarf. Du hast da gestanden wie ein glücklicher Gymnasiast."
Meinetwegen. Erstens erinnere ich mich an keinen speziellen Blick, denn ich war vollauf damit beschäftigt, meine Rose aufzufangen, von der Anna den Stiel abgebrochen hatte; und Rosen sind ja so empfindlich. Und zweitens: Lieber ein glücklicher Gymnasiast als ein grämlicher Rentner, der zu viel Geld hat, an allem herummäkelt und von nichts eine Ahnung hat. So einen haben wir nämlich auch getroffen. Ich werde auch nichts von dem Gedanken an Verschwendung sagen, an die ich beim Kauf dieser Konzertkarten für Plätze in der ersten Reihe einen Augenblick dachte. Meine Erben können Annas Rose mal für viel Geld verhökern.

Mittwoch, 18. Juli 2007

Ein Kolibri - Marica Bodrozic und ihre Lyrik 07

SWR2 Buchkritik 17.7.2007
Marica Bodrozic:
“Ein Kolibri kam unverwandelt“
© Widmar Puhl (4´30)

O-Ton 01 Bodrozic, Leseprobe 01 – 0´09
Mit der Stimme küssen, das muss ein Anruf sein.
Ein Parlograph des Herzens, ganz nah und ganz Vogel
zugleich.

Wenn die Berliner Autorin Marica Bodrozic über so etwas Alltägliches schreibt wie ein Telefongespräch, entsteht ein erotisches Gedicht mit philosophischen Fußnoten. Sie findet sinnliche Bilder für abstrakte, sogar technische Vorgänge, webt Leichtigkeit in Schwermut, hebt das banal Persönliche durch Rhythmus und Tonfall ins Liedhaft-Allgemeingültige. Der Lyrikband „Ein Kolibri kam unverwandelt“ ist schmal: Gerade mal 87 Seiten, aber die haben es in sich.

O-Ton 02 Bodrozic Leseprobe 02 – 0´30
Das vielfache Küssen verlängern, die Masten sich selbst
Überlassen.... Das holt die Stimme
alles wieder zurück. Die Traumnachbarschaft seiner Stirn!
Und mit ihr die Vorstellung: die Bilder des geliebten
Menschen ruhten sich jetzt in unserer Schlafhand aus,
kämen endlich nach Hause und frühstückten mit uns,
an unserem Tisch, an dem auch die Krumen
Liebe fürs Fliegen sind.

Die Autorin ist 1973 in Kroatien geboren und kam mit zehn Jahren nach Deutschland. Sie studierte in Frankfurt am Main – Slawistik, vergleichende Kulturwissenschaften, Psychoanalyse. Sie sucht die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft, aber sie will auch ganz im Hier und Jetzt ankommen, in der deutschen Sprache. Für ihren ersten Erzählband „Tito ist tot“ erhielt sie 2002 gleich mehrere Preise. 2005 erschien bei Suhrkamp auch ihr Roman „Der Spieler der inneren Stunde“. Dabei hat sie, wie so viele Autoren, mit Gedichten angefangen. Jetzt also deren Veröffentlichung, mit dem Erfolg der Prosa im Rücken:

O-Ton 03 Bodrozic – 0´13
Weil sie einfach ganz tief zu mir gehören und weil ich immer Gedichte schreibe. Weil im Grunde genommen meine Art, die Welt zu erleben, eigentlich ständig in Rhythmen zu denken ist. Und da bleibt es nicht aus, Gedichte zu schreiben.

Damit ging die mehrfach preisgekrönte Suhrkamp-Autorin zum Otto Müller Verlag in Salzburg. Dort hat man vielleicht mehr Sinn für ihre geistigen Wurzeln. Die verraten sich weniger im Migrantenschicksal und mehr durch Widmungsgedichte, etwa für die Mystiker Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz.

O-Ton 04 Bodrozic – 0´16
Diese beiden Menschen waren große Liebende, große Liebende des Wortes, große Menschen auch. Das muss einen Echoraum in jedem Menschen hinterlassen, der etwas mehr wissen will von der Welt. Und für mich ist Welt eben nie nur die äußere Welt.

„An die Seligmachung“ will sie schreiben. Liebe und Wissen sind ihre großen Themen, Freiheit, Einsamkeit, Erinnerung und Tod. Licht und Farben spielen eine große Rolle bei Marica Bodrozic, eigene Wortschöpfungen, erfrischend oft eine Portion Ironie. Ihre Bildmagie zeigt Nähe zu Else Lasker-Schüler, Rose Ausländer, Sarah Kirsch. Im Unterschied zu denen aber verbindet diese Autorin ihr Gefühl fast immer mit einem Element des Erzählens.

O-Ton 05 Bodrozic – 0´21
Ich kann nicht anders. Es treibt mich dazu, und es gibt so eine metaphysische Erfahrung: Dass das Geschichtenerzählen und das Gedicht, also der Gesang, ganz tief zueinander gehören, und dass das der Ursprung aller irdischen Sprache ist. Und deswegen gehört das Erzählen für mich auch immer in die Gedichte hinein.

Ihre Kronzeugen sind die Ilias von Homer, das Rolandslied, das Nibelungenlied, Hölderlin, der Große Gesang eines Pablo Neruda: Große Dichtung, Kollektivbesitz, Weltkulturerbe, undenkbar ohne den hohen Ton, den Stefan George und Durs Grünbein so in Verruf gebracht haben. In guten Gedichten aber rechtfertigen Inhalte diesen Ton und nehmen oft eine unerwartete Wendung.

O-Ton 06 Bodrozic Lesung 03 – 0´34
…Jeder Zeh ein Kitzelgebiet
aus der Zeit vor der Zeit, bevor der Eiszeitmensch
sich in seine Zukunft als Somali, Kroate, Ägypter und
Astronaut aufmachte. Andernorts hinter den Milchstraßen,
Korrespondenzen. Und all dieser Verkehr von Wörtern
und Hufen und Stillehöfen und Liebesfäden. All dieses
eine Wir, an dem jeder ausgesprochene, jeder ausgedachte
Buchstabe mitwebt. Engel, Mensch, Tier, verwaist
in der Einöde der Zeit.

Marica Bodrozic:
“Ein Kolibri kam unverwandelt“, Gedichte. Otto Müller Verlag, Salzburg, 87 Seiten, 17 €.